transmortale VII – Neue Forschungen zum Tod - H-Soz-Kult

transmortale VII – Neue Forschungen zum Tod
transmortale VII – Neue Forschungen zum
Tod
Veranstalter: Norbert Fischer / Anna-Maria
Goetz / Susanne Möllers, Historisches Seminar, Universität Hamburg; Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal (AFD); Reiner
Sörries / Dagmar Kuhle, Stiftung Zentralinstitut und Museum für Sepulkralkultur, Kassel; Moritz Buchner / Stephan Hadraschek
Datum, Ort: 27.02.2016, Kassel
Bericht von: Stephan Hadraschek, Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal e. V.
(AFD), Berlin
Die Themen Sterben, Tod und Trauer rücken
immer mehr in den Fokus der fächerübergreifenden Forschung. Inzwischen interessieren sich Disziplinen wie die Soziologie, Psychologie sowie Geschichte, Volkskunde und
Medienwissenschaften für den Wandel der
Trauer- und Bestattungskultur. Ziel der transmortale ist es, aus unterschiedlichen Disziplinen und Ansätzen neue Forschungsperspektiven vorzustellen und in einer größeren Fachrunde zu diskutieren – so können
aktuelle Fragen und Ergebnisse interdisziplinär diskutiert und inhaltliche Gemeinsamkeiten transdisziplinär zusammengeführt werden. Die „Transmortale“-Tagung findet jährlich statt und bietet über den Workshop hinaus eine Plattform für das Forschungsfeld
Sterben, Tod und Trauer.
Nach Begrüßung und Einführung begann
der Historiker BENJAMIN VAN DER LINDE (Innsbruck) mit seinem Vortrag über
„Die Inszenierung des Leichnams. Kulturelle Konstruktionen von toten Körpern in der
frühen Neuzeit im deutsch-niederländischen
Vergleich (circa 1600–1800)“. Der Tod eines
menschlichen Individuums beendete zu damaliger Zeit keineswegs seine physische Existenz. Sofern keine Verfügungen für die Zeit
nach dem Tod verfasst worden waren, stand
der Umgang mit dem Körper in der Verantwortung der Hinterbliebenen. Dies konnten sowohl Verwandte als auch andere Personen, wie beispielsweise Ärzte und Amtspersonen sein. Zwischen Tod und Beisetzung
gab es eine Zeit, in der der tote Körper sich
in der Verantwortlichkeit dieser Hinterbliebenen befand. Van der Lindes Forschungspro-
jekt knüpft an diesen Punkt an und untersucht, wie Leichname in der frühen Neuzeit
in Szene gesetzt wurden. Ziel des Projekts ist
eine Verortung des Leichnams in der frühneuzeitlichen Gesellschaft und die Klärung der
Rolle von Körperlichkeit von Toten. Van der
Linde stellt dabei die These auf, dass sich gerade in der Betrachtung des Leichnams und
dem Umgang mit dem toten Körper gesellschaftliche Prozesse, Vorstellungen und Annahmen widerspiegeln. Das Projekt analysiert
drei thematische Komplexe: (1) Die frühneuzeitlichen Anatomien sowie die Kuriositätenkabinette; (2) Inszenierungen im Rechtswesen (Strafgerichtsbarkeit) sowie die sich daran
anschließenden Körperteilverwendungen; (3)
Der Leichnam in der „Volkskultur“ und der
Frage nach der Inszenierung bei Aufbahrungen und Bestattungen. In thematischer Hinsicht wird ein Vergleich der Niederlande mit
Fällen aus dem Heiligen Römischen Reich angestrebt. Gerade diese beiden Regionen erscheinen in Bezug auf ihre konfessionellen,
gesellschaftlichen und politischen Strukturen
besonders divergierend gewesen zu sein.
Der zweite Vortrag schloss mit der Kulturwissenschaftlerin WIEBKE NEUSER (Paderborn) an: „Die Einführung der Feuerbestattung in Preußen und der Hagener Krematoriumsbau von Peter Behrens von 1907“. Der
Vortrag beschäftigte sich mit den Entwicklungen bezüglich der Kremation in Preußen während der zweiten Hälfte des 19. und dem frühen 20. Jahrhundert. Dabei lag der Fokus auf
der Stadt Hagen, in der das erste preußische
Krematorium 1907 gebaut wurde. Gestützt
wird die Forschung durch eine große Anzahl
verschiedener Quellen unter anderem aus
dem Stadtarchiv Hagen, dem Landesarchiv
NRW Abteilung Westfalen und dem Geheimen Staatsarchiv Preußischen Kulturbesitzes.
Die kontroverse Debatte um die Kremation
wurde durch Diskutanten des Bildungsbürgertums, durch (Natur-)Wissenschaftler und
kirchliche Akteure geprägt. Besonders die beiden Kirchen positionierten sich gegen die
Idee, Verstorbene zu verbrennen. Die Argumente für die Feuerbestattung kamen dabei aus der Wissenschaft (Hygiene) und der
Ökonomie. Vorbehalte hatten die konservativ geprägte preußische Regierung und deren kirchlich-religiöse Abgeordnete. Die Akti-
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vitäten des Hagener Feuerbestattungsvereins
(Bau des Krematoriums) führten dazu, dass
das Thema auch im preußischen Landtag in
der Diskussion blieb. Dies führte letztlich zu
einem Gesetz zur Feuerbestattung und ihrer Erlaubnis im Jahre 1911. Der Architekt
des Krematoriums war kein unbekannter: Peter Behrens, ein deutscher Architekt, Maler,
Designer und Typograf, führender Vertreter
des modernen Industriedesigns, wurde von
Karl Ernst Osthaus, einem Hagener Kunstmäzen, engagiert. Behrens Entwürfe unterscheiden sich stark von den ursprünglichen Plänen des Baumeisters F. Sanders, der gleichzeitig Mitglied des Hagener Feuerbestattungsvereins war. Neuser stellte die beiden Entwürfe für das Krematorium vor: Während Sanders ein historistisches Gebäude im Stil der
Zeit entwarf, griff Behrens für seine Überlegungen auf geometrische Strukturen zurück.
Die Quellen zeigten, so Neuser, dass Hagen,
der dortige Feuerbestattungsverein und das
Hagener Krematorium einen großen Einfluss
auf die politische Diskussion zur Feuerbestattung ausübten und letztendlich auch für deren Einführung in Preußen im Rahmen eines
Feuerbestattungsgesetzes von hoher Bedeutung waren.
Vor der Mittagspause referierte die Sinologin GRETE SCHÖNEBECK (Frankfurt am
Main) über das Thema: „Wie soll man sie
begraben? Elemente der Bestattungskultur in
China im Wandel“. Der Vortrag stellte die ersten Ergebnisse der Feldstudien vor, die Schönebeck im Rahmen eines DAAD Jahresstipendiums 2014/2015 in China durchgeführt
hat. Ausgangspunkt ihrer Untersuchung war
die Frage, wie und ob die chinesischen Bestattungsreformen in den einzelnen Regionen
umgesetzt werden und welche Folgen dies
hat. Insbesondere geht es dabei um die seit
den 1990er-Jahren durchgesetzten Neuerungen des Kremationszwanges und der Einrichtung von öffentlichen Friedhöfen. Folgende
Fragestellungen ergaben sich für die Untersuchung: Was für Regeln und Rahmenbedingungen gibt es in verschiedenen Provinzen
auf dem Land und in Großstädten? Und wie
sieht die Realität aus? Inwiefern werden die
Regelungen umgesetzt? Das gefundene Material ist sehr disparat, so Schönebeck. Bestattungspraxen unterscheiden sich regional,
sie sind abhängig von Religion und sozialem Hintergrund der Verstorbenen und deren
Hinterbliebenen. Außerdem schafft die unterschiedliche Handhabung der nationalen Leitlinien zur Bestattungsreform in der lokalen
Politik und Gesetzgebung eine eher pluralistische Bestattungskultur im heutigen China. Zudem mischen sich Elemente europäischer Tradition mit den traditionell chinesischen Formen.
Block II wurde mit dem Vortrag der Historikerin EVA MARIE LEHNER (Duisburg /
Essen) über „Den Tod verzeichnen: Trauer
und Hoffnung in frühneuzeitlichen Kirchenbüchern“ fortgesetzt. Kirchenbücher sind eine
administrative Innovation der Frühen Neuzeit, denn im Kontext von Reformation und
Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert haben kirchliche und weltliche Obrigkeiten das
Verzeichnen von Taufen, Eheschließungen
und Bestattungen für ihre Kirchengemeinden durchgesetzt. In diesen Büchern sollte nahezu jede Person über ihre biographischen Daten (Taufe, Ehe, Tod) schriftlich dokumentierbar und verwaltbar gemacht werden. Lehner betonte, dass dem Verzeichnen
von Personen und kirchlichen Akten dabei
auch eine wichtige Funktion bei der Seelsorge, der spirituellen und emotionalen Aufsicht über die Kirchengemeinden vor Ort zukam. In Ihrem Dissertationsprojekt beschäftigte sich Lehner bislang vor allem mit verwaltungsgeschichtlichen Funktionen der Kirchenbücher und möchte nun auch emotionsgeschichtliche Fragen an die Quellen stellen.
Dabei geht es Lehner vor allem darum herauszufinden, wie Gefühle in den Registern
narrativiert und produktiv gemacht wurden.
Wie wurden Emotionen in Bezug auf Tod und
Sterben in den Kirchenbüchern verzeichnet?
Wie wurden Trauer und Hoffnung in den Einträgen fixiert und damit überzeitlich festgehalten? In Zeiten von Pest und Krieg nahm
die Mortalitätsrate stark zu. Diese Extreme
von Sterben und Tod beeinflussten auch die
Verzeichnispraxis, indem beispielsweise die
Einträge zu unübersichtlichen Nummernlisten wurden. Einträge zu hingerichteten Personen stellen eine weitere Besonderheit dar.
Dabei wurde meist nicht die Straftat, sondern
die Hinrichtungsart verzeichnet, womit der
Text nicht auf die Sünde, sondern die Sühne
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(und damit auf eine potentielle Vergebung, so
Lehner) bezogen wird. Eine weitere Herausforderung für die Kirchenschreiber war das
Dokumentieren von ungetauften und totgeborenen Kindern, deren Seelenheil ungewiss
blieb. Lehner verwies auf die wichtige Aufgabe beim Verzeichnen dieser Tode und deren Verschriftlichung und der damit überzeitlichen Fixierung von Trauer und Hoffnung.
Dabei wurde die Sorge um die Seelen in einem offiziellen Dokument verzeichnet. Diese Möglichkeit, Trauer und Erinnerung permanent zu fixieren, hatte vermutlich auch
Rückwirkung auf die Formung von religiösen
Emotionen in Bezug auf Tod und Erinnerung
und darüber auf die Herausbildung religiöser
Identitäten.
Die Literaturwissenschaftlerin ANASTASIIA AFANASEVA (Moskau / Freiburg)
sprach in ihrem Vortrag über „Erzähl- und
Zeitstrukturen in den französischen und
deutschen literarischen Trauernarrativen der
2010er“. Textkorpus für den Vortrag: Alexa
Hennig von Lange Woher ich komme (2010),
Michel Rostain Le fils (2011), Sylvia Baron Supervielle Lettres à des photographies (2013)1 .
Alle diese autofiktionalen Texte thematisieren das Leben und den Tod einer dem Erzähler nahestehenden Person und seine Trauer. Afanaseva fragte in ihren Ausführungen,
ob diese Texte nicht nur über eine thematische, sondern auch über eine strukturelle Einheit verfügen? Um diese Frage zu beantworten, hat Afanaseva eine Analyse ihrer Erzähl- und Zeitstrukturen durchgeführt,
die sich unter anderem auf ein von Achim
Aurnhammer und Thorsten Fitzon zur Erforschung lyrischer Trauernarrative ausgearbeitetes narratologisches Modell stützt. Sie differenzieren beim Figurentext (Wolf Schmid)
zwischen Hinterbliebenen-, Toten- und Partnertext, um ihre Überlagerung sowie die Aktualisierung und Distanzierung der Verlustemotionen im Text nachvollziehen zu können.
Alle Texte sind als Ich-Erzählung verfasst. In
fast allen Fällen ist der autodiegetische Narrator ein Hinterbliebener, und der Adressat
des Textes die oder der Gestorbene, so Afanaseva. Michel Rostain führt eine Inversion
dieses Modells durch, das sich allerdings bei
genauerer Analyse als scheinbar erweist und
eine komplexe Interferenz der Erzähler- und
Totentexte darstellt. Die Werke ermöglichen,
u.a. mithilfe der Prosopopöie und der Textinterferenz, einen Dialog mit den Gestorbenen und die Selbstidentifikation der Erzähler(innen) mit ihnen. Die Darstellung der Zeit
vor und nach dem Tod unterscheidet sich wesentlich. Im Unterschied zur Autobiographie
ist die Zeitschicht des Präsens hier sehr wichtig, denn sie umfasst gleichzeitig die erzählte und die Erzählzeit der Trauer, die simultane Narration wird aktiv benutzt. Die Zeit
nach dem Tod wird entweder als stillstehend
und starr dargestellt (Sylvia Baron Supervielle2 ), oder es kommt zu einer Überlappung der
Zeitebenen (Alexa Hennig von Lange, teilweise Michel Rostain), was wiederum der Aktualisierung des Verlustes dient. Das alles ermöglicht die Vergegenwärtigung der Traueremotionen und der Erinnerung, die als Treue der
oder dem Verstorbenen gegenüber zu verstehen sind.
Den Block II schloss der Soziologe EKKEHARD KNOPKE (Weimar) mit seinem Vortrag „Trauerfeier ist gleich Atmosphäre - ohne das geht es nicht. Ästhetische Praktiken
und die professionelle Herstellung eines Ambientes auf Trauerfeiern“ ab. In Werbeanzeigen und Selbstbeschreibungen betonen Bestatter und Trauerredner oftmals die „ruhige“, „friedliche“ und „angemessene“ Atmosphäre der von ihnen organisierten Trauerfeiern, so Knopke. Doch wie gewährleisten sie
und weitere professionelle Akteure die „Angemessenheit“ einer Sache, die zwar allgegenwärtig scheint, aber dennoch „etwas durchaus Vages ist, etwas Unbestimmtes, etwas
Unfassliches“?3 fragt Knopke. Ihn interessiert
1 Die
Forschungsergebnisse gelten bedingt ebenso für
einen weiteren Textkorpus, nämlich Laure Adler A
ce soir (2002), Michel Deguy À ce qui n’en finit pas:
thrène (1995), Annie Ernaux L’autre fille (2011), Philippe Forest L‘enfant étérnel (1997) und Toute la nuit
(1998), Eric Fottorino L’homme qui m’aimait tout bas
(2010), Jerôme Garcin Olivier (2011), Mikhail Kononov
Ïîõîðîíû êóçíå÷èêà [Die Beerdigung einer Heuschrecke] (2000), Camille Laurens Philippe (1995), Inna
Lisnianskaya Áåç òåáÿ [Ohne dich] (2003) und teilweise für Angelika Overath Nahe Tage (2005).
2 Aber auch, beispielsweise, in Michel Deguy À ce qui
n’en finit pas: thrène oder Philippe Forest Toute la nuit.
3 Gernot Böhme, »Die Kunst des Bühnenbildes als Paradigma einer Ästhetik der Atmosphären«, in: ders.,
Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, 7., erweiterte und überarbeitete Auflage, Berlin 2013, S. 101–111;
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dabei, wie die professionellen Akteure spezifische Atmosphären im Rahmen einer Trauerfeier produzieren. Aufbauend auf seiner
Masterarbeit „Fühlbarer Abschied. Zur Produktion von Atmosphären auf Trauerfeiern
aus praxistheoretischer Perspektive“ möchte Knopke diese Frage aus dem Blickwinkel
einer Theorie sozialer Praktiken heraus beantworten, um somit die Rolle der Artefakte, der körperlich-routinierten Vollzüge und
des impliziten Wissens der Akteure hervorheben zu können. Basierend auf der Grounded Theory hat Knopke im Raum von Erfurt bis zum Altenburger Land zwölf Trauerfeiern sowohl teilnehmend als auch nichtteilnehmend beobachtet, Experteninterviews
mit je drei Bestattern, Trauerrednern, Friedhofsmitarbeitern und Pfarrern geführt sowie in einem Ausbildungsseminar der TheoRemmertz-Akademie in Münnerstadt hospitiert. Anhand des empirischen Materials verdeutlichte Knopke in seinem Vortrag, wie
die beteiligten professionellen Akteure routinemäßig jene materiellen Komponenten und
körperlichen Tätigkeiten einer Trauerfeier arrangieren, welche das atmosphärenkonstituierende „Affektif“4 bilden. Diese Praktiken
zielen somit nicht primär auf die Entlastung
der Trauergemeinschaft, eine Sinngebung des
Todes oder den Abschied vom Verstorbenen,
sondern eher auf die sinnlich-ästhetische Erfahrung der Situation. Es sind zugleich „Techniken des Sozialen“5 , die letztendlich nicht
zur Freisetzung beliebiger Affektivitäten dienen, sondern deren Kontingenz reduzieren.
Die Atmosphäre einer Trauerfeier erscheint
somit im Wesentlichen beeinflusst von der Arbeitsteilung und dem Habitus der professionellen Akteure und deren Präferenzen.
Die Kulturwissenschaftlerin SANDRA
BRAUN (Lübeck) sprach zu Beginn des
letzten Tagungsabschnitts über „Trauer
und Trauma der Weltkriegssoldaten: Mediale Fremd- und Selbstbetrachtungen
historischer Krisensituationen, Kriegs- und
Gewalterfahrungen“. Zur Verankerung von
Heldenbildern im kollektiven Gedächtnis
einer Gesellschaft müssen heroische Figuren,
Formen und Konstruktionen eine Projektionsfläche und ein Identifikationsangebot
bzw. Identifikationssetzungen für breite Bevölkerungsschichten liefern, so Braun. Ihren
gestalterischen Ausdruck finden sie in Form
von Monumenten, in der Historienmalerei, in
der Historiographie, in literarischen Texten,
im historischen Roman wie in der Lyrik. Die
verschiedenen Konzepte des „Kriegsheroismus“ selbst als politische Modelle regulieren
den spezifischen Umgang mit verwundeten oder getöteten Soldaten, patriotischen
Handlungen, Kriegsgeschehen, Kriegs- und
Feindmustern, die in unterschiedlichen
Perspektiven und durch Imaginationsakte
visuell und rhetorisch dargestellt und inszeniert werden. Die Figur des Heroischen,
das Kriegs- und Soldatendenkmal sowie die
Kriegsgräberstätte, gewinnt Glaubwürdigkeit
und Überzeugungskraft durch spezifische
Visualisierungsstrategien, die zwischen der
Medialität und Materialität des Dargestellten
sowie dem idealistischem Anspruch und
ideologischer Überhöhung die öffentliche
Kriegswahrnehmung steuern und lenken
– und somit „heroisches Handeln“ oder
„die Heldentat“ als unmittelbare Option der
soldatischen Selbstkonstitution präsentieren.
Berücksichtigt werden müssen das politische
Wirksamwerden von Emotionen, öffentliche
Gefühlslagen sowie spezifische öffentliche
Emotionen in Anlehnung an die Webersche Konzeption, nach der Emotionen eine
legitime Stellung innerhalb des modernen
politischen Gemeinwesens einnehmen und
bewusst zur politischen Lenkung selektiert
und instrumentalisiert werden (ikonische
Politik).6 Im Zentrum ihres Beitrages beschrieb Braun die Kriegserinnerungen und
die Erinnerungsfiguren der Zeit der Weimarer Republik in der Stadt Lübeck unter
Schwerpunktsetzung auf den bildlichen
Visualisierungen und den Visualisierungsstrategien (Politikstile) zur Inszenierung des
Soldatentodes und seiner ästhetischen wie
heroischen Präsenz. Braun zeigte damit auf,
in welcher Weise der Erste Weltkrieg und die
im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten zum
hier: S. 102.
Robert Seyfert, »Atmosphären – Transmissionen
– Interaktionen: Zu einer Theorie sozialer Affekte«, in:
Soziale Systeme 17, S. 73–96.
5 Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum
Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012,
S. 25.
6 Bettina Plett, Problematische Naturen? : Held und Heroismus im realistischen Erzählen. München 2002.
4 Vgl.
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Gegenstand medialer Konstruktionen und
Repräsentationen von Kriegserinnerungen
wurden, welche formalen Ausgestaltungen
gewählt wurden, wer Träger, Konzeptor
und Initiator dieser Stiftungen war und
welche Rolle sie innerhalb der öffentlichen
Kommemorationspraktiken sowie der Offiziersgeschichtsschreibung spielten. Daneben
erörterte Braun die zeitgenössische bürgerliche Kriegs- und Kriegerliteratur, die in die
Diskussionen mit einbezogen werden soll:
Durch poetische und pathetische Verse der
Kriegslyrik an den einzelnen Denkmälern
wurde das Soldatentum gefeiert oder glorifiziert und ein selbst-reflexives Moment
innerhalb der Konzeption für den Bildbetrachter integriert, so dass schließlich ein
direkter und unmittelbarer Zusammenhang
zwischen Affekt und Erlebnisauthentizität
geschaffen wurde.
Anschließend referierte die Soziologin und
Politologin MIRIAM SITTER (Hildesheim)
„Zum Wunsch des ‚Normalseins‘ von trauernden Kindern“. Das Thema „Trauer und
Kind“ erhält seit einigen Jahren mehr öffentliche Aufmerksamkeit. Evangelische und katholische Kirchengemeinden, ambulante Hospizdienste sowie Trauerzentren etc. bieten
vielfältige Unterstützungsangebote etwa in
Form von Gruppen- und Einzelberatungen
oder offenen, kreativen Gesprächsrunden an,
um Kinder in ihrer Verlust- und Trauererfahrung zu begleiten. Es wird hierbei als bedeutsam betrachtet, trauernden Kindern einen Raum zu geben, um über den Tod ihrer
nahestehenden Bezugsperson(en) und die damit verbundenen Gefühle, Ängste und Sorgen sprechen zu können. In diesem Rahmen gilt es als selbstverständlich, Kindern
nicht nur altersentsprechende Ausdrucksformen ihrer Trauer zu ermöglichen, sondern ihnen auch die Gelegenheit für „trauerfreie Zonen“7 zu bieten, damit sie ihre Gedanken und
Gefühle kindgerecht ordnen können. Doch
bis zu welchem Grad kann und sollte es als
selbstverständlich gelten, wenn Kinder diese trauerfreie Zone für sich gänzlich in Anspruch nehmen wollen und den Wunsch äußern, nicht zu trauern, sondern ‚wieder normal zu sein‘? An dieser Fragestellung setzte der Vortrag von Sitter an: Einerseits griff
sie auf Erfahrungsberichte in der Praxis der
Trauerbegleitung und andererseits auf theoretische Konzepte eines Habilitationsprojektes zurück. Dabei stellte sich heraus, dass
der Wunsch nach Normalität von trauernden Kindern unter anderem einen Schutzfaktor darstellen kann, den es im Rahmen der
Trauerbegleitung entsprechend ernst zu nehmen gilt. Somit zeigt sich laut Sitter, dass die
Erwachsenen-Perspektive innerhalb der Trauerbegleitung stärker hinterfragt und beleuchtet werden muss: Denn es sind die erwachsenen BegleiterInnen, die eine Vorstellung vom
„normalen kindlichen Trauerverlauf“ formulieren und Entscheidungen darüber äußern,
ab wann ein Kind zu viel trauerfreie Zonen
nutzt und insofern Trauerverdrängung betreibt.
Den Schlussvortrag von Block III gab dann
die Sozialpädagogin SUSANNE LOKE (Bochum) zum Thema „Unentdeckte Tode – Forschungsstand und –perspektiven“. Als „unentdeckt Verstorbene“ bezeichnete Loke in ihrem Vortrag Menschen die Wochen, Monate, in seltenen Fällen auch erst Jahre nach ihrem Tod „entdeckt“ werden. Wie viele Menschen einsam versterben, ist statistisch nicht
feststellbar. In der Wahrnehmung von Personengruppen, die von Berufs wegen mit diesen Todesfällen konfrontiert sind [U+2500]
wie Bestatter, Geistliche, Polizei – und Ordnungsbeamte [U+2500] handelt es sich um
ein Phänomen mit wachsender Bedeutung.
Diese unentdeckten bzw. einsamen Tode sind
ein bisher im öffentlichen wie auch politischen Diskurs, in der Forschung und in der
Sozialen Arbeit vernachlässigtes Thema. Die
Relevanz für die Soziale Arbeit scheint zunächst erklärungsbedürftig, geht es doch um
Verstorbene, um Menschen, die keine Hilfe mehr erreichen kann. Ausgehend von der
Hypothese, dass einsam Verstorbene mehrheitlich sozial Exkludierte sind, deren physischem Tod ein sozialer Tod, ein allmähliches
„Herausgestorben-Werden“ aus den gesellschaftlichen Bezügen vorweg geht, wird der
Handlungsbedarf für alle gesellschaftlichen
Akteure, auch für die Fachkräfte der Sozialen
Arbeit, deutlich. Loke betrachtet in ihrer Forschung die Thematik einsamer Tode aus der
spezifischen Perspektive des Sozialraums. Es
7 Margit
Franz, Tabuthema Trauerarbeit. Kinder begleiten bei Abschied, Verlust und Tod. München 2013.
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ging darum [U+2500] theoretisch und empirisch [U+2500] zu überprüfen, ob im Fall
einsam verstorbener Menschen der Prozess
der sozialen Exklusion mit den jeweiligen
räumlichen und sozialen Bedingungen im Zusammenhang steht. Die Untersuchung belegte dies und zeigte darüber hinaus, dass sich
die inklusions- bzw. exklusionsförderlichen
Wirkungen von Sozialräumen identifizieren
lassen, wenn das Wechselwirkungsgefüge gesellschaftlicher (struktureller), sozialer, räumlicher und individueller Faktoren kleinräumig (unterhalb der Stadtteilebene) analysiert
wird. Es ist zweifelsfrei, dass das Risiko einsamer Tode sowohl in einem beliebten Wohngebiet als auch in einem „sozialen Brennpunkt“
besteht, so Loke. Für diese augenscheinlich
gegensätzlichen Sozialräume lässt sich eine
Vielzahl gemeinsamer Wirkfaktoren benennen. Da die Gestaltungsmöglichkeiten einzelner Beteiligter [U+2500] auch der Kommune
und der Sozialen Arbeit [U+2500] begrenzt
sind, scheint ein breites Bündnis aller im Sozialraum wirkenden und wirksamen Akteure
notwendig.
In der Abschlussdiskussion wurde der interdisziplinäre Austausch im „Diskurs über
den Tod“ betont. Insbesondere den letzten
Vortrag zu „Unentdeckte Toten“ aufgreifen,
wurde die Notwendigkeit einer interdisziplinären Perspektive erörtert. Hier wurde die
Dringlichkeit einer sorgenden Gesellschaft
angemahnt, die auch als Gegenpol einer umgreifenden Professionalisierung auch im Kontext von Sterben und Tod zu begreifen ist.
Zudem macht sich die Trauer im öffentlichen Raum immer bemerkbarer: Straßenkreuze, spontane und private Gedenkplätze sind
sichtbare Zeichen dafür. Auch dies ein Hinweis für eine sorgende, mitfühlende Gesellschaft. Das große Interesse an der Transmortale VII hat auch in diesem Jahr wieder gezeigt, wie wichtig diese Veranstaltung für den
interdisziplinären fachlichen Austausch zum
Thema „Tod“ ist. Da die Veränderungen sowohl der Bestattungskultur als auch bei den
Gesundheits- und Lebenswissenschaften rasant sind wird es zunehmend wichtig, diese
Entwicklungen zu beobachten und kritischhistorisch, wissenschaftlich, zu begleiten.
Block I
Begrüßung und Einführung
Benjamin van der Linde (Innsbruck): Die Inszenierung des Leichnams. Kulturelle Konstruktionen von toten Körpern in der frühen
Neuzeit im deutsch-niederländischen Vergleich (ca. 1600 – 1800)
Wiebke Neuser (Paderborn): Die Einführung
der Feuerbestattung in Preußen und der Hagener Krematoriumsbau von Peter Behrens
von 1907
Grete Schönebeck (Frankfurt am Main): Wie
soll man sie begraben? Elemente der Bestattungskultur in China im Wandel
Block II
Eva Marie Lehner (Essen): Den Tod verzeichnen: Trauer und Hoffnung in frühneuzeitlichen Kirchenbüchern
Anastasiia Afanaseva (Moskau/Freiburg):
Erzähl- und Zeitstrukturen in den französischen und deutschen literarischen
Trauernarrativen der 2010er-Jahre
Ekkehard Knopke (Weimar): „Trauerfeier ist
gleich Atmosphäre; ohne das geht es nicht“.
Ästhetische Praktiken und die professionelle
Herstellung eines Ambientes auf Trauerfeiern
Block III
Sandra Braun (Lübeck): Trauer und Trauma der Weltkriegssoldaten: Regiments- und
Soldatendenkmäler als mediale (Fremd-)Betrachtungen historischer Krisensituationen
Miriam Sitter (Hildesheim): Zum Wunsch des
„Normalseins“ von trauernden Kindern
Susanne Loke (Bochum): Unentdeckte Tode –
Forschungsstand und –perspektiven
Abschlussdiskussion
Tagungsbericht transmortale VII – Neue Forschungen zum Tod. 27.02.2016, Kassel, in: HSoz-Kult 25.07.2016.
Konferenzübersicht:
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