Ausgabe als PDF herunterladen - Evangelischer Pfarrverein in

PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 285
Mitteilungsblatt des Evangelischen Pfarrvereins in Baden e. V.
www.pfarrverein-baden.de
2015
Juli/August August
| 7-8/2016
Aus dem Inhalt:
Auslegen des Wortes
Suchen der Worte –
Rund um die Predigt
„Was soll ich predigen?“
Annäherung –
Definition(en) von Predigt
Wenn es irgend geht:
Herzhaft predigen!
Sonderseelsorge und
ihre Arbeitsfelder
Aus dem Pfarrverein
Aus der
Pfarrvertretung
Buchbesprechungen
In memoriam
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 286
Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser!
„W
ie Musik zur Trauer ist eine Rede
zur falschen Zeit (Sir 22,6). Wider den kirchlichen Wortdurchfall“. So lautet der Titel eines Buches von Paul M. Zulehner, das mir einmal vor Jahren begegnete und mich nicht loslässt. Weder Titel
noch Inhalt.
Als Pfarrerinnen und Pfarrer reden wir häufig und viel. Hoffentlich immer zur richtigen
Zeit und mit den angemessenen Worten.
Viele Worte machen wir, um sonntäglich in
der Predigt, bei Kasualgottesdiensten, Andachten und vielen anderen Gelegenheiten
das e i n e biblische Wort zu deuten, durch
das Gott sich hören lässt.
Auf der Suche nach den passenden Worten, mit denen der Bibeltext übersetzt und in
die Situation der Menschen heute gesprochen werden kann, bieten Predigthilfen aller
Art und Couleur ihre Hilfe an. Und Predigtlehren unterfüttern das Tun mit Theorien.
Doch gleich welcher Theorie oder Hilfe wir
uns als Predigende anvertrauen – wir sind
und bleiben immer Dienerinnen und Diener
des Wortes Gottes. Und als solche vor allem
und zuallererst Hörende. Zugleich Suchende. Und oft mit dem Wort und nach Worten
Ringende. Die Sommerausgabe der Badischen Pfarrvereinsblätter widmet sich den
Fragen nach Predigtarbeit heute. Wir finden, das ist ein wirkliches Sommerthema.
Dazu finden Sie hier zwei anregende Beiträge sowie einen eben solchen Buchhinweis, die Sie inspirieren mögen.
Daneben widmen wir einen beträchtlichen
Teil dieses Heftes nochmals der umfangreichen Thematik der Sonderseelsorge, da
uns weitere Beiträge zu den Arbeitsfeldern
286
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
Gefängnis-, Telefon-, Militär-, Polizei- und
Studierendenseelsorge erreicht haben, die
wir Ihnen nicht vorenthalten wollen.Was das
aktuelle Thema angeht: Vielleicht verspüren
Sie ja in den Ferien die Lust, ein entsprechendes Buch mitzunehmen und über Ihre
Predigtpraxis in sommerlicher Gelassenheit
nachzudenken. Doch gleich ob mit einem
theologischen oder anderen Buch – in jedem Fall wünsche ich Ihnen einen erholsamen Sommer, in dem Sie das e i n e Wort
begleiten und die ein oder andere Auslegung des e i n e n Wortes, die Sie hören
dürfen, stärken möge für Ihren Dienst!
So grüße ich Sie herzlich für das Tandem
in der Schriftleitung!
Ihre
Hinweis auf die übernächste Ausgabe
Die übernächste Ausgabe 10/2016
widmet sich dem Thema „Trauertage, Trauerzeiten in Gottesdienst und Seelsorge”
Bitte senden Sie Ihre Beiträge am besten als
Word-Datei bis spätestens zum
8. September 2016
an die Schriftleitung.
Die kommende Ausgabe 9/2016 zum Thema
„Dass ich meines getreuen Heilandes Jesu
Christi eigen bin – Taufe, Kirchenmitgliedschaft
Kirchenaustritt“
befindet sich bereits in Vorbereitung.
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 287
Thema
„Was soll ich predigen?“1
Annäherung – Definition(en) von Predigt
❚ Heinz Janssen, Kirchenrat und Pfarrer em.
sche(n) Pfarrvereinsblätter“ die Vorankündigung des Themas „Rund um die Predigt“ und die Bitte um Beiträge dazu las.3
Was für eine Thematik! Der Redaktion sei
Dank für die Anregung. Meinen Beitrag
verstehe ich als persönliche Reflexion
meiner Predigtwege4 und meiner selbst
als „rite vocatus“ in das „ministerium Verbi
Divini“.5 Bei jeder Vorbereitung eines Gottesdienstes sehe ich mich durch diese
Thematik von neuem gefordert, angefragt
und in Frage gestellt, ob ich der kirchlichen Ordination6 gerecht werde. „Ach,
HErr HErr, ich tauge nicht zu predigen“,7
wie menschlich nachvollziehbar doch dieses Sträuben Jeremias, jenes biblischen
ie Frage jener prophetischen Stim„Predigers“8 (Jer 1,6). Wer bin ich denn,
me, „Was soll ich predigen“, nachmich zum „Predigen“ berufen zu wissen!
dem zuvor eine himmlische Stimme rief:
Was für ein Anspruch! Was tue ich, wenn
„Predige“, spricht wahrscheinlich allen
ich predige?9 Denke ich darüber nach, begegne ich einer Fülle von Definitionen,
aus dem Herzen, die beauftragt sind zu
was eine Predigt eigentlich sei, was sie
predigen. Die Frage setzt aber schon ein
zur Predigt mache. Ist sie
Wissen voraus, vielleicht
Ist Predigt
„Zeugnis“10 oder ist diese
nur eine Ahnung darüber,
„Zeugnis“ oder ist
Definition nur ein Aspekt?
was eine Predigt sei oder
diese Definition
sein könne. Von PredigthöDefinitionen sind ebenso
nur ein Aspekt?
renden kennen wir Reaktiovielfältig wie unterschiednen wie: „Eine schöne Prelich. Ich sehe darin weniger einen Mangel
digt“ oder „Das war doch keine Predigt“.
noch einen Beweis für die Unmöglichkeit
Auch sie weisen auf ein solches (Vor-)
von Predigtdefinitionen, sie verstärken
Wissen und auf damit verbundene Ereher meinen Wunsch, mit den Predigtaufwartungen.
fassungen in Vergangenheit und Gegenwart das Gespräch zu suchen.
„Was ist das – eine Predigt?“ – so lautet
der Titel einer kleinen Studie von Albrecht
Schaue ich in die homiletischen LehrbüGrözinger.2 Ich erinnerte mich spontan
daran, als ich für dieses Heft der „Badicher, lerne ich Vieles über die Geschichte
sowie Herausgeber und Schriftleiter
Heidelberger Predigt-Forum versteht
seinen Beitrag zu dem, was eine Predigt
sei oder sein könne, als persönliche Reflexion seiner Predigtwege und seiner selbst
als „rite vocatus“ in das „ministerium
Verbi Divini“. Nach theoretischen Gedanken zum Predigen lässt er an seinem Predigtweg genauso teilhaben wie an seinen
Gedanken zur „Predigt als Auslegung“
unter dem Gesichtspunkt „Verständigung“ –
um zu einem offenen Ende hin theologische,
christologische, pneumatologische
Aspekte der Predigt zu reflektieren.
D
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
287
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 288
der Predigt, ihr Wesen und ihren Anmit dem Predigen zugehe“.24 In diesem
spruch, bis hin zu der umstrittenen Frage,
Sinn versteht er seine Predigtlehre als
wie „zeitaktuell“ sie sein solle oder könne.
„Sprachlehre des Glaubens, Hoffens und
Ich brauche solche Bezugspunkte, den
Liebens“,25 und er geht in vier Schritten26
vor: 1) Das Woher der PreBlick in die Geschichte und
Mit den Predigtauffasdigt,27 2) Die Sprache der
Gegenwart des Predigens,
sungen in VergangenPredigt, 3) Der Prediger, 4)
als Orientierung und Hilfe
heit und Gegenwart
Der Hörer.28 Den umfangzur kritischen Reflexion
reichsten Teil widmet R.
das Gespräch suchen.
dessen, was ich tue, wenn
Bohren dem zweiten Schritt,
ich predige.11 Karl Barth,12
dessen letzte Vorlesung13 ich noch als
dieser bildet m. E. nicht nur materialiter die
Gymnasiast zusammen mit meinem GeBuchmitte, sondern zugleich, das inhaltlimeindepfarrer hörte, Wolfgang Trillhaas,14
che Zentrum und Herz seiner Homiletik,
einer meiner Lehrer in Göttingen, Dietrich
umgeben von der Frage nach dem Grund
Bonhoeffer,15 Rudolf Bohren,16 Werner
der Predigt (er„Die Predigt des
Schütz,17 Gerd Theißen18 und Albrecht
ster Schritt) soGrözinger19 gaben und geben mir wichtige
Wortes Gottes
wie der Frage
Impulse. Wieder neu entdecke ich die
ist Gottes Wort“.
nach dem Pre„Pastoraltheologie“ von Gerhard Rau.20
diger / der PreIch lese viele Predigten und tue dies – imdigerin und der Frage nach den Adressamer gespannt, wie andere diesen und jeten, den Hörerinnen und Hörern.29 Es geht
darin um „Gestalt und Gehalt“30 der Prenen Bibeltext hören – mit Gewinn für die
21
digt. Neu an seinem homiletischen Ansatz
eigene Predigtpraxis.
ist, dass er die „formale Homiletik“31 anZu den theologisch tiefgründigsten Definistelle der „materialen Homiletik“32 behantionen gehört m. E. die von Rudolf Bohren,
delt und „die Formprobleme als Sachprodie seine Predigtlehre bestimmt. R. Bohbleme“ verstehen und damit eine Trenren bezeichnet die Predigt als „Wunder“,
nung zwischen materialer und formaler
und er spricht seine Sehnsucht nach dieHomiletik (entgegen der eigentlichen Insem Wunder aus: „So warte ich auf die
tention der traditionellen Teilung) überwinPredigt, die Wunder ist und Wunder wird
den möchte. Denn Form und Inhalt bilden
für Prediger und Hörer“22. Er beruft sich
eine Einheit, der Inhalt führt in die Form,
damit auf die reformatorische Sicht der
und die Form steht dem Inhalt nicht
Predigt: „Praedicatio verbi Dei est verbum
gegenüber, wie schon ältere Homiletiker
Dei“ – „Die Predigt des Wortes Gottes ist
betonten.33 Zustimmend zitiert er Manfred
Josuttis: Die Predigt ist ein „Stück SpraGottes Wort“, keine der seitherigen Preche im Akt öffentlicher Rede“, charakterisdigtdefinitionen reiche „an die Prägnanz
tisch für sie ist „das Ineinander von Form
und Dichte“ dieser reformatorischen Defiund Inhalt“.34 Martin Luther: „Predigen
nition heran.23 Das „est“ will er im Horizont
des „Wortes Gottes“ als „Zukunft“ versteheisst anrichten, aufftragen und die
hen, „auf die ich mit der Predigtlehre und
schussel fur die Geste setzen“.35
288
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 289
Kritik – Beurteilung –
4) Eine gute Predigt … wirkt … anregend,
Analyse der Predigt –
stärkend, ermutigend, orientierend, also
Empirische Predigtforschung
lebens- und glaubensfördernd“.39
Dietrich Bonhoeffers Finkenwalder Ho„Erinnerungsort“ Predigt40
miletik mündet in einen „Nachtrag“, der
Als ich meine 9jährige Enkeltochter
sich mit der „Predigtbeurteilung“ befasst
fragte, ob sie wisse, was eine Predigt sei,
und „Fehlerquellen“ aufzeigt36 und nach
wie vor für die eigene Predigtkritik und
antwortete sie nach kurzem Überlegen:
Kritik „fremder“ Predigten hilfreich sein
„Die gibt es in der Kirche, aber ich weiß
kann. Drei Beispiele: „Benicht genau, was eine PreWer länger predigt,
teure nicht die Gegenwartsdigt ist“. Für meinen Beitrag
muss auch etwas
bedeutung der Schrift. (Sie)
beziehe ich mich auf die
zu sagen haben.
wird vorausgesetzt. Spalte
Predigt „in der Kirche“,
(H. Schwier)
deshalb die zusammengeim evangelischen Gotteshörige explicatio und applidienst unserer mir vertraucatio nicht auf. Vermeide das‚ gerade mir
ten Landeskirchen. Ich meine hier nicht
und dir‘. – Verteidige das Gotteswort
die Auffassung von Predigt im weiten
nicht, sondern bezeuge es. Du bist PrediSinn der Verkündigung, die überall mögger und nicht Apologet. – Quäle dich
lich ist, besonders im Zusammenhang
nicht mit der Einleitung und Anknüpfung.
der Worte des Apostels Paulus „Ihr seid
Du kannst dich sofort dem Worte anverunser Brief … erkannt und gelesen von
trauen. Es ist das Schiff „geladen bis an
allen Menschen“ (2. Korinther 3,2), womit
den höchsten Bord.“37
Paulus die praxis pietatis, den gelebten
Glauben, anspricht.
Weiterführend für die homiletische Theoriebildung und Predigtpraxis ist die „PrePredigt im Gottesdienst, in der versamdigtanalyse“,38 ferner die „empirische Premelten Gemeinde,41 ist nach meiner Aufdigtforschung“, deren Resultat Helmut
fassung nicht etwas Anderes als die LiturSchwier so zusammenfassen kann: „1) Eigie, so die traditionelle Sichtweise in der
ne gute Predigt verbindet die Auslegung
Rede von „Liturgie und Predigt“, sondern
der Bibel mit einem erkennbaren Lebensein Element
Predigt im Gottesbezug … 2) Eine gute Predigt ist lebendig
der Liturgie.
dienst ist ein
und verständlich in der Sprache … Dabei
Exponiert geElement der Liturgie.
lässt sie sich vom Reichtum der biblischieht in der
schen Sprach- und Formenwelt und der
Predigt Erinnein ihr enthaltenen Motive immer neu anrerung an die Barmherzigkeit und Güte Gotgen und stören. 3) Eine gute Predigt ist
tes,42 an „Gott als Geheimnis der Welt“.43
„Predigt und Kanzel sind ein herausgehoprägnant im Inhalt und dauert innerhalb eibener Ort,44 an dem die Gottesgeschichte
nes normalen Gemeindegottesdienstes
immer wieder aufs Neue erzählt wird“45 –
nicht länger als 15 Minuten. Wer länger
„dein einziger Trost im Leben und im
predigt, muss auch etwas zu sagen haben.
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
289
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 290
Sterben“.46 A. Grözinger spricht von der
Würdigung dieser Gottesgeschichte und
der „Erinnerungssehnsucht“ von uns
Menschen „durch eine sorgfältige Vorbereitung von Predigt“.47 Dabei gilt für die
Predigt die im homiletischen Diskurs oft
vernachlässigte Unterscheidung zwischen dem Machbaren und dem Unverfügbaren in der Predigt.48
„zu derselbigen Zeit“ – noch Martin Luthers
Erstfassung, so lesen wir in der Revision
von 1984: Zu der Zeit fing man an, den Namen des HERRN anzurufen (so die meisten deutschen, auch englischen und franzöischen Übersetzungen sowie die Übersetzungen in wissenschaftlichen Bibelkommentaren). Damit ergibt sich eine inhaltliche Veränderung. Ist das „Predigen
von des Herrn Namen“ auf ein menschliMachbares und Unverfügbares
ches Gegenüber ausgerichtet, auf einen
In Erinnerung geblieben ist mir seit meieinzelnen oder auf mehrere Menschen,
ner Jugend, als ich Organist in meiner Heiein Individuum oder ein Kollektiv, so ist mit
matgemeinde49 war, das sonntägliche,
der „Anrufung des Namens des HERRN“
stets gleiche, Kanzelgebet des Pfarrers:
die Hinwendung zu Gott, das Gebet, um„Herr, gib deinen Geist zu deinem Wort“.
schrieben. Wie kommt es zu diesen unterDamit ist ausgesprochen, was das „Unverschiedlichen Übersetzungen, die hier deutfügbare“ in der Predigt meint.50 Ohne den
lich mehr als sprachliche Anpassungen
Hl. Geist bleibt eine Predigt – und sei sie
sind? Die Antwort gibt der zu Grunde lieexegetisch, theologisch, homiletisch die
gende Wortlaut der Hebräischen Bibel. Ein
beste – wirkungslos.51 In diesem pneumabesonderes Kennzeichen des biblisch-hetologischen Sinn wäre jenes andere bebräischen Vokabulars ist dessen Mehrdeukannte Kanzelgebet zu korrigieren, nicht:
tigkeit, diese trifft beispielhaft für das he„Herr, segne Reden und Hören“, sondern:
bräische Verb qr´ zu, das in seiner Grund„Hören und Reden“.
bedeutung „(aus)rufen“ bezeichnet und
damit ein weites Bedeutungsfeld öffnet –
Biblische Anfänge
um nur einige Beispiele zu nennen:
In der Bibelübersetzung Martin Luthers
JHWH, der Gott Israels, „ruft“ sein Volk
von 1545 begegnet das Wort „predigen“
„bei deinem Namen“ (Jesaja 45,3.4, synzum ersten Mal in 1. Mose / Genesis
taktisch entspricht die Formulierung der
4,26b: Zu derselbigen Zeit fing man an zu
von Genesis 4,26, so dass sich eine mögpredigen von des HErrn Naliche Übersetzung wie „ …
men. Es ist die Zeit des
damals fing man an, beim /
Nicht: „Herr, segne
Enosch, des Erstgeborenen
im Namen JHWHs zu ruReden und Hören“,
Sets und Enkels Adams und
sondern: „Hören und fen“ ergibt – Genesis
Evas, wie wir aus dem Zu41,43. (Der Pharao) „ließ
Reden“.
sammenhang erfahren (4,25vor ihm (Joseph) her aus26). Entspricht der revidierte Text von 1912
rufen: Der ist des Landes Vater!“ – Leviti– abgesehen von der unwesentlichen,
cus 25,10 „eine Freilassung / ein Erlassdem späteren Sprachgebrauch angepasjahr ausrufen“. „Rufen“ kann auch im Sinn
sten, Neuformulierung „zu der Zeit“ statt
von „verkündigen“ verstanden werden und
290
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 291
bezeichnet besonders die prophetische
Verkündigung, so bekommt z. B. Jeremia
den Auftrag, am Tor des Tempels zu Jerusalem „dieses Wort“ zu „rufen“ (Jeremia 7,2), zu nennen ist u.a. noch die Bedeutung „herausrufen aus“ / „hersagen
aus“,52 i. S. v. „aus einer Schriftrolle / einem Buch „(vor)lesen“. Genesis 4,26,
diese erste „Predigtstelle“ in der Bibel,
lässt also beide Übersetzungen bzw.
Deutungen zu: „Damals fing man an den
Namen JHWHs anzurufen“54 und: „ …
den Namen JHWHs auszurufen / zu verkündigen / zu predigen“.55
sich mit der inhaltlichen, die um das Problem des Anfangs der Verehrung JHWHs
kreiste, denn die JHWHverehrung beginnt
dem Buch Exodus zufolge erst, als das Volk
Israel entsteht,59 obwohl „diese Fragestellung dem Text (Genesis 4,26b) nicht entspricht“.60 Und schon sind wir mitten drin in
der „Schriftauslegung“, der „Exegese“!
Predigt als Auslegung
„Auslegung“, deutsche Übersetzung des
aus dem Griechischen stammenden Terminus „Exegese“, ist die Voraussetzung für
unser Predigen. „Vom Text zur Predigt“
heißt ein unaufgebbarer Paragraph in der
Die Übersetzung von Gen 4,26 bereitete
klassischen, im Jahre 1935 (!) erschieneschon der Septuaginta, der griechischen
nen, Predigtlehre von Wolfgang Trillhaas,
Übersetzung des TaNaK für die Juden in
der „erste(n) Homiletik im Wirkungskreise
der Diaspora, Schwierigkeiten, und nicht
Karl Barths“.61 Exegese ist Arbeit, für mich
so etwas wie „Seelenarbeit“, die mich
zuletzt den Targumen, welche die hebräiganz, existenziell, beansprucht und mir viel
schen Lesungen in der Synagoge ins AraGeduld abverlangt, wie oft fehlt sie mir. Es
mäische übersetzten bzw. übertrugen
geht dabei darum, den
oder paraphrasierten.
(Bibel)Text aus-zu-legen,
Der griechische Text der
Exegese ist Arbeit, für mich
Septuaginta ergibt die dt.
so etwas wie „Seelenarbeit“, ihn der Öffentlichkeit zu
„präsentieren“. Ich stelle
Übersetzung: „Dieser
die mich ganz, existenziell,
mir ein Schaufenster vor,
(= Enosch) hoffte darauf,
beansprucht.
in dem ein Bibeltext öfden Namen Gottes des
fentlich, für alle sichtbar, „ausgelegt“ wird.
Herrn anzurufen“.56 Ganz anders die Targume, welche die mehrdeutige hebr. WurDas Schaufenster ist als würdiger Rahmen
zel chll57 nicht als „anfangen“, sondern als
gestaltet und lädt ein zu verweilen. Der
„entweihen“ deuten, so dass „[D]ie ältere
Text „ent-faltet“ sich vor dem Auge, ich
jüdische Erklärung … in diesen (= Gen
komme mit ihm in Kontakt, begebe mich
4,26b) Worten den Beginn des Götzenmit ihm ins Gespräch, in einen Dialog, öffdienstes“ fand.58 Darum ist es im Hinblick
ne mich ihm, will sehen, hören, verstehen.
auf diese Deutungsoffenheit des hebräiIst es das, was mit „aneignen“, „verinnerschen Textes bzw. die Möglichkeit eines
lichen“ oder „rezipieren“ gemeint ist? Unter
Missverständnisses des Konsonantentexhermeneutischen Gesichtspunkten bedarf
tes nur verständlich, dass diese Bibelstelle,
es dabei der ständigen Reflexion der Zuwie noch viele andere, Anlass zur Diskusgangswege zum Text, der „Methoden“, die
sion gab. Die philologische Frage verband
im günstigen Fall nicht an einen Text herPfarrvereinsblatt 7-8/2016
291
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 292
angetragen, sondern von diesem aufgeHören
„So kommt der Glaube aus der Predigt …“,
zeigt werden.62 Ich will weiterhin lernen,
„studieren“, d. h. mich ernstlich und eifrig
schreibt der Apostel Paulus im Römerbrief
um die biblischen „Einsichten“ bemühen,
(10,17).67 Auffälligerweise steht im griechischen Bibeltext für Martin Luthers Übersetmich in das „Buch der Bücher“ hinein-lesen
zung „Predigt“ das Wort akoae, dieses beund -hören, es wie Nahrung aufnehmen,
zeichnet die Hörfähigkeit durch das Ohr als
die mich für ein verantwortliches, dem Wort
Organ des Hörens, den Akt des Hörens
antwortendes Leben, und einen rechensowie das, was zu Ohren, zu Gehör geschaftsfähigen Glauben63 nährt und stärkt.
„Fanden sich Worte von dir, dann habe ich
bracht wird, darum auch die Mitteilung,
sie gegessen, und deine Worte waren mir
Kunde, die Predigt.68 In den wenigen
Worten des Paulus steckt in
zur Wonne und zur Freude
Die verschiedenen
nuce eine umfassende Homeines Herzens; denn dein
Übersetzungen
miletik.
Name ist über mir ausgerumachen es nicht
fen, HERR, Gott der HeerAls Prediger, als Predigerin,
immer leichter, wenn
scharen” (Jeremia 15,16).64
Rudolf Bohren ermutigt in
bin ich die erste Hörerin, der
die Kriterien, sie zu
seiner Predigtlehre, „selberste Hörer, bevor ich weiterbeurteilen, fehlen.
ständig exegetisch zu arbeigebe, was ich gehört und zu
ten“ und ist überzeugt: „Exegetische EntdePapier gebracht habe. Ich erfahre es als
ckerfreude wird sich in die Predigt hinein
sehr hilfreich, mein Predigtmanuskript eifortpflanzen“.65 Ein Text ist, wie es der lateinem mir vertrauten Menschen ein bis zwei
nische Begriff „textum“ sagt, ein „Gewebe,
Tage vor dem Gottesdienst zum Lesen zu
Geflecht, Tuch, Kleid“, mehr oder weniger
geben und von ihm zu hören, was von der
kunstvoll „gewebt“ oder – im musikalischen
Predigt und wie sie bei ihm „ankommt“ – ich
Sinn – „komponiert“. Ich gewinne bei der
möchte diese Praxis nicht mehr missen, die
Lektüre einen ersten Eindruck, finde vielmein Hören auf die Predigtperikope vertieft
leicht schnell Zugang oder der Text erund anregt, meine Formulierungsversuche
scheint mir total fremd, weil mich zweitaunoch einmal zu überarbeiten, zu präzisieren
send und mehr Jahre von ihm, seiner Spraund zu korrigieren.69 Zu solchem „Mitlesen“70 bedarf es einer schriftlich ausformuche und formalen Gestaltung trennen. Erlierten Predigt. Jede und jeder weiß, wieviel
schwerend für das Verstehen, das Finden
Mühe es kostet, eine Predigt zu schreiben,
des „roten Fadens“, des „Leitfadens“ bzw.
die Gedanken, die in Kopf und Herz doch
des Grundtones, kommt der hebräische
so klar sind (!), in Worte und Sätze zu fasbzw. griechische „Urtext“ dazu, und die versen. Begeistert erzählte mir ein Kollege,
schiedenen Übersetzungen machen es
dass er es aufgegeben habe, seine Predignicht immer leichter, wenn die Kriterien,66
sie zu beurteilen, fehlen.
ten auszuformulieren und dass er sich dafür
Die Gefahr, etwas in den Text hinein zu
entschieden habe, nach gedanklicher Vordeuten („Eisegese“ statt „Exegese“), ist
bereitung lediglich ein Stichwortkonzept71
zu erstellen und damit viel „erfolgreicher“
bekannt.
292
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 293
predige, was ihm die Gemeinde bestätige.
Ich plädiere entschieden trotz anderer Stimmen für eine genaue Ausformulierung,72
auch wenn das Ziel der Predigtarbeit nicht
Verschriftlichung, sondern die hörende
Gemeinde ist.73
nicht die Richtung gefunden, die zum Ziel
führt. Es sind Schritte, die ich gehe, und
ich möchte sie nicht alleine gehen, „nicht,
dass ich es schon ergriffen habe …“.74
Meine Predigten entstehen meist nicht in
einer ununterbrochenen Niederschrift. Ich
Für mich ist das Schreiben der Predigt mit
lese den Predigttext, auch den näheren und
der schwierigste Teil der Predigtarbeit: in
weiteren Kontext, fast immer am Anfang der
Worte zu fassen, was mir das Predigtwort
Woche vor dem Gottesdiensttermin, weil
sagt, mich zu entscheiich – kaum dass ein Gotden, auf welche Gedantesdienst vorbei ist –
Ich plädiere für eine Ausken ich mich in der Preschon gespannt bin,
formulierung, auch wenn das
digt konzentriere, eine
welcher Text am nächZiel der Predigtarbeit nicht
dem Inhalt entsprechensten Sonntag „dran“ ist.
Verschriftlichung, sondern
de literarische Form zu
Ich notiere zunächst
die hörende Gemeinde ist.
finden und in alledem zu
Einfälle zur Perikope, oft
unterscheiden, was in die Predigtvorbereigeschieht dies unterwegs, etwa auf dem
tung und was auf die Kanzel gehört. Aber
Fußweg zu einem Hausbesuch oder unich lerne viel dabei, denn im Schreiben ordmittelbar danach. Der Text geht mit, ich genen sich die Gedanken, und ich bin stets
he mit dem Text, begegne mit ihm den Mengefordert, für sie eine Form zu finden, die
schen, die mit mir unterwegs sind, zu denen
dem Predigttext und der hörenden Gemeinich gehe, von denen ich komme. Ein Text
de gerecht zu werden versucht.
wird lebendig, ich trage ihn mit mir, er trägt
mich, unsichtbar baut er eine Brücke zu
Predigtweg(e)
dem Menschen neben mir. Mit der vertieNach den theoretischen Gedanken zum
fenden exegetischen Arbeit am Text beginPredigen möchte ich die Leserinnen und
ne ich erst ab Mitte der Woche: Übersetzen
Leser an meinem Predigtweg teilnehmen
des hebräischen bzw. griechischen, danelassen, um danach das bereits angedachben auch des lateinischen, Textes, mit
te Thema „Predigt als
Wörterbuch, GrammaIch trage den Text mit mir,
Auslegung“ noch eintik, Konkordanz, Syner trägt mich, unsichtbar
mal aufzunehmen, jeopse(n), dabei nehme
baut er eine Brücke zu
doch unter dem Geich die „Klippen“ und
dem Menschen neben mir.
sichtspunkt „Verständi„Stolpersteine“ wahr, forgung“, und zu einem ofmuliere meine Fragen.
fenen Ende hin theologische, christologiEs folgt ein Vergleich meiner „Arbeitsübersche, pneumatologische Aspekte der Presetzung“ mit traditionellen Bibelübersetdigt zu reflektieren. Mein Weg verlief keizungen, auch Übertragungen wie die seit
neswegs geradlinig, er bahnte sich Irrwege
meinem Studium geschätzte paraphrasieund Sackgassen, und er hat noch lange
rende Bibelübersetzung von Jörg Zink,
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
293
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 294
und Übersetzungen in wissenschaftlichen
Bibelkommentaren. Exegetische und homiletische Anregungen hole ich mir außerdem in Predigthilfen75 sowie ausgearbeiteten Predigten (print und online).76 Dabei
ist es mir wichtig, mit Menschen vor mir
und mit zeitgenössischen ins Gespräch
zu kommen, und ich erfahre, wie sie das
Predigtwort verstehen, auch, welche
Schwierigkeiten sie damit haben. Ab Donnerstag dann Schreibversuche. Obwohl
die ersten Worte, die ich schreibe, die Anrede „Liebe Gemeinde“ sind – sie stellen
mir Menschen aus der Gemeinde vor Augen und erinnern mich an die „seelsorgliche“77 Blickrichtung – fange ich meist nicht
mit dem Predigtanfang an (wie oft habe
ich mich damit schon geplagt und kam
nicht weiter!), sondern steige mit irgendeinem Gedanken ein, um den ich im Augenblick kreise, ohne dass ich gleich auf
Satzbau und Sprache achte, was später
erfolgen wird.
liches tut mir gut! Geschätzte durchschnittliche Arbeitszeit für eine Predigt: 10 bis 12
Stunden, dabei sind die Gebete mit einbezogen, die im Verlauf der Predigtarbeit entstehen (meist formuliere ich die Gebete
selbst oder überarbeite veröffentlichte Texte bzw. übernehme sie ganz). Gelegenheit
zum „Gottesdienst- bzw. Predigtnachgespräch“ bietet am Sonntag vielleicht die
Begegnung beim Kirchencafé und für mich
ebenso wichtig und unersetzlich das Gespräch zu Hause mit meiner Familie. In
meiner Predigtarbeit möchte ich mich gerne als ein „Steinchen“ mitbauend am
„Haus der lebendigen Steine“ (1. Petrus
2,5) sehen: Ich bin ein Teil eines Ganzen,
habe eine Aufgabe, baue mit, um Leben zu
schützen, Frieden zu schaffen – gemeinsam gestalten wir Beziehung, fügen zusammen, nehmen einander wahr, lebendige Steine, die einander halten.
Verständigung
Von Martin Luther stammen die Worte:
„Jede Stelle der Schrift ist von unendlicher
Nach offenem Abschluss des PredigtmaEinsicht; darum was du erkennst, mache
nuskriptes am Freitagabend (spätestens
nicht hochmütig geltend; bestreite nicht
am nächsten Morgen) ist der Samstag für
dem anderen seine Einsicht und wehre ihn
mich ein „meditativer“ Tag, ein innerer Dianicht ab! Denn es sind Zeugnisse, und jelog, ein an Maria, die Mutter Jesu, orienner sieht vielleicht, was du
tiertes „Sich unterreden“
nicht siehst ... So ist immer
(Lukas 2,19) mit dem Pre„Jede Stelle der Schrift
voranzuschreiten in der
digtwort, um es „zusamist von unendlicher
Erkenntnis der Heiligen
menzubringen“ (symbalEinsicht.“ (M.Luther)
Schrift“. Diesen Ausspruch
lein) mit dem Hier und Heudes Reformators lese und verstehe ich als
te meines Lebens und den (Gemeinde-)
einen befreienden Impuls, sich miteinanErfahrungen der zu Ende gehenden Woder darüber zu verständigen, was uns die
che, eine Zeit der inneren Einstellung auf
biblischen Schriften mit den darin „verdichden Gottesdienst. Zum Samstag gehören
teten“ Erfahrungen mit dem Gott Israels
auch „praktisch-theologische“ Arbeiten wie
und mit Jesus von Nazareth weitergeben,
z. B. das Rasenmähen oder das Aufräuins Herz, in Sinn und Verstand sagen und
men des Arbeitszimmers, Beides und Ähn-
294
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 295
schreiben wollen. Solche Verständigung
als ein Bemühen um Verstehen lässt die
subjektive Einsicht eines anderen Menschen gelten und stellt die eigene nicht
besserwisserisch über sie, weil es sich um
„Zeugnisse“78 von Menschen handelt, die
Bibel aber „von unendlicher Einsicht“ ist,
m. a. W. deutungsoffener als wir es aufgrund unserer eigenen Tradition vielleicht
zulassen möchten. Der Gedanke, dass ein
anderer Mensch vielleicht mehr sieht als
ich, ist der Weg, auf dem wir nach Martin
Luther „in der Erkenntnis der Heiligen
Schrift“ weiterkommen.
Im Hinblick auf unsere Predigtpraxis höre
ich die Worte Martin Luthers als Anfrage,
ob wir als „professionelle“, „rite“ berufene
Predigerinnen und Prediger, einander an
unseren Erkenntnissen im Hören auf die
biblischen Einsichten und „Weisheiten“
genügend teilnehmen lassen – und ganz
entsprechend auch die Gemeinde. Wenn
Predigt Auslegung und Weitergabe der
biblischen Botschaft ist und „Kommunikation des Evangeliums“,79 dann ist auch und
gerade das Kommunizieren zwischen
denen gefragt, die im „Dienst am Wort“
stehen.80
rorum“). Mit zu meinen schönsten Erfahrungen gehört die „kollegiale Beratung“ zur
Gottesdienstpraxis, denn was wissen wir
von den Predigten bzw. Gottesdiensten der
Kollegin oder des Kollegen. An einem freien
Sonntag
Gemeinsam vorannehme ich
schreiten in der Erkenntam Gottesnis der Heiligen Schrift.
dienst eines Kollegen teil. Wir schenken einander Zeit, setzen
uns nach dem Gottesdienst zusammen und
teilen uns einander mit, hörend, einfühlsam, um Verstehen bemüht, suchend,
offen und bereit, gemeinsam „voranzuschreiten in der Erkenntnis der Heiligen
Schrift“. Die Gestaltung des Gottesdienstes
wird thematisiert, Form und Inhalt der Gebete ebenso wie Form und Inhalt der Predigt. Ganz ebenso braucht die hörende
Gemeinde die Kommunikation.
Predigen „Im Namen
Gottes …“ – Theologie,
Christologie, Pneumatologie
Seit fast fünf Jahrzehnten wurde der
„klassische“ Weg „vom Text zur Predigt“81
im Hinblick auf das „Machbare“ durch
ebenso wichtige wie künftig unverzichtbare Ergebnisse der Kommunikations- und
Pfarrkonvente und Pfarrkonferenzen, FortRezeptionsforschung ergänzt und im Bebildungen, die außergewöhnliche Ermöglimühen um Wege zum Menschen in die
chung eines „KontaktstudiPredigttheorie einbezoDas Kommunizieren
ums“, bieten Gelegenheigen.82 Der Anspruch der
zwischen denen, die im
unverfügbaren Heiligen
ten des lernenden Aus„Dienst am Wort“ stehen,
Schrift(en), die nach Martauschs, wie kostbar sind
ist gefragt.
tin Luther „von unenddie dabei sich ergebenden
licher Einsicht“ ist bzw.
persönlichen Begegnunsind, bleibt. Biblische Texte predigen setzt
gen und Gespräche, wer erlebte sie nicht
ihr geduldiges Lesen voraus, zuerst in eischon als überraschend anregend, ermutiner vertrauten Übersetzung, um dann
gend, aufbauend („consolatio fratrum et soPfarrvereinsblatt 7-8/2016
295
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 296
durch Vergleich mit anderen Übersetzunreden, einmal ganz abgesehen von peingen tiefer in sie einzudringen. Im Theololichen Trivialisierungen . Für einen Mangel
giestudium lernen wir Hebräisch und Griehalte ich es, dass auch in der neuen Perichisch, Latein bringen viele schon aus der
kopenrevision immer noch viel zu wenige
Schule mit. Es ist schwer, in den heutigen
alttestamentliche Predigttexte vorkommen.
Anforderungen eines Pfarramtes, in den
Sehe ich es richtig, dass wir in unseren
biblischen Sprachen
Predigten oft auffalDas Allerschwerste beim Predigen
heimisch zu bleiben.
lend allgemein von
sehe ich in der Art und Weise,
Aber sie ermöglichen
Gott sprechen, ohne
wie wir von Gott reden.
einen Zugang zum
Bezug auf den Gott
„Original“ sowie die
Israels, JHWH, den
Übersetzungen kritisch zu sichten. Denn
Gott Abrahams, den Gott Isaaks und den
jede Übersetzung ist Interpretation, und
Gott Jakobs, seine Geschichte mit seinem
ein Vergleich mit dem Urtext gibt zu erkenVolk, mit dem wir als christliche Kirche keinen, welche exegetischen Entscheidunneswegs identisch sind oder an dessen
gen sie bestimmen, da der originale Text
Stelle als das „neue Israel“ rückten.84 Um ein
Beispiel zu nennen:
nicht selten uneindeutig ist und unsere
Übersetzungen diesen oft glätten. BeIm Predigttext Epheser 2,17-22 (leider ohne
sonders die über zweitausend Jahre alten
die dazu unverzichtbaren Verse 11-16)85
Texte der Bibel Israels, der Bibel Jesu, das
zum diesjährigen 2. So. n. Trinitatis /
„Alte / Erste Testament“ unserer christ5.06.2016 werden die „Heidenchristen“ an
lichen Bibel, stellen z. T. vor große Textprodas Einst und Jetzt ihres Lebens erinnert.
bleme, schon die griechische Übersetzung
Vers 11 wird meist so ausgelegt, dass nur
der Hebräischen Bibel hatte ihre Übersetdiejenigen angesprochen sind, die in der
zungsschwierigkeiten und weicht in zahlVergangenheit Heiden waren, so auch in
reichen Fällen von dem uns vorliegenden
den meisten Übersetzungen. Jedoch sind
masoretischen Text ab, ganz abgesehen
die Adressaten all die Menschen, die nach
davon, dass es schon innerhalb der Bibel
wie vor zu den „Völkern / Heiden“, d. h.
Auslegung gibt, was leicht übersehen wird.
Nicht-Israeliten, gehören, wie es der grieDa es sich bei einem Predigttext um eine
chische Wortlaut ergibt: „ihr, die ihr zu den
„Perikope“ (= „rings umhauenes Stück“!)
Völkern gehört“ (Prähandelt, ist die FraAuch in der neuen Perikopenrevision sens!) „und Unbege nach dem weitekommen immer noch viel zu wenige schnittene“ genannt
ren biblischen Zualttestamentliche Predigttexte vor.
werdet“ (Präsens!).
sammenhang, in
Übersetzungen wie
dem der Textab„ihr, die ihr von Geburt einst Heiden w a r t
schnitt steht und innerbiblisch weiterbeund Unbeschnittene genannt w u r d e t“,
dacht, „fortgeschrieben“ wird, unerlässlich.
können sich nicht auf den griechischen
Wortlaut berufen.86 Dies bedeutet mit HelDas Allerschwerste beim Predigen sehe
mut Gollwitzer: „Christsein heißt: als Nichtich in der Art und Weise, wie wir von Gott
296
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 297
jude am Bürgerecht der Juden teilhaben
ein, und nehmen wir in unseren Predigten
dürfen, ... mit den Juden im Gottesbund ledie aspektreichen Gottesbilder der Bibel,94
87
besonders des Alten / Ersten Testaments,
ben und arbeiten zu dürfen“.
Jesus Christus hat die Völker/ die Nicht-Jugenügend auf, um uns davon gedanklich
den mit dem Gott Israels verbunden, mit
und sprachlich inspirieren zu lassen, und
dem das Volk Israel schon immer verbunwahren wir in alledem etwas von dem „Geden ist.88 Heinz Kremers bringt es auf den
heimnis Gottes“? Lernen möchte ich von
Punkt, wenn er auf die für Juden und Nichtder Scheu der Juden, die den GottesnaJuden verschiedene Bedeutung Jesu hinmen nicht aussprechen, sondern nur umweist: „Für Juden tut er [Jesus] einen Dienst
schreiben. Immer formelhafter und blasser
im Rahmen ihres Bundes. Und für die Heierscheint mir die oft permanente (An-)Reden ist er der Jude, der sie zum Gott Israels
de „Herr“ in Gebet und Predigt.
bringt“.89 Darum sind wir als Christinnen und
Christen „Hineingebrachte“ in Gottes Bund
Zur Problematik der allgemeinen Rede
mit Israel. Christlichen Glauben gibt es nicht
von Gott kommt ihre Dominanz gegenüam Gottesvolk Israel vorbei. Noch einmal
ber der Rede von Jesus in Predigten, die
Heinz Kremers: Christlichen Hoffnung ist
ich heute höre und lese, sowie beider un„die Hoffnung der Nichtjuden, der ‚Gojim‘,
verbundenes Nebeneinander oder Identidaß sie auch dabei sein dürfen, wenn Israel
fikation,95 meist in der parataktischen Formulierung „Gott, Jesus“. Die christliche
vollendet wird – wenn der Messias kommen
Rede von Gott geschieht dann beziewird“.90 Hat unsere christliche Lehre oft nicht
das Gegenteil behauptet
hungslos wie losgerissen
und damit die „ZwischenEs ist notwendig zu sagen,
von Jesus, dem Christus
wand“ (Vers 14) wieder
was wir meinen, wenn wir
/ Messias (!), und die Reaufgerichtet, die Jesus
von Gott sprechen.
de von Jesus bezievon Nazareth „gelöst“ hat?
hungslos wie losgerissen
von JHWH, dem Gott Israels.96 Durch Martin Luthers Ausspruch „nihil nisi Christus
Bezugnehmend auf das liturgische Votum
praedicandus“ ist JHWH eben „nicht aus„Im Namen des Vaters und des Sohnes
gelöscht, sondern zu Ehren gebracht“.97
und des Heiligen Geistes“ umschreibt R.
91
Predigt ist darum „praedicatio“ Seines NaBohren Predigt als „Namenrede“, sie predigt den Namen JHWHs, der der Vater Jemens, in diesem ist das ganze, Israel und
su ist, in der Kraft des Heiligen Geistes, der
mit ihm den Völkern zugedachte, Heil prävon Gott und Jesus92 ausgeht. Darum ersent. Jene Frage „Was soll ich predigen?“
scheint es mir heute angesichts diffuser
blieb nicht ohne Antwort, eine Antwort mit
Gottesbilder93 notwendig zu sagen, was wir
einem gewichtigen „Aber“, das jedem
meinen, wenn wir von Gott sprechen.
Zweifel trotzt: „ … aber das Wort Gottes98
bleibt ewiglich“.99
Beziehen wir dabei die Geschichte Gottes
❚ Heinz Janssen, Neckargemünd
mit Israel, seinem Volk, und durch dieses
[email protected]
mit den Völkern theologisch angemessen
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
297
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 298
1 Jesaja 40,6 / Übersetzung Martin Luther 1545.
2 A. Grözinger, Was ist das – eine Predigt?, in:
Pastoralblätter. Predigt – Gottesdienst – Seelsorge –
Die Praxis. 146. Jg., Stuttgart 2006, 73-77.
3 Badische Pfarrvereinsblätter. Mitteilungsblatt des
Evangelischen Pfarrvereins in Baden e.V., 5/2016, 158.
4 Heinz Janssen, Berührungspunkte. Worte der Bibel ins
Heute gesagt. Saarbrücken 2011; ders., Gottes Wort und
Menschenwort. Lesen – Hören – Weiter sagen. Saarbrücken 2012. Vgl. meine Predigten sukzessive aus den
Jahren 1996-2016 in: Pastoralblätter. Predigt und Seelsorge in der Praxis, hg. v. Hans-Georg Lubkoll, später v.
Gerhard Engelberger mit neuem Untertitel (s.o., Anm. 2),
sowie in den Lesepredigten www.predigtvorlagen.de, hg.
v. EOK Stuttgart, und in den Predigtportalen: Göttinger
Predigten im Internet www.predigten.uni-goettingen.de;
offene Predigtdatenbank predigten.de; www.online-predigten, seit 2016: www.predigten.evangelisch.de, hg. v.
Kathrin Oxen, begr. v. Isolde Karle, Christoph Dinkel und
Johannes Neukirch; Heidelberger Predigt-Forum
www.predigtforum.de, hg. v. Heinz Janssen.
5 Vgl. Peter Haigis: Ministerium verbi divini. Theologische
Überlegungen zum Pfarrerleitbild (als pdf: pfarrerverband.de/download/vortrag_24012011_pfarrerleitbild.pdf).
6 CA XIV, vgl. CA V.
7 Übersetzung Martin Luther 1545.
8 Nach Martin Luthers Bibelübersetzung steht das Wort
„predigen“ für den so besonders im Alten Testament weiteren Sinn „rufen, sprechen, als Bote / Botin (das ihnen
von Gott aufgetragene „Wort Gottes“) verkünden. Im
Neuen Testament begegnen für „predigen“ / „Predigt“
mehr als dreißig Wendungen (Rudolf Bohren, Predigtlehre. München 1971, 51, mit Hinweis auf Gerhard Friedrich,
ThW III, 702).
9 Nach Henning Luther, der die Predigt im Sinne der sog.
Sprechakttheorie (J. L. Austin) beschreibt, „scheint die
viel beklagte Wirkungslosigkeit der Predigt … ein Resultat der Unklarheit des Predigers darüber zu sein, mit welcher … Absicht er eigentlich redet“ (zit. in Anm. 2 Beitrag
von A. Grözinger, 75).
10 Philipp Müller, Predigt ist Zeugnis. Grundlegung der
Homiletik. Freiburg i. Br. 2007.
11 Nach wie vor lesenswert das im Jahre 1992 erschienene
Buch des ehemaligen Bischofs unserer Evangelischen
Landeskirche in Baden, Hans-Wolfgang Heidland: Das
Ende der Predigt? Eine selbstkritische Dokumentation.
Göttingen 1992. – Das Buch enthält 27 (von ca. 70) Predigten aus H.-W. Heidlands zweijähriger Dienstzeit als
Gemeindepfarrer in Kandern (1980-1982), nachdem er
im Alter von 68 Jahren aus dem Bischofsamt schied. Mir
ist keine Predigtsammlung bekannt, wie sie H.-W. Heidland hier im „Dreischritt von Information, Dokumentation
298
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
und Reflexion“ (18) bietet. Die „Information“ enthält „einige Angaben über den betreffenden Gottesdienst und die
Lage der Gemeinde“, die „Dokumentation“ die Predigt,
die „Reflexion“ die eigene Predigtkritik (18).
Karl Barth, Wesen und Vorbereitung der Predigt.
Nachschrift des homiletischen Seminars „Übungen in der
Predigtvorbereitung“ im WS 1932 und SoSe 1933 in
Bonn, besorgt von Günter Seyfferth, 1966 und Zürich
1970.
„Einführung in die evangelische Theologie“, Basel, WS
1961/62 (= Karl Barth, Einführung in die evangelische
Theologie, Zürich 1962, 21963).
Wolfgang Trillhaas, Evangelische Predigtlehre,
München 1935, 5(neubearb.)1964, vgl. ders., Einführung in
die Predigtlehre, WBG Darmstadt 1974 (= 21980).
Dietrich Bonhoeffer, Finkenwalder Homiletik. HalbjahrsSeminar-Vorlesung zwischen 1935 und 1939. Dieses
Scriptum ist aus Nachschriften verschiedener Kurse vom
Hg. Eberhard Bethge zusammengestellt, in: D. Bonhoeffer, Gesammelte Schriften IV, hg. v. E. Bethge, München
1961, 237-289.
Rudolf Bohren, Predigtlehre. München 1971, (folgend
zit.: R. Bohren, PL …).
W. Schütz, Probleme der Predigt, Göttingen 1981
(= Dienst am Wort 41). „Homiletik ist nichts anderes als
ein gegenseitiges, methodisches und theologisches Gespräch von Predigern über ihre gemeinsame Aufgabe …
Eine abschließende Antwort darf man dabei nicht erwarten; das Gespräch soll ja weitergehen, es darf nicht erlahmen und abbrechen.“ (15f.)
Gerd Theißen, Zeichensprache des Glaubens. Chancen
der Predigt heute. Gütersloh 1994.
Albrecht Grözinger, Homiletik, Gütersloh 2008 (Lehrbuch
praktische Theologie, Bd. 2). A. Grözinger betont den
„kulturwissenschaftlichen Aspekt der Homiletik“, fokussiert die „homiletischen Fragestellungen auf die Situation
des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus unserer Gegenwart“, und er reflektiert „die Bedeutung der
Sprache für eine zeitgenössische Predigt“ (8).
Gerhard Rau, Pastoraltheologie. Untersuchung zur
Geschichte und Struktur einer Gattung praktischer Theologie. München 1970 (Studien zur Praktischen Theologie,
Nr. 8). Ein Hinweis auch auf die Pastoraltheologie von
Manfred Josuttis, meinem ersten Lehrer in Homiletik,
dessen erstes homiletisches Seminar ich als Student in
Göttingen besuchen konnte: Die Einführung in das Leben. Pastoraltheologie zwischen Phänomenologie und
Spiritualität. Gütersloh 1996.
Ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen, die als
Autorinnen und Autoren an meinem Projekt „Heidelberger Predigt-Forum“, www.predigtforum.de, mitarbeiten
und mit mir am Thema der Predigt bleiben.
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 299
22 R. Bohren. PL 24, vgl. ders., Zur Definition der Predigt, in:
Theologie zwischen Gestern und Morgen. Interpretationen und Anfragen zum Werk Karl Barths, hg. v. Wilhelm
Dantine und Kurt Lüthi. 1968, 125ff.; ders., Reformatorische und neuprotestantische Definition der Predigt, in:
EvTh 31 (1971), 1ff. (Eine Gegenüberstellung der Definitionen von Heinrich Bullinger und Emanuel Hirsch); Johannes Schreiber, Art. Predigt, in: PrThH, 400f. (zum
Problem der Predigtdefinition).
23 R. Bohren, PL 51.
24 R. Bohren, PL 51.
25 R. Bohren, PL 56.
26 R. Bohren, PL 56.
27 Traditionell seit Alexander Schweizer (1848: Homiletik
der evangelisch-protestantischen Kirche, systematisch
dargestellt) „Prinzipielle Homiletik“.
28 Der erste (65-155), dritte (343-440) und vierte Schritt
(441-553) umfassen jeweils ca. 100 Seiten, der zweite
mit ca. 200 Seiten die fast doppelte Seitenzahl (159-342).
29 Zu Rudolf Bohrens Predigtlehre vgl. Jantine Marike
Nierop, Die Gestalt der Predigt im Kraftfeld des Geistes.
Eine Studie zu Form und Sprache der Predigt nach Rudolf Bohrens Predigtlehre, Homiletische Perspektiven
Bd. IV, hg. v. Heye Heyen und Gottfried Bitter, 2008 (als
pdf abrufbar: https://openaccess.leidenuniv.nl/bitstream/handle/1887/4981/Thesis.pdf?sequence=18). Martin Nicol würdigt R. Bohrens Predigtlehre: „Bis heute hat
keine Predigtlehre wieder vermocht, Theologie und homiletisches Handwerk zu einem ähnlich geschlossenen,
ähnlich inspirierenden Entwurf zu verknüpfen“, und er
fragt, „ob nicht in der aktuellen Situation Rudolf Bohrens
Predigtlehre unter neuem Vorzeichen einzuholen wäre“,
J. M. Nierop nimmt diese Fragestellung in ihrer o.g.
Dissertation auf.
30 R. Bohren, PL 56.
31 In der traditionellen Homiletik geht es dabei um die
„Predigt als Rede“, d. h. um ihre sprachliche Gestaltung.
32 In der traditionellen Homiletik: (Bibel-)Text und Predigt.
33 R. Bohren, PL 58f., nennt in diesem Zusammenhang
Alexander Schweizer und Albert Schädelin.
34 R. Bohren, PL 58f.
35 Martin Luther, WA 49, 74,26.
36 D. Bonhoeffer, Finkenwalder Homiletik, 287-289.
37 D. Bonhoeffer, Finkenwalder Homiletik, a.a.O., 288f.
38 Stefanie Wöhrle, Predigtanalyse. Methodische Ansätze –
homiletische Prämissen – didaktische Konsequenzen. LIT
Verlag Münster 2006 (Homiletische Perspektiven, Bd. 2).
39 Helmut Schwier, Sieghard Gall, Predigt hören. Befunde
und Ergebnisse der Heidelberger Umfrage zur Predigtrezeption. Berlin, Münster: LIT Verlag, 2008 (Heidelberger
Studien zur Predigtforschung, Bd. 1): 135f.
40 Vgl. Albrecht Grözinger, Predigt und Kanzel als
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
55
56
57
58
59
60
61
62
63
Erinnerungsort, in: Pastoralblätter …, 153.Jg., 2013, 592596. A. Grözinger bezieht sich dabei auf Christoph Markschies / Hubert Wolf (Hg.), Erinnerungsorte des Christentums. München 2010.
CA VII: „communio sanctorum“.
Dtn 26,1-11 („kleines geschichtliches Credo“, G. v. Rad);
Psalm 103,8 („Barmherzig und gnädig ist JHWH …“);
Psalm 136 („ … denn / ja seine Güte währet ewiglich“);
Lukas 1,54f. („ER gedenkt an seine Barmherzigkeit …“).
So der gleichnamige Titel des Buches von Eberhard
Jüngel. Tübingen 31978.
Vgl. Nehemia 7,72-8,12.
A. Grözinger, a.a.O., 595.
Der Heidelberger Katechismus, Frage 1.
A. Grözinger, a.a.O., 595.
W. Schütz, Probleme der Predigt, 56-58.
Nonnenweier (heute: Ortsteil von Schwanau).
Klaus Baschang, Pastbl., 144. Jg., 2004, S.778-782: 778,
hebt in diesem Zusammenhang im Hinblick auf den gesamten Gottesdienst die Bedeutung des „Sakristeigebetes“ für die Bitte um den Hl. Geist hervor.
Dies bedeutet vice versa, dass selbst meine
schlechteste Predigt kraft des Hl. Geistes das Wort Gottes zu Gehör bringen und heilsam wirken kann. Was
mich aber nicht – um dem Wirken des Hl. Geistes nicht
im Weg zu stehen (!) – davon abhalten soll, mich um Gottes und der Menschen willen bestens vorzubereiten.
Vgl. die frühere (umgangssprachliche?) Bezeichnung
„Hersag(e)Sonntag“ für die Konfirmandenprüfung, es
ging um ein „Hersagen“ aus der Bibel und dem sie auslegenden Katechismus und dem Gesangbuch.
So z. B. Ex 24,7; Dtn 17,19; Jer 36; Hab 2,2;
Neh 8,3.8.18; 9,3; 2Chro 34,18.
Claus Westermann, BK I/1, 437.
Exodus 33,19; 34,5 (mit JHWH als Subjekt); Jesaja 12,4;
Psalm 105,1; zur hebr. Wendung qr‘ beschem JHWH s.
die hebr. Lexika.
Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in
deutscher Übersetzung, hg. v. W. Kraus und M. Karrer,
Stuttgart 2009.
S. hebr. Lexika.
Zitiert bei C. Westermann, BK I/1, 438.
Exodus 3f.
C. Westermann, BK I/1, 460-463.
S.o. Anm. 14.
Vgl. Das Buch Gottes. Elf Zugänge zur Bibel. Ein Votum
des Theologischen Ausschusses der Arnoldshainer Konferenz. Neukirchen-Vluyn 1992; Manfred Oeming, Biblische
Hermeneutik. Eine Einführung, WBG Darmstadt 42013.
1.Petrus 3,15f.: „Seid allezeit bereit zur Verantwortung
vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist, und das mit Sanftmut und Gottesfurcht …“
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
299
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 300
64 Rev. Elberfelder Bibelübersetzung (1993).
65 R. Bohren, PL 151.
66 Kriterien sind nicht nur philologische und literarhistorische, sondern auch zeit-, religions- und kulturgeschichtliche Hintergründe, die sich in einem Bibeltext
spiegeln, oft aber schwer zu ermitteln sind und hypothetisch bleiben.
67 Vgl. immer noch lesenswert: Ernst Bizer, Fides ex auditu.
Eine Untersuchung über die Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes durch Martin Luther. Neukirchen Kr. Moers
1958 (21960).
68 S. griech. Lexika.
69 Zur Einsicht in notwendige Korrekturen gehört die
Sensibilät für gravierende Fehler, welche die Kommunikation zwischen Prediger bzw. Predigerin und Gemeinde
empfindlich stören. In seiner oben genannten Predigtlehre bietet R. Bohren einen ziemlich ungemütlichen, aber
schließlich heilsamen „Lasterkatalog für Prediger“ (§ 23,
402-422), er beschränkt sich dabei „auf Laster, die der
Prediger möglicherweise mit seinem Beruf und Stand
übernimmt“, m.a.W. auf „Untugenden des Berufs“ (402),
zu diesen gehören (ich nenne die nach meinem subjektiven Empfinden wichtigsten): über das Evangelium predigen statt das Evangelium predigen – Weitschweifigkeit,
sie wird meist durch Adjektive verursacht und verbreitet
Langeweile (R.B., 404, zitiert Gottfried Benn und seinen
Rat: „Streichen Sie die Adjektive“) – Geschwätzigkeit
(R.B., 405f., zitiert Kurt Tucholsky: „Merk Otto Brahms
Spruch: Wat jestrichen is, kann nicht durchfalln“) –
Selbstgefälligkeit (nicht zu verwechseln mit Selbstbewusstsein): „Doxologie wird zur Kauchesis, Gotteslob
durch Eigenlob ersetzt“ (R.B., 406) – Gefallsucht, „den
Menschen gefallen zu wollen“, vgl. Galater 1,10: „Wenn
ich noch Menschen gefällig sein wollte, wäre ich nicht
Christi Knecht“, 1Thessalonocher 2,4: So reden wir nicht,
um Menschen zu gefallen, sondern Gott“, (R.B., 406).
70 Ich vermeide bewusst den geläufigen Begriff
„Gegenlesen“, weil es in der oben beschriebenen Praxis
um ein „Mit“ und nicht um ein „Gegen“ geht.
71 Ein Stichwortkonzept halte ich nur dann für sinnvoll,
wenn es auf der ausformulierten Predigt basiert.
72 Mit D. Bonhoeffer, Finkenwalder Homiletik.
73 R. Bohren, PL 60. Es geht um einen reflektierten und
kritischen Umgang mit der Predigtsprache, PL 61: „Ohne den
Unterschied von Schreiben und Sprechen zu verwischen,
empfiehlt sich für den Prediger das Gespräch mit einer Berufsgruppe, die sich wie keine andere um die Sprache müht“.
74 Philipper 3,12.
75 Z. B. Göttinger Predigtmeditationen (GPM).
76 Schon lange begleiten mich die Worte von Rudolf Smend
über die Bibliotheken füllenden Arbeiten zur Bibel: „Der
einzigartige Gegenstand … setzt auch die an ihm geleis-
300
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
77
78
79
80
81
82
83
84
tete Arbeit in eine besondere Verantwortung und Würde“
(in: Die Entstehung des Alten Testaments. Stuttgart4
1989 (ThW Bd. 1), S.12 / 5(neubearb. u. erw.)) 1995.
Vgl. Christian Möller, Seelsorglich predigen. Die parakletische Dimension von Predigt, Seelsorge und Gemeinde.
Göttingen 1983.
S.o., Anm. 10.
Kommunikation des Evangeliums in der digitalen Gesellschaft. Lesebuch zur Tagung der EKD-Synode vom 9. bis
12. November 2014 in Dresden (aktualisierte Auflage,
März 2015, als pdf: http://www.ekd.de/synode2014/
schwerpunktthema/lesebuch/index.html.
Zum besonderen Profil des Heidelberger Predigt-Forums
(online seit 1.Advent 2002), www.predigtforum.de, gehört
es, dass die Autorinnen und Autoren ihren ausgearbeiteten Predigten exegetisch-homiletische Hinweise beifügen, welche den Lesenden Einblicke in die „Predigtwerkstatt“, in die Zugänge und Fragestellungen, ermöglichen
und ihnen Impulse für die eigene Arbeit am Bibeltext und
ihrer Predigt geben. Das Predigtportal versteht sich als
offener und weiter Raum, in dem alle im kirchlichen Predigtdienst engagierten beruflichen und ehrenamtlichen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter andere an ihrer Predigtarbeit teilnehmen lassen, dadurch einander anregen und
ermutigen, im Sinn des griechischen Wortes mathaetaes
/ „Schüler“, das Martin Luther mit „Jünger“ (Jesu) übersetzt, immer im „Dienst am Wort“ zu bleiben. - Eine ausführliche Erklärung der Konzeption des Heidelberger
Predigt-Forums findet sich auf www.predigtforum.de sowie in verschiedenen Beiträgen im Deutschen Pfarrerblatt.
„Die Debatte der vergangenen Jahrzehnte hat das
Problem Text – Predigt als ungelöstes hinterlassen“, vermerkt R. Bohren, und er wollte es einer Lösung zuführen,
PL 59.
Vgl. z. B. Thomas Nisslmüller, Homo audiens. Der Hörakt
des Glaubens und die akustische Rezeption im Predigtgeschehen. Göttingen 2008. Der Autor widmet sich einer
noch wenig erforschten „auditiven Ästhetik“, die den Predigthörenden in den Blick nimmt, beleuchtet aus theologisch-philosophischer, pychologischer und ästhetischer
Perspektive die verschiedenen Facetten des Hörens und
zeigt „ein Forum von Hörqualitäten“ auf.
Solche beklagt Markus Beile mit beachtenswerten
Hinweisen auf einige wichtige „Problemhorizonte“ des
Redens von Gott in seinem Diskussionsbeitrag: Mit Gott
auf du und du. Die Rede von Gott in heutigen Predigten.
In: DtPfrBl. 116 (2016) 348-350. Vgl. a.a.O., 332-334.
Exodus 3,6; Römer 9-11. Vgl. nach dem seit 1960 Beginn
des jüdisch-christlichen Dialogs den Rheinischen Synodalbeschluss 1980, dem bald darauf Landessynode unserer Badischen Landeskirche folgte.
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 301
Thema
85 Vgl. dazu die hervorragende Predigtmeditation von
Volker Haarmann, in: GPM 70(2016) 318-323.
86 Darum bin ich auf die Revision 2017 der Übersetzung
Martin Luthers gespannt, ob sie Epheser 2,11 revidiert
und dem griechischen Bibeltext gerecht wird.
87 Unvergesslich ist mir Helmut Gollwitzers Bibelarbeit über
Epheser 2,11-19 beim Evangelischen Kirchentag in Hannover, an dem ich als Theologiestudent teilnehmen konnte. In: Friedebert Lorenz (Hg.), Der Friede Gottes und der
Friede der Welt. Biblische Verkündigung beim 13. Deutschen Evangelischen Kirchentag Hannover 1967.
Stuttgart 1967, 23-32.25.
88 Vgl. Hans-Christoph Goßmann, Teilhaber des Segens.
Warum das Judentum für uns Christen so wichtig ist. In:
DtPfrBl. 116 (2016) 348-350. Vgl. a.a.O., 332-334.
89 Heinz Kremers, Der Beitrag des Neuen Testaments zu
einer nicht-antijüdischen Christologie, in: Adam Werner
(Hg.), Liebe und Gerechtigkeit. Gesammelte Beiträge
von Heinz Kremers, Neukirchen 1990, 121-133: 127. Vgl.
Römer 15,8: „Christus ist ein Diener der Juden geworden“.
90 H. Kremers, a.a.O., 130.
91 R. Bohren, PL 91.
92 Filioque!
93 Nicht selten werden fragwürdige Gottesbilder auch in den
Medien transportiert, z. B. in Talkshows.
94 Gott als Vater, Mutter (Jesaja 66,13, Jahreslosung 2016),
Bärin, Löwe, Licht, Fels, Quelle etc., vgl. M. Beile, a.a.O., 350.
95 Man betrachte das unter diesem Gesichtspunkt
theologisch, auch christologisch, höchst problematische
Lied „Freut euch, wir sind Gottes Volk“ (EG, Regionalteil
Baden, Elsass und Lothringen, Pfalz, 611), vgl. Albrecht
Lohrbächer, Helmut Ruppel, Ingrid Schmidt (Hg.), Was
Christen vom Judentum lernen können. Anstöße, Materialien, Entwürfe. Unter Mitarbeit von Jörg Thierfelder,
Stuttgart 2006.
96 Vgl. R. Bohren, PL 91.
97 R. Bohren, PL 92, und: „Der Hauch von Unmöglichkeit
und Unwirklichkeit, der vielen Osterpredigten anhaftet,
dürfte im Vergessen Jahwes seinen Grund haben. Verleugnet wird die Auferstehung in diesem Fall nicht so
sehr in ihrer Bestreitung, als vielmehr in ihrer Isolierung“.
98 Das Wort Gottes ist JHWHs Offenbarung in ihrer weltumspannenden und, „nachdem Gott vorzeiten vielfach und
auf mancherlei Weise geredet hat“ (Hebräer 1,1,), das
Christusgeschehen umfassenden Gesamtheit.
99 Jesaja 40,6-8.
Wenn es irgend geht:
Herzhaft predigen!
❚ Ausgehend von Beobachtungen zur
spirituellen Erfahrung Jesu plädiert
Pfarrer i.R. Martin Auffarth für eine Abkehr
vom eher diskursiven Predigen und für ein
aus dem Herzen kommendes Predigen,
das Predigende und Hörer „hinter die
Worte“ führt. An zwei Beispielen aus
seiner Wort-Werkstatt beschreibt er sein
Anliegen praxisnah.
Was ist die Frage,
was die Ausgangslage?
Stefan ist ein Lausbub, ein sympathischer obendrein. Immer wieder bringt er
Bewegung in die Gruppe. Manchmal zu
viel Bewegung, zugegeben. Heute sind
wir dran, „über“ Gott zu reden. Noch haben wir kaum etwas dazu gesagt, kaum
etwas dazu gelesen, da haut er diesen
Satz raus: „Zu Mose hat er gesprochen,
zu Maria, zu Martin Luther King und ein
paar anderen auch. Zu mir nicht. Also
glaube ich nicht an Gott“. Ups, dieser Satz
sitzt. Bei allen in der Konfi-Runde. Ich bin
sprachlos. Was soll ich auf die Schnelle
sagen? Ein paar dogmatische Formulierungen? Genügt der Hinweis, die Bibel sei
Gottes Wort? Würde er sich damit zurecht
finden, sich gar umstimmen lassen?
Irgendwie kriegen wir die Situation doch
noch hin. Aber, was dieser sympathische
Lausbub sagt, das arbeitet in mir. Davor
schon. Und auf die Dauer meines Lebens.
Vor und in jedem Gottesdienst und wo
auch immer: Zu jedem scheint Gott gesprochen zu haben. Aber auch zu mir?
Auch zu uns?
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
301
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 302
Was ist eine spirituelle Erfahrung?
Kommentierung. Zuweilen ist es schon
Und wie kommt sie zu Wort?
heftige Dogmatisierung und holzschnittarWir gehen davon aus, dass Jesus innetige Systematisierung dessen, was der
re Erfahrungen erlebt, die er in seiner
Meister zum Ausdruck hat bringen wollen.
Weise in Worte formt,
Evangelien entstehen
die er als Heiler aus
mit ihren jeweiligen
„Zu Mose hat er gesprochen,
sich heraus wirken
Intentionen. Indem
zu Maria, zu Martin Luther King
lässt, die Jesus in eine
das Christentum zur
und ein paar anderen auch.
Handlungsweise der
staatstragenden ReliZu mir nicht. Also glaube ich
auffälligen Weise umgion wird, setzt eine
nicht an Gott“.
setzt. Wir fragen: Was
große Welle der doggeschieht da in ihm? Wohl etwas sehr Feimatischen Lehrsätze ein. Das Ganze wird
nes, in Worte – eigentlich – nicht zu fasschließlich in eine Volksreligion transfesen. Eine vor-sprachliche Erfahrung, wie
riert. Was hier einen kompletten Werdewir dann sagen. Vielleicht fast zu fein, zu
gang hinter sich hat, muss hinterfragt werfremd, zuweilen zu überwältigend. Ein
den: Ist das, was wir heutzutage hören, leWort könnte diese innere Erfahrung platsen, weiter geben möchten, noch idenzen lassen wie eine Seifenblase, deren
tisch mit der inneren, der sehr feinsinniSchönheit für Momente aufscheint.
gen, auch für Jesus fast kaum wahrnehmIrgendwann will es aber doch gesagt sein.
baren Erfahrung?
Was innen ist, will, muss nach außen. Es
Ich schildere dies deswegen so ausführdarf, es kann nicht verborgen sein. Auf
lich, weil uns hier eine Grundaufgabe
Dauer.
des Predigens vorgelegt wird: Wie komIn der Weise der alttestamentlichen Promen wir vom heutigen Stand der Überliepheten – formt er das Erlebte in Reime
ferung einigermaßen deutlich an diese
und rhythmische Worte. Er verdichtet das
innere Erfahrung heran – und was sie in
Geschehen. Gibt dem – eigentlich - nicht
Jesus auszulösen vermag? Darüber hinzu Benennenden ein Wort. Darüber hinaus ist das Aramäische seine Mutteraus gehend sind es heilige, göttliche
sprache. Diese eher erzählende SpraWirkkräfte, die in sein Bewusstsein komche wird in eine völlig anders tickende
men, das er das eine Mal im Jüngerkreis
griechische – eher digitalisierende, deweiter gibt, dann in aller Öffentlichkeit.
terminierende – Sprache übersetzt. Von
Weil Poesie und Rhythmus, ist es für
da aus in ein wiederum anders tickendes
Menschen leicht, das Gehörte mündlich
deutsches Sprachvermögen. Gegen den
weiter zu geben.
Strich gebürstet muss man fragen: Was
ist denn, zum Beispiel bei den EvangeliWir kennen die Vorgänge: Das Mündliche
en, der Ur-Text? Das griechische Neue
wird verschriftlicht und dabei mit kleinen
Testament? Ich behaupte: Bestimmt
Kommentaren versetzt. Man meint, die
nicht. Wenn, dann ist es der Übergang
Leserin oder der Leser bräuchten diese
von der inneren existenziellen Erfahrung
302
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 303
Jesu hin zu den Worten seiner aramäi„Barmherzig“ zum Beispiel heißt im heschen Muttersprache. Über all dieses
bräischen Original: Rachamim, zusamhinaus geht es um eine wirkmächtige Urmen gesetzt aus Mayim – das sind die Urkraft, die sich im Inneren
wasser, über denen (laut
eines Menschen zeigt und
Schöpfungslied Genesis 1)
Wie kommen wir vom
aus dem Inneren nach
heutigen Stand der Über- der Geist schwebt - und reaußen zu drängen sucht.
chem, das ist das Wort für
lieferung einigermaßen
Was heißt dies für das Sudeutlich an diese innere Mutterschoß oder allgechen der Worte, die sich
meiner: Unterleib. Wir könErfahrung heran –
zu gottesdienstlichen Texnen dieses Wortbild also
und was sie in Jesus
ten verdichten?
so übertragen: „Was Moauszulösen vermag?
ment passiert, dreht uns
Wie können wir diese
die Gedärme um. Wir sind in unseren tiefperformativ darstellen?
sten (Mit-) Gefühlen und körperlich spürbar angerührt“. Jetzt sind wir – über jedes
Die Karte ist nicht die Landschaft
denkerische und substantivierende VerWorte können zum Gefängnis für das
mögen hinaus – nahe dran an einem Gewerden, was sie eigentlich meinen. So in
schehen und den Wirkkräften, die im Geetwa drückt es St. Exupéry aus. Weil sie
schehen mächtig sind. Jetzt sind wir naheetwas einfangen, etwas hinter Gitter nehzu überwältigt. Jetzt finden wir fürs Predimen, in eine Form zu bringen suchen, die
gen Beispiele aus der weiten Welt, der eider ursprünglichen Erfahrung kaum zu
genen Mit-Welt oder der Selbsterfahrung.
entsprechen vermag. Die Karte ist eben
Jetzt kommen wir an dieser Situation nicht
nicht die Landschaft. Der Quantenphysidran vorbei, jetzt verlangt sie eine Antwort.
ker David Bohm hat sich vielfach mit
Und wenn und weil Gott barmherzig ist,
Sprache auseinander gesetzt: Sie sei zu
wie es heißt bis in 1.000 Generationen
sehr objektorientiert, substantivierende
hinein, dann nimmt er heftigen Anteil an
Sprache. Sie gäbe damit eine Wirklichdem, was unter uns geschieht. Ja mehr
keit wieder, die wie eingefroren, kalt und
noch: Er entwickelt eine Beziehung, wie
statisch sei. Weil (quantenphysikalisch
sie eine Mutter (und auch Väter) zu dem
betrachtete und damit jede) Wirklichkeit
Leben entwickeln, das im Mutterleib im
aber fließe, sich ständig bewege und
Entstehen ist. Spüren wir, wie anders das
transformiere, entsprächen Verben weit
ist, als das nüchterne Adjektiv „barmhereher der Wirklichkeit, können mitnehmen
zig“? Wie wir in eine Empathie gehen, die
und Realitäten oder Personen verän– reinmenschlich und personal gesprodern, transformieren.
chen, Gott uns vorlebt? Wie hinter die
Worte kommen? Wie wir ihre dahinter sich
Wort-Bilder predigen lassen
zeigenden Wirkkräfte erspüren? Wie wir
Glücklicherweise liefern sowohl das
nicht die Karte beschreiben, sondern uns
Hebräische wie auch das Aramäische
mitten in der Landschaft befinden. Denn
wunderbare Sprachbilder.
wenn wir dies selber erleben, davon
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
303
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 304
berührt sind, dann können wir in einer anWort „meta-noein“ bedeuten: Über jedes
deren Sprachmächtigkeit reden. Dann
Denken hinaus gehen? Und steht nicht
berühren wir Herzen. Weil wir uns selber
genau dieses griechische Wort auch
berühren lassen und
in der griechischen
Jetzt sind wir nahe dran an einem Übersetzung des Aldies in Worte zu fasGeschehen und den Wirkkräften,
sen suchen. Und verten Testaments an der
die im Geschehen mächtig sind.
mögen.
Stelle, wo es heißt,
Mose „geht über die
Ist das Predigen? Nahe heranführen an
Steppe hinaus“. Mit dem Sinn, dass er
die Landschaft, so dass Menschen sich
über die Grenzen seines Bisherigen hinvon der Kraft der Worte berühren lassen?
aus geht. Und sich ihm dann erst ein Gott
Und ihre Sogwirkung, es selber tun zu
zu offenbaren vermag, der von sich sagt,
wollen?
er sei die „Wirklichkeit, die überrascht“.
(So könnten wir den Eigennamen Gottes
Nicht „über“ Gott reden.
„Ich bin, der ich bin“ auch übersetzen –
Weitestgehend jedenfalls
Exodus 3, 1 ff).
Die Ur-Crux allen Predigens scheint mit
Wenn schon, dann herzhaft
derzeit zu sein, dass wir zu-viel über Gott
Da ist eine Herzzelle, von einem Menwissen oder meinen zu wissen. Karl Barth
schen entnommen, in einer Nährflüssighat das für sich selber so beannt: „Der liekeit in einer Petrischale. Da ist eine andebe Gott wird lachen, wenn ich mit einem
re Herzzelle, von einem anderen MenHandwägelchen voller Kirchlicher Dogmaschen entnommen, ebenso in einer Nährtik daher komme“. Dieses „über“ Gott reflüssigkeit in einer anderen Petrischale.
den, ist durchaus wörtlich zu nehmen.
Die eine Herzzelle hüpft in ihrem eigenen
Hier haben wir die Welt der inneren und
Rhythmus vor sich hin. Und die andere
äußeren Erfahrung. Statt dass wir selber
Herzzelle hüpft ebenso, wiederum in ihdort einzutauchen suchen und auch anderem eigenen Rhythmus, vor sich hin. Beire damit hinein nehmen, geben wir sie in
de Rhythmen unterscheiden sich voneinWorten einer darüber liegenden Metaander. Nach einer Weile jedoch gleichen
Ebene wieder.
sich die beiden Rhythmen einander an bis
Ich lese eines Tages wieder einmal dieses
sie im selben Takt schwingen. Ist das nicht
Wort Jesu, ganz zu Beginn seiner Wirwundersam? Wie nehmen die beiden mitkungszeit. Plötzlich geht mir ein Gedanke
einander Kontakt auf, in welcher Weise
auf. Da lesen wir im Griechischen das
kommunizieren sie miteinander? Was geWort „meta-noein“ – Markus 1, 14f. Es ist
schieht da?
übersetzt mit: „Tut Buße“. Oder auch mit:
Das Herz nur eine Pumpe –
„Ändert eure Wahrnehmung“. Dann
weit überholt
kommt mir in den Sinn, dass ja Meta-PhyNoch immer ist unter uns im Schwange,
sik bedeute, über jede materielle Physik
das Herz sei eine Pumpe. Etwas materiell
hinaus gehen. Könnte dann nicht dieses
304
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 305
Handfestes, mehr nicht. In
Leben, ob biologisch, psyder Religion behaupten wir
chologisch, energetisch,
etwas müde, das Herz sei –
mental oder seelisch geseBetonung liegt auf „dahen. Leben ist Verändemals“ – der Sitz des Gemürung, das ist sowas von evites gewesen. Lasst uns
dent. Wollen wir dann noch
sehr viel mehr begreifen,
im lediglich Denkerischen
dass die Forschung uns
(und Dogmatisierenden)
schon lange andere Verstehensweisen an
verhaftet bleiben? Noch immer sind wir
die Hand gibt, die dem biblisch-mystischen
sehr in der linken Gehirnhälfte zuhause,
Verständnis sehr viel mehr entspricht: Es
der digital denkenden. Die gerne „über“ etgibt eine Herz-Kommunikation. Wie am
was nachdenkt, also „über“ dem GescheBeispiel der beiden tanzenden Herzzellen
hen schwebt und so tut, als sei dieses
nur anfangsweise angedeutet. Weil das
„über“ das Eigentliche. Wozu aber hat uns
Herz eine Torus-Struktur aufweist (vgl. Abdie Schöpfung eine rechte Gehirnhälfte
bildung), spielen in dieser Art des Kommugegeben, die das Gesamtbild zu erfassen
nizierens Raum, Entsucht. Stellen wir uns
Heißt das Abschied nehmen vom vor, wie seien im Mufernung und Zeit keine
vorrangig diskursiven Predigen?
Rolle. Das Herz bildet
seum und schauten
ein 5.000-fach (!) stäruns ein Gemälde Pixel
keres elektromagnetisches Kraftfeld aus –
für Pixel an und bildeten uns hauptsächals das Gehirn. Was soll uns das sagen,
lich daraus eine Meinung zum Geschaudie wir seit über 300 Jahren gesagt beten. Anstatt mal ein Detail anzuschauen,
kommen, nur wer denke, der sei („cogito,
um dann wieder das Ganze in die Wahrergo sum“. R. Descartes). Die Forschunnehmung zu bekommen. Nur so sind linke
gen der über die klassische Newton‘sche
und rechte Gehirnhälfte miteinander aktiv
Physik hinaus gehenden Quantenphysik
und ineinander verschränkt. Nur so ererzählen von einer weit anderen Auffasschaffen wir sinnlich eindrückliche Erlebsung dessen, was wir die Wirklichkeit nennisse und Veränderungsprozesse. Eine
nen. Heißt das Abschied nehmen vom vorandere, eine wahrhaft sehr viel ganzheitlirangig diskursiven Predigen?
chere Wahrnehmung – oder?
Weiter noch: Denken ohne Gefühle ist,
neurologisch betrachtet, nicht möglich.
Das im mittleren Bereich des Gehirns angesiedelte, für Gefühle und Bewertungen
zuständige Limbische System ist beim
Lernen und Behalten, beim Neu-Konstruieren von Gedanken, von Haltungen und
Ideen wesentlich beteiligt. Und an Veränderungsprozessen. Und um die geht es im
Begreifendes & berührendes
Denken ineinander verschränken
„Auslegen des Wortes. Suchen der
Worte – Rund um die Predigt“ heißt der Titel dieses Heftes. Ein Suchen, ein Finden,
ein sich finden lassen. Ein Hin- und HerWechseln von „begreifendem und berührendem Denken“, wie es Jörg Zink nennt.
Das eine ist eher der aktive, von uns ausPfarrvereinsblatt 7-8/2016
305
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 306
gehende Vorgang. Die exegetische Arbeit
mit eingeschlossen. Das andere ist eher
der zulassende, der intuitive, durchaus
auch im Herzen stattfindende Vorgang
dessen, was wir Predigen nennen: „Hinter
die Worte kommen“. So gestalte ich oft die
Predigt – rein praktisch – in zwei Teile, eine mehr dem begreifenden Denken gewidmet, der andere Teil mehr dem berührenden Denken. Dazwischen Musik, die
Zeit lässt, das eine und das andere sacken zu lassen.
Aus meiner Werkstatt
Hier nun zwei Beispiele, mit denen deutlich werden möge, was ich einerseits beschreibe, andererseits in die Praxis zu
nehmen suche:
Das erste Beispiel ist zur Seligpreisung:
„Selig die sanften Mutes sind, sie werden
die Erde in Besitz nehmen“ – Matthäus 5,
4. In der Muttersprache Jesu, dem
Aramäischen, lesen wir: „Selig, die sich
in sich weich machen lassen, sie haben
schon jetzt ein Gespür für die Zartheit der
Schöpfung. Glücklich, die nicht nach harter, unausweichlicher Moral urteilen, sondern schon jetzt aus der tiefen, klaren
Quelle eine geradlinige Liebenswürdigkeit in sich aufsteigen lassen.
8. Klasse. Reli ist gerade fertig. Ich auch.
Wie ein Kampf kommt es mir vor, diese 45
Minuten. Ich bin versucht, mich unter die
Verlierer des Kampfes einzuordnen. Oder
sind es die Schüler und Schülerinnen, die
sich anscheinend durch nichts aus der
Deckung holen lassen, denen ich dann
die Schuld am Misslingen dieser und so
manch anderer Reli-Stunde geben könn306
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
te? Wo ich mir doch alle Mühe gebe, einen anschaulichen Unterricht zu gestalten. Aber nach dieser Stunde bin ich einfach nur müde. Ich gehe über den Schulhof zurück ins Gemeindebüro. Spüre so
langsam auch eine Wut, von der ich nicht
weiß, ob sie nach außen platzen will oder
ob sie sich zerstörend nach innen, gegen
mich, richtet. Und ich stolpere. Auch das
noch, denke ich. Aber irgendwie treibt es
mich, zurück zu schauen, über was ich
denn gestolpert bin. Überall Asphalt. Nein!
Da ist der Asphalt aufgebrochen, hat sich
aufgewölbt. Und da! Da sehe ich inmitten
des Aufgebrochenen etwas Grünes. Beim
näheren Hinschauen ein Löwenzahn. Das
darf doch nicht wahr sein. Hat etwa diese
so zarte Pflanze es tatsächlich geschafft,
diese harte Schicht aufzureißen? In welcher Kraft? Wie lange schon ist sie dran,
zum Licht hervor zu dringen?! Und sie hat
es geschafft. Sie hat wohl nicht Schätzungen angelegt, was denn stärker sein könne: Dieser Asphalt oder diese in ihr wohnende Lebenskraft.
Diese Pflanze und der Zeitpunkt, an dem
dieses geschieht – eben nach wahrscheinlich erfolgloser Arbeit in Reli – für mich ein
Bild, nein, das (!) Bild für Sanftmut. Es lebt
in mir, dieses Bild. Es kommt in Momenten
nach oben, wie zufällig, wo ich oder wo wir
in Gremien oder im Lebensalltag sowas
von fixiert sind - auf die Probleme. Wenn
Verhärtungen sich der Situation zu
bemächtigen suchen. Jetzt jedoch dieser
in aller Schöpfung und wohl auch in uns innewohnenden Kraft vollends, eigentlich
ausschließlich, vertrauen. Jetzt aus dem
Kampfmodus heraus gehen können. Sich
von dieser göttlichen Kraft berühren las-
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 307
sen, ihr und damit dem, was wir Gott nennen, das Feld überlassen. Geht das?
Das zweite Beispiel ist eine Wortverdichtung anlässlich einer Beerdigung eines 14
Tage alt gewordenen Kindes. Im Vorfeld
machen mir seine Eltern klar, dass nicht
sie, jedoch viele, die zur Beerdigung kommen wollen, es stark in Frage stellen, ob
es denn sein müsse, dass ein Pfarrer diese Beerdigung anleite? Wie soll ich alle
mitzunehmen suchen? Meine Eingangsworte sind diese:
Leben …
manchmal so grausig
fast gewalttätig
dann kaum auszuhalten
schmerzvoll wie ein Faustschlag
in die Magengrube
herzerschütterlich
und dann leer
endlos leer
kaum noch ein Gedanke
kaum noch Gefühle
einfach nur leer.
Leben – manchmal so grausig …
Neugierig wäre ich schon, wenn Stefan,
dieser sympathische Lausbub, diesen Gedankengang hören könnte. Wie er wohl
darauf regieren würde, auf seinen wuchtigen Einwurf seiner Zeit: „Zu jedem scheint
Gott gesprochen zu haben, zu mir nicht“.
Spricht er zu mir, zu uns?
„Herzhaft ins Leben und in Gott hineinhören, herzhaft predigen“ – Möge es
gelingen.
❚ Martin Auffarth, Merzhausen
Leben ...
manchmal so übervoll und
glücksströmend
sowas von begeisternd
zum Staunen
zum tiefer schauen wollen
einladend, herzöffnend
und dann so voll
so randvoll gefüllt
nur noch staunende Augen
einfach nur erfüllt.
Leben – manchmal so
übervoll und glücksströmend
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
307
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 308
Thema
„Was soll ich predigen?“1
Annäherung – Definition(en) von Predigt
❚ Im Zusammenhang des Themas dieser
Ausgabe weist Pfarrerehepaar Dr. Andreas
Obenauer und Dr. Silke Obenauer auf das
Buch von Erik Flügge „Der Jargon der
Betroffenheit. Wie die Kirche an ihrer
Sprache verreckt“ hin, das die viel
diskutierte Milieuverengung unserer
Kirche anschaulich, provozierend und
auch schmerzhaft beschreibt.
Erik Flügge
Der Jargon der Betroffenheit.
Wie die Kirche an ihrer
Sprache verreckt.
Kösel. München 2016, 160 Seiten, 16,99 Euro
nie im Blick sind und die dem eigenen
Empfinden nach ganz weit weg sind von
der Kirche. Aber er tut uns nicht den Gefallen wortreich und eloquent sein Desinteresse an Glaube und Kirche kundzutun, sodass wir uns damit beruhigen
könnten, dass solche Leute ohnehin kein
Interesse an unserer Arbeit haben.
Flügge interessiert sich für die Kirche
und den Glauben, er traut Predigten zu,
dass sie Menschen erreichen und verändern können. Aber er kommt in der Kirche nicht vor. Nicht mit seiner Sprache,
nicht mit seinen Themen, nicht mit seiner
Lebenswelt und seinem Lebensstil.
Vordergründig geht es in Flügges Buch
um die kirchliche Sprache, v. a. in den
Predigten: zu betroffen, zu traditionell, zu
gefühlsduselig für die, die das schnelle
Leben und den großen Auftritt lieben.
Aber das ist nur die Oberfläche. Hinter
Es sind Sätze wie dieser, die das Buch
der kirchlichen Sprache verbirgt sich ja
von Erik Flügge so leeine eigene kirchliche
senswert machen. Da
Welt mit ihren leitenden
Der Autor traut Predigten
schreibt einer aus den
Bildern und Konventiozu, dass sie Menschen
jungen, mobilen Milieus
nen. In der Sprache
erreichen und verändern
können. Aber er kommt
über die Kirche; „ein
kommt eine Denkwelt
in der Kirche nicht vor.
junger Mann nach der
zum Ausdruck, die den
Pubertät und vor der
Anschluss an die moMidlife-Crisis“, ohne Kinder – und nicht
dernen Lebenswelten zu verlieren droht
im Blick bei kirchlichen Angeboten: „Ich
und keine Worte mehr findet für das, was
bin das verlorene Schaf, nach dem man
diese bewegt. Die viel diskutierte Milieulängst die Suche aufgegeben hat.
verengung unserer Kirche wurde selten
„Da schreibt einer von denen, die bei unanschaulicher, provozierender und – weil
serem kirchlichen Reden und Planen fast
mit grundsätzlich positivem Interesse an
„Ich bin kirchenfern – so fern wie man
nur sein kann, denn Kirche hat Menschen, die so leben wie ich, schon lange
aufgegeben.“
308
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 309
Kirche – auch selten schmerzhafter beschrieben als in Flügges Buch.
rinnen und Pfarrer wie andere in der Kirche Tätige neben einem grundsätzlichen
Interesse v. a. Zeit. Wer z. B. von Gott auf
Man kann es sich mit dieder Kanzel so sprechen
Entdeckungsreise
sem Buch leicht machen,
will wie in einer Kneipe
zu einer Sprache,
sich auf einzelne Aussabeim Bier (so einer von
die das binnenkirchliche
gen stürzen, die je für
Flügges Vorschlägen),
Biotop verlässt.
sich sicher diskussionsbraucht dazu als Grundwürdig sind, und sich davoraussetzung die Zeit,
mit die grundsätzliche Anfrage an kirchliab und an eine Kneipe zu besuchen und
che Arbeit vom Leib halten. Und man
dort mit den Menschen zu sprechen. Die
kann – im Jargon der Betroffenheit –
Kneipe steht dabei als Chiffre für all die
wortreich beklagen, wie wahr dieses
Orte, an denen man außerhalb kirchliBuch doch ist, und dann zur Tagesordcher Räume und Veranstaltungen Mennung übergehen. Beides ist Flügges
schen begegnen kann. Die dort verBuch und v. a. uns als Kirche nicht zu
brachte Zeit wird an den Hochverbundewünschen.
nen abgehen. Konflikte sind vorprogrammiert, aber unumgänglich, wenn es nicht
Zu wünschen ist uns als Kirche vielmehr,
beim Betroffensein bleiben soll.
dass wir uns anregen lassen von diesem
❚ Andreas Obenauer
Buch. Auf 160 Seiten findet sich eine
und Silke Obenauer, Karlsruhe
Fülle von Ideen, sei es zur im guten Sinn
emotionalen Sprache in Predigten, zur
Frage, wie kirchliche Rede in Gottesdienst und Unterricht Relevanz erhält,
zur Spannung zwischen zunehmender
Mobilität und parochial verfasster Kirche
oder zur gezielten Nachwuchssuche für
kirchliche Berufe außerhalb der klassischen Milieus. Vor allem aber ist uns als
Kirche zu wünschen, dass wir durch
Flügges Buch angeregt werden auf Entdeckungsreise zu gehen – zu den Lebenswelten, die in unseren Gemeinden
in der Regel nicht vorkommen. Und zu
einer Sprache, die das binnenkirchliche
Biotop verlässt. Dazu brauchen PfarrePfarrvereinsblatt 7-8/2016
309
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 310
Sonderseelsorge
Nachträge zum Thema der vorhergehenden Ausgabe
„Sprich nur ein Wort – Sonderseelsorge und ihre Arbeitsfelder“
❚ Mit den folgenden Beiträgen nehmen wir
das Thema unseres letzten Pfarrvereinsblattes zur Sonderseelsorge noch einmal
auf. Durch einführende Worte führt
Kirchenrätin Dr. Monika Zeilfelder-Löffler
die Bedeutung der Seelsorge im
gesellschaftlichen Kontext vor Augen.
Sie nimmt Kontakt auf mit Menschen, die
nach Seelsorge fragen, laut oder ohne
Worte. Sie steht Menschen in säkularen
Einrichtungen und in gesellschaftlichen
Kontexten in seelischer Not bei. Damit
wird Seelsorge in Institutionen „Kirche
am anderen Ort“. So begleitet die Seelsorge im Gefängnis eine „Gemeinde hinter
Gittern“.
Sonderseelsorge und
ihre Arbeitsfelder
Spätestens seit dem Amoklauf von Wina. „Kirche am anderen Ort“ –
nenden steht Seelsorge verstärkt im Focus
Von der Fremdheit der Seelsorge
Aus eigener Freiheit und Begründung
der Öffentlichkeit. Das seelsorgliche Hannimmt „Kirche am anderen Ort“ und nicht
deln der Kirche, in diesem Fall die Notfallim eigenen Haus, ihren seelsorglichen Aufseelsorge, wird von der Gesellschaft als
trag wahr. Seelsorgerinnen und SeelsorKompetenz der Kirche wahrgenommen.
gern in Institutionen wird gewöhnlich eine
Über die Orts- und Wohngemeinden hinbesondere Kompetenz für Grenzen und
aus erfüllt sich der kirchliche Auftrag zur
Grenzfragen des Lebens
Seelsorge auch im nicht
und deren Ansprech- und
Seelsorge wird in
binnenkirchlichen Kontext.
Thematisierbarkeit zugeInstitutionen „Kirche
Dies geschieht als Seelsorsprochen. Mitten unter andeam anderen Ort“.
ge in Institutionen wie z. B.
ren Professionen sind sie
im Gefängnis, bei der Polifremden institutionellen Rahmenbedingunzei, der Feuerwehr, der Bundeswehr oder
gen ausgesetzt, ohne ihnen in der Weise
im Krankenhaus oder als Seelsorge in
zu unterliegen wie die Mitarbeitenden der
Akutfällen wie der Notfallseelsorge. SeelsInstitution selbst. Daher sind sowohl Unaborge geschieht auch in Bildungseinrichtunhängigkeit als auch vertrauensvolle Zugen als Studierendenseelsorge und Schulsammenarbeit seitens der Seelsorgenden
seelsorge. Als Seelsorge in medialen Zugefragt. Die Zusammenarbeit und auch die
sammenhängen arbeiten die TelefonseelsKonkurrenz mit anderen Professionen in
orge und die Internetseelsorge.
komplexen Institutionen mit eigenem HierSeelsorge im
archie- und Qualitätsmanagement erforgesellschaftlichen Kontext
dert neben aktiver Präsenz und KommuniSeelsorge in gesellschaftlichen Konkation auch die Aneignung von Feldkomtexten orientiert sich an den Lebensfrapetenz. Damit sind das nötige Wissen um
gen und Lebenswelten der Menschen.
die Rahmenbedingungen, die inneren
310
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 311
Regeln und Abläufe, die Verhaltensformen und Handlungsmöglichkeiten der Institution gemeint.
tionen und säkularen Kontexten missionarische Kraft ausgehen. Denn Seelsorgende begeben sich dorthin, wo andere
fern sind, bleiben dort, wo andere gehen,
halten aus, wo keine Worte zu finden
sind und entdecken Ressourcen des Lebens und des Glaubens. So können seelsorgliche Dienste am anderen Ort zu Ursprungs- und Entstehungsorten von
Glauben und Kirche bei Gelegenheit werden und damit ihre missionarische Dimension entfalten.
b. Der Verkündigungsauftrag der Kirche
Als so genannte Kernkompetenz der Kirche hat Seelsorge in gesellschaftlichen
Kontexten Teil am Verkündigungsauftrag
der Kirche. Auch von Menschen, die der
Kirche eher fern stehen, wird der Seelsorge in gesellschaftlichen Kontexten hohe
Akzeptanz und Relevanz zugestanden.
d. Seelsorge im gesellschaftlichen
„Als Kommunikation des Evangeliums“
Kontext als Zukunftskompetenz
(Ernst Lange) ist Seelsorge im nicht kirchDie Angebote der Seelsorge müssen
lichen Kontext Kirche mitten im Leben. Um
besonders im nichtkirchlichen Kontext
der Nähe zu den Menschen willen wird der
als Zukunftskompetenz der Kirche profiseelsorgliche Auftrag in verschiedenen
liert werden. In säkularen Einrichtungen
Formen und an unterschiedlichen Orten
unterschiedlicher Art wie Gefängnis, Poliwahrgenommen. Seelsorge geschieht in
zei, Schule und Kranbesonderen Formen der
Seelsorgende begeben sich
kenhaus wird die Kirche
Kommunikation und in
dorthin, wo andere fern sind, durch beruflich oder ehder Ausrichtung auf bebleiben dort, wo andere
renamtlich Tätige als eistimmte Zielgruppen
gehen, halten aus, wo keine
ne Größe erfahrbar, die
oder an Menschen in
Worte zu finden sind und
Menschen in seelischer
Konfliktsituationen. Der
entdecken Ressourcen des
Not beisteht und ihnen
kirchliche Auftrag der
Lebens und des Glaubens.
hilft. Kirche wird an dieVerkündigung des Evansen Stellen von der Öfgeliums und der Begleifentlichkeit in besonderer Weise wahrgetung und Ermutigung der Menschen wird
nommen. Deshalb muss Seelsorge über
von den Seelsorgenden erfüllt, indem sie
die kirchlichen Grenzen in die Gesellals Kundige im Umgang mit Fragen nach
schaft hineindenken und das kirchliche
Glauben und Sinn, Religion und ReligioProfil von Seelsorge im säkularen Umfeld
nen, Spiritualität, Gespräch und Ritual als
muss als Markenzeichen von Kirche ge„Kirche am anderen Ort“ präsent sind.
stärkt werden.
c. Missionarische
❚ Monika Zeilfelder-Löffler, Karlsruhe
Dimension von Seelsorge
Eine Seelsorgesituation ist keine missionarisch nutzbare Gelegenheit. Dennoch kann von der Seelsorge in InstituPfarrvereinsblatt 7-8/2016
311
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 312
Sonderseelsorge
Telefonseelsorge
❚ Über den sehr wertvollen Dienst der
Telefonseelsorge informieren die Leitungen
der Telefonseelsorge in Karlsruhe und
Freiburg. Sie zeigen auf, wie wichtig der
Auftrag der Telefonseelsorge ist und wie
engagiert und kompetent die Ehrenamtlichen Notsuchenden Hilfe anbieten.
auch Ausdruck davon, dass in unserer
Gesellschaft viele Menschen leben, die
am Rande stehen, die einsam sind, denen niemand (mehr) zuhört. Im Jahr
2015 kamen bundesweit mehr als 1 795
485 Telefonate, 2 284 Chats und 21989
Mailkontakte zuViele der Anrufe,
stande. Davon
der Mails und
weist die Bundesder Chats sind
statistik folgende
Hilferufe.
Daten aus:
„TelefonSeelsorge, guten Tag“
– auf dieses freundlich gesprochene
Wort hin hören wir manchmal leise, zaghaft, oder mit gebrochener Stimme gesprochene Worte. Ein andermal hören
Die Hauptthemen, die Menschen 2015
wir ein schweres Atmen, und bei anderen
bewegten waren: depressive VerstimAnrufen kommt uns eine Flut von Wormung, körperliche Befindlichkeiten,
ten, Lebenserfahrungen, Verletzungen
Ängste, Einsamkeit/Isolation und famientgegen. All diese Lebensmomente von
liäre Beziehungen mit 9000 bis 8000
Anrufenden oder auch von RatsuchenNennungen.100
den im Chat sind aufgehoben, sind geWir hoffen auch, dass durch diesen Arborgen in der Anonymität der Telefontikel die Arbeit unserer „stillen Helden“
Seelsorge, dem Gespräch mit einem/eiden derzeit 8000 aktiven Mitner unserer ehrenamtlichen Seelsorarbeiter/innen in 107 Stellen bundesger/innen. Es ist gut, dass Ratsuchende
weit am Telefon, im Chat und Mail
diesen Schutz erfahren können. Und
sichtbar wird. Diese Frauen
doch ist es auch ein Auftrag
Die Arbeit unserer
und Männer haben eine
der TelefonSeelsorge, über
„stillen Helden“
200 Stunden umfassende
die Nöte, die Sorgen, die
Ausbildung absolviert und
Verletzungen der Menschen
bilden sich regelmäßig fort durch Suin unserer heutigen Welt zu sprechen.
pervision, Arbeitskreise und Vorträge.
Dabei soll der einzelne Mensch weiter im
Sie sind 24 Stunden, sieben Tage die
Schutz der TelefonSeelsorge geborgen
Woche, Sonn- und Feiertag für Ratsubleiben, aber die dahinter liegende Not
chende da, hören zu, begleiten, untersoll sichtbar werden. Darum freuen wir
stützen, helfen bei der Suche nach
uns, dass die TelefonSeelsorge mit dieWegen in der Krise. Ohne diese Mensem kurzen Artikel ihrem prophetischen
schen gebe es die TelefonSeelsorge
Charakter Ausdruck verleihen kann, indem
nicht – DANKE!
das Leid benannt und in die Gesellschaft
Die TelefonSeelsorge Deutschland wurhinein gezeigt wird. Viele der Anrufe, der
de 1956 gegründet. Die sieben badiMails und der Chats sind Hilferufe, sind
312
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 313
Von einer Mitarbeiterin der
Telefonseelsorge:
Meine erste Nacht an diesem Ort,
Nichts als mein Atem hält mich aus.
Wo die Bäume sich im Nachtwind wiegen,
Langweilt sich ein blasser Mond.
schen Stellen kamen in den 60-70iger
Jahren hinzu.
Getragen wird die Arbeit in Baden von
Anfang an von den christlichen Kirchen,
so dass es ein durch und durch ökumenisches Wirken ist Nach mehr als 40 Jahren TelefonSeelsorge in Baden können
wir feststellen die Not nimmt zu, die Menschen mit psychischen Auffälligkeiten,
die von unserem Gesundheitssystem
nicht mehr aufgefangen werden, steigt
und die Einsamkeit bleibt ein großes Problem unserer Gesellschaft.
Da bei knapper werdenden Mitteln viele
Vereine und Organisationen um Ehrenamtliche werben, hoffen wir, dass wir
auch weiter Frauen und Männer finden,
die bereit sind am Telefon in Chat und
Mail für andere da zu sein. Wir würden
uns sehr freuen, wenn die Kollegen in
den Kirchen auf die Telefonseelsorge
hinweisen und auch Menschen, die auf
der Suche nach einem erfüllenden Ehrenamt sind, auf die Möglichkeit einer Arbeit bei der Telefonseelsorge hinweisen,
denn es ist unser gemeinsamer Auftrag
für Menschen in Not da zu sein.
Müde blinzeln ein paar Sterne –
Und schon fünf Minuten hinterm Haus
Stirbt der Lärm der Straßenbahnen.
Wo die Bäume sich im Nachtwind wiegen,
Langweilt sich ein blasser Mond.
Aus verschwiegenen dicht
verhängten Fenstern
Starrt das Schicksal fremder in die Nacht –
Alte Kinderangst ist aufgewacht.
Vieles wird im Dunkel zu Gespenstern.
Ein irgendwas, nicht richtig zu benennen,
verführt dazu, sich gar nicht mehr
zu trennen.
Vieles wird im Dunkel zu Gespenstern.
Und irgendwann ich träume
Und horche dann dem Schlag
der Stunden.
Dieses warten, dass es Morgen wird.
Meine erste Nacht an diesem Ort,
nichts als mein Atem hält mich aus.
❚ Isabel Overmans und Helmut Ellensohn, Freiburg
Bettina Grimberg, Karlsruhe
100 Die Gesamte Statistik kann eingesehen werden unter:
www.telefonseelsorge.de
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
313
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 314
Sonderseelsorge
Biographie und Kontext – Seelsorge an den Hochschulen
❚ Der Karlsruher Hochschulpfarrer
Hans-Georg Ulrichs sieht in der spezifischen Situation der Studierenden die
besonderen seelsorglichen Herausforderungen für evangelische Hochschulgemeinden und deren Pfarrer.
E
entsteht der „Sonderseelsorge“-Bereich
Hochschulseelsorge102, dessen Besonderheit durch zwei weitere Beobachtungen
einsichtig ist: Es gibt zum einen wenige
kirchliche Angebote für diese Altersgruppe und zum anderen ist diese Kohorte,
wie die fünfte KMU (2015) zeigt, durch
mehrfachen Traditionsabbruch maximal
weit von kirchlichen und religiösen Traditionen entfernt. Da nicht mehr lediglich
kleinere, sich selbst rekrutierende Gruppen an die Uni gehen, sondern nahezu
die Hälfte der Jahrgänge103, kommen hier
– wenn nicht alle – so doch sehr viele
und divergente Lebenswelten zusammen. So gibt es auch keine traditionelle,
sozialisationsbedingte Bindung an die
ESG, wie dies etwa bei Wohnortgemeinden der Fall sein kann. ESGen müssen
ihre Relevanz und ihren „Mehrwert“ für
die einzelnen potentiellen Mitglieder einsichtig machen können.104
vangelische Studierendengemeinden (ESG) sind an sich normale Orte kirchlichen Lebens. Die Ordnung der
ESG Heidelberg beschreibt beispielsweise, dass die Gemeinde „verkündigend, kritisch bildend, missionarisch,
seelsorglich und diakonisch tätig“ ist. Sie
versucht also alle Lebensäußerungen
von Kirche zu praktizieren. Sie wird von
einem gewählten Gremium, dem Gemeinderat, in Zusammenarbeit mit einer/m Pfarrer/in101 geleitet. Das Spezifische der Gemeinden ist die spezifische
Situation der Gemeindeglieder: in der
Regel Studierende zwischen 17 und 28
Jahren. Dadurch, dass nahezu alle StuTrotz oder gerade wegen dieser erdierende zugezogen sind, dass das Stuschwerten Rahmenbedingungen ist der
dium zeitlich begrenzt ist und dass mit
Anteil der Seelsorge in diesem Funktionshoher Wahrscheinlich die Studierenden
pfarramt überraschend groß, gerade auch
nach dem Abschluss den Studienort verdann, wenn unter Seelsorge nicht nur eine
lassen werden, ergibt sich eine GemeinKrisenintervention, sondern auch insgede auf Zeit – mit Problemen, Chancen,
samt eine geistliche BeSelbstverständlichkeiDiese Altersgruppe ist
gleitung in allen Lebensten. Die Seelsorgenden
maximal weit von kirchlichen lagen als eine Dimenkennen also nicht die
und religiösen Traditionen
sion in allen kirchlichen
früheren Lebenskontexentfernt.
Handlungen verstanden
te ihrer „Klienten“, sie
wird. Man ist öfter durch
haben in der Regel nicht
unmittelbare Seelsorge herausgefordert
viel Zeit miteinander oder kennen sich
als in volkskirchlichen Gemeinden. Das
nur flüchtig und schließlich besteht nicht
hängt wohl vor allem mit der besonderen
mehr die Chance für „nachgehende“
Lebenssituation der Studierenden zusamSeelsorge. Innerhalb dieses settings
314
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 315
men: Die Jahre des Studiums stellen eine
leicht, dass manche früheren Lebensgewichtige biographische Orientierungsphawohnheiten irgendwie nicht mehr passen.
se dar, nachdem das Elternhaus endgültig
Es braucht dann empathische Begleitung
verlassen wurde und man sich als junger
in den Vollzügen des Glaubens. Zum anErwachsener ausprobieren kann. Zudem
deren: Empathische Begleitung ist ebenist das nach dem Bologna-Prozess zeitso bei biographischen Krisen wichtig, etlich eng getaktete Studium so anstrenwa wenn sich Eltern von Studierenden
gend, dass es nicht selten zu Überfordetrennen, was gar nicht so selten der Fall
rungen (Prüfungsängste) und Erschöpist (oder gar ein Todesfall zu betrauern
fungen kommt. Es gibt Leiden an der Anist). Das ist besonders dann schmerzhaft,
onymität an den überfüllten Hochschulen:
wenn sich noch jüngere Geschwister im
Es gibt auch einsame Studierende. Nasich auflösenden Elternhaus befinden.
türlich gibt es niederschwellige Seelsorge
Schnell sind dann Selbstzweifel oder Fraim Zusammenhang mit Kasualien wie
gen nach den eigenen schuldhaften AnHochzeiten und Taufen sowie bei Hilfen,
teilen an der Entwicklung da oder die Fradie in finanziellen und sozialen Notfallsige, was man zur Klärung der Situation
tuationen möglich sind. Aber oft gibt es
noch hätte beitragen können. Ein anderes
nicht nur das eine, klar
gravierendes Lebensidentifizierbare Problem,
problem ist etwa auch eiIn der spezifischen Situation
sondern es herrscht eine
ne einschneidende seedes Studiums gibt es
Gemengelage von Belische oder körperliche
spezifische seelsorgliche
dürfnissen vor. VorranErkrankung mit vorüberHerausforderungen.
gig scheint jedoch die
gehendem oder permaSeelsorge bei Glaubens- und Lebensfranentem handicap, wobei die Kooperation
gen. Zum einen: Es gibt gerade in einer
mit den oftmals außerordentlich profesUni-Stadt zahlreiche christliche Gemeinsionell arbeitenden universitären Beraden und Gruppen, so dass die Orientietungsstellen sehr gut ist. Kurzum: In der
rung erschwert ist: Welches Format des
spezifischen Situation des Studiums gibt
Glaubens passt zu mir, welche Auses zwar spezifische seelsorgliche Herausdrucksformen – und wo ist dann die pasforderungen, aber diese sind quasi eingesende Gemeinschaft? Oder man trifft in
bettet in das große Spektrum der gesamuniversitären Kontexten auf andere Forten kirchlichen Seelsorge.
men christlicher Lehre oder der Glaube
wird in Frage gestellt – explizit durch antiIm Hinblick auf die Seelsorgenden in der
religiöse Propaganda oder implizit durch
Hochschulseelsorge ist Professionalisieden vorherrschenden Agnostizismus.
rung nötig – im Übrigen eine SelbstverOder umgekehrt – es kommt zu einer
ständlichkeit in anderen Sonderseelsor(Neu-) Begegnung mit Religion: Junge
gefeldern: Man muss die akademischen
Menschen auf der Suche nach oder bei
Welten mögen und sich darin auskennen,
der Ausbildung der eigenen Identität stoum darin positiv auftreten zu können, man
ßen auf den Glauben – und merken vielmuss neugierig sein und bleiben auf neue
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
315
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 316
Lebenswelten und andere Lebenskonzepte, um die jungen Erwachsenen wertschätzen zu können. Man muss es ertragen können, dass man die „Früchte“ der
eigenen pastoralen Arbeit nicht immer reifen sieht, sondern ad hoc und temporär
für vorübergehende Gemeindeglieder da
ist und mehr der Kirche Jesu Christi im
Gesamten dient.105 Ohne zu starken Regulierungen das Wort reden zu wollen: eine spürbare Altersdifferenz zu den Studierenden ist eher ein Vorteil, eine mehrjährige Praxis im gemeindlichen Pfarramt
gewiss auch. „Erfahrung“ scheint doch so
etwas wie eine seelsorgliche Schlüsselqualifikation zu sein.
❚ Hans-Georg Ulrichs, Heidelberg
101 Vgl. Hans-Georg Ulrichs, Hochschulgemeinde – eine
privilegierte Herausforderung, in: Pastoralblätter. Predigt,
Gottesdienst, Seelsorge – die Praxis 153 (2013),
S. 70–74.
102 Vgl. eher praeskriptiv: Freut euch mit den Fröhlichen und
weint mit den Weinenden. Seelsorge in der Evangelischen Landeskirche in Baden. Gesamtkonzeption, Karlsruhe 2013, S. 72–74; deskriptiv: Christine Jacob, Von
nachhaltiger Hilfe bis zu Tipps auf der Treppe. Die Situationen, in denen Studierende Seelsorge brauchen, sind
vielfältig, in: ekiba intern. Mitarbeitendenzeitschrift, März
Ausgabe 2/2016, S. 16f.
103 Angesichts dieser Zahl und auch im Vergleich zu
anderen Landeskirchen ist die personelle Ausstattung
der badischen Hochschulseelsorge als prekär zu bezeichnen: Konstanz 50% / Freiburg 100% [derzeit vakant] / Karlsruhe 50% / Mannheim 50% [plus 50% CityKirche] / Heidelberg 50% [plus 50% Universitätsgemeinde]. In anderen Landeskirchen wird ab 20.000 Studierenden eine volle ESG-Pfarrstelle eingerichtet, also viermal
so viel wie im badischen Heidelberg. Außerdem werden
in den kleineren und neuen Hochschulstandorten andernorts zahlreiche Teildeputate eingerichtet. Und
schließlich: In immer mehr anderen Landeskirchen wird
der Bau von kirchlichen Wohnheimen forciert.
104 Zum Kontext der Hochschulen gehören über die Studierenden hinaus auch weitere Angehörige der Hochschulen und des akademischen Milieus. Auch diese sind im
316
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
Fokus der „Hochschulgemeinden“ und der „Hochschulpfarrer/innen“. Da die Nicht-Studierenden aber auch in
den Wohnort- oder anderen Personalgemeinden beheimatet sein können (Studierende übrigens auch), gehe ich
hier nicht näher auf sie ein. Ebenso bleibt die singuläre
Konstruktion einer „Universitätsgemeinde“ mit eigener
Kirche in Heidelberg (www.peterskirche-heidelberg.de)
hier außen vor.
105 Hans-Georg Ulrichs, Was bleibt? Gedanken zur Nachhaltigkeit der eigenen pastoralen Tätigkeit, in: Pastoralblätter. Predigt, Gottesdienst, Seelsorge – die Praxis 156
(2016), S. 98–101.
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 317
Sonderseelsorge
Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen!
Psalm 18 – Gefängnisseelsorge
❚ Pfarrer Gotthold Patberg ist
evangelischer Gefängnisseelsorger
in der JVA Mannheim und hat täglich
Einblicke in die Lebenswelt der Gefangenen hinter den Mauern. Er kennt den
Alltag dort und weiß um die Schwierigkeit einer gelingenden Resozialisierung,
die Mut von allen Beteiligten braucht.
Mut, der im Vertrauen auf Gott
wachsen kann.
gebracht, dass man eigentlich nur in den
Himmel hinausschauen kann. Das entsprach dem Denken in den Anfängen des
20. Jahrhunderts, als die JVA Mannheim
gebaut wurde. Die Fenster sollten den
Blick gen Himmel und damit zum Gebet
ermöglichen. Die Zellen waren gedacht
als Orte der Besinnung und Buße für die
Gefangenen.
Dementsprechend beherbergt die JVA
n diesem Herbst durfte ich einige Tage
Mannheim auch eine schöne große Kirim Kloster Kirchberg in Sulz am Neche, die wir bis heute für die sonntägckar verbringen. Es waren Tages des
lichen Gottesdienste und die VerkündiSchweigens und der ingung des Evangeliums
Die Zellen waren gedacht als nutzen. Besinnung, Buneren Einkehr. In diesen
Orte der Besinnung und
Tagen der Besinnung
ße und eine vom GlauBuße für die Gefangenen.
auf Gott und die Regunben getragene Bessegen der eigenen Seele
rung sind Teil dieses
habe ich die alten Klostermauern durchDenkens. Bei aller Hochachtung des
aus als wohltuend erlebt. Sie strahlten etchristlichen Glaubens auch für die perwas Behütendes aus und gaben meinen
sönliche Lebensführung sind wir uns
inneren Betrachtungen und Gebeten eiwohl heute bewusst, dass eine erfolgnen geschützten Raum.
reiche Resozialisierung von Straftätern
nicht so einfach verläuft.
In meinem Alltag arbeite ich auch hinter
Es stellt sich vielmehr die Frage, ob das
Mauern. Allerdings haben diese Mauern
Wegsperren von Straftätern hinter Geeine ganz andere Funktion: sie grenzen
fängnismauern trotz aller Behandlung
aus, nehmen aus dem Blickfeld und sperund mancher therapeutischer Angebote
ren ein. Ich arbeite als
nicht für eine erfolgreiEingesperrtsein kann auch
Gefängnisseelsorger in
che Resozialisierung
zur Unselbständigkeit führen. von vielen Gefangenen
der JVA Mannheim.
eher hinderlich ist. EinDabei haben Gefängnisse mehr mit Klösgesperrtsein kann auch zur Unselbstäntern zu tun als wir vielleicht auf den ersten
digkeit führen.
Blick denken. Die Fenster der Zellen in
Gefangene können sich auch untereinder JVA Mannheim sind so weit oben anander negativ beeinflussen.
I
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
317
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 318
Thema
Fast jeder Krimi im Fernsehen endet mit
der Festnahme der Straftäter und wir Fernsehzuschauer lehnen uns zufrieden zurück
mit der Gewissheit, dass die Übertäter jetzt
nach einem Gerichtsverfahren hinter hohen Gefängnismauern verschwinden und
dort ihre Strafe verbüßen. Oft genug machen wir uns wohl nur wenig Gedanken
über das, was dort hinter diesen Mauern
geschieht und dass die meisten der Gefangenen eines TaEine Gesellschaft
ges wieder an
braucht Mut, in die
unserer LebensLebenswelt hinter
welt teilnehmen
den Gefängniswerden.Für eine
mauern zu schauen. erfolgreiche Resozialisierung ist
es aber notwendig darüber nachzudenken,
wie der Weg der Gefangenen zurück in unsere Lebenswelt geebnet werden kann gerade auch im Hinblick auf die Opfer und die
Verhinderung weiterer Straftaten. Hierfür
braucht eine Gesellschaft Mut. Mut, der
auch in die Lebenswelt hinter den Gefängnismauern schaut.
Mut, der nicht nach absoluter Sicherheit
schreit, der aber Menschen mit geeigneten
Schritten (z.B. mit Ausführungen und Ausgängen von Gefangenen und mit einer intensivierten Bewährungshilfe) zurückholt in
unsere Gesellschaft. Für diesen Mut müssen wir oft genug über die Mauern unserer
Ängste springen. Dieser Mut kann wachsen
in dem Vertrauen auf Gott und hilft dabei
auch, die Straftäter die Mauern ihres Eingesperrtseins wieder überwinden zu lassen.
❚ Gotthold Patberg, Mannheim
318
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
Evangelische
Polizeiseelsorge in Baden
❚ Bernhard Goetz, Landespolizeipfarrer
registriert eine Veränderung der kirchlichen
Arbeit in der Polizei. Neben der Arbeit in
der Ausbildung ist die Seelsorge an einzelnen Polizistinnen und Polizisten gefragt.
Dazu muss das Vertrauen wachsen, weshalb eine Präsenz der Polizeiseelsorge in
Posten, Revieren und Präsidien wichtig ist.
D
ie kirchliche Arbeit in der Polizei bezieht sich sowohl auf das berufsethische Engagement in der Ausbildung der
Polizisten und Polizistinnen im Land, als
auch immer stärker auf die Seelsorge an
der einzelnen Polizistin, am einzelnen Polizisten. Doch kommt kaum ein persönliches seelsorgliches Gespräch ohne ethische Aspekte aus.
In der Polizeiseelsorge gilt dies in weit
höherem Masse als bei anderen Seelsorgegebieten, da die ganz heftigen persönlichen Belastungen im Berufsalltag aufschlagen und seelsorglicher Begleitung
immer häufiger und dringender fordern.
Die Einsätze der Polizei werden täglich
aufs Neue in den Medien kritisch beachtet. Hochachtung wird den Beamt/innen
entgegen gebracht.
Doch schon beim Nachdenken, dass in jeder Uniform ein Mensch steckt, stellt in unserer Gesellschaft mache Anfragen. Wer
weiß schon etwas über die ganz eigenen
Belastungen und Frustrationen im Alltag
der Polizei? Die fehlende Anerkennung,
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 319
die Respektlosigkeit und Diffamierung die
jeden polizeilichen Alltag prägen, werden
leider verschieden diskutiert.
Die Polizeiseelsorge ist ein Angebot für
alle Bediensteten der Polizei –unabhängig von ihrer konfessionellen oder religiösen Bindung. Sie spricht sich auch eng
mit dem ärztlichen und psychologischen
Dienst der Polizei, der Konfliktberatung
sowie der Suchtkrankenhilfe ab.
Welche Auswirkungen hat der tägliche
Umgang mit Kriminalität, Gewalt, Ohnmacht, Schuld, Schmerz, Tod auf das
dienstliche und auch das
Die „Kirchliche Arbeit in
private Leben dieser Beder Polizei“ wird von der
rufsgruppe? Auch die
Polizei hoch geachtet
Angehörigen werden
und erwünscht.
stark betroffen.
Ein Polizeibeamter sagte nach einer
schweren Einsatznacht: Gott sei Dank gibt
es die Polizeiseelsorger.
Bevor solch ein Satz fällt, ist Vertrauen
zwischen dem Polizisten und dem Polizeiseelsorgenden gewachsen. Die intensive
Präsenz der Polizeiseelsorge in den Posten, Revieren, Präsidien ist vonnöten. In
Baden sollte es in jedem Dekanat einen
Bezirksauftrag für die Polizeistellen geben. Diese „Kirchliche Arbeit in der Polizei“ wird von der Polizei hoch geachtet
und erwünscht.
Im Umgang mit schweren Ereignissen und Bedrohungen ist für die betroffenen Beamt/innen
immer wieder wichtig,
dass Seelsorgende nicht dem Strafverfolgungszwang unterliegen und die Seelsorge unter dem Schutz des Zeugnisverweigerungsrechts geschieht. Die Seelsorge in der Polizei ist nicht - wie z. B. bei
der Bundeswehr- in polizeiliche Hierarchien eingebunden. Polizeiseelsorge ist
ein Dienst unserer Landeskirche für die
Polizei. Es sind Gemeindepfarrerinnen
und Gemeindepfarrer die zusätzlich zu
ihrem Gemeindedienst mit dieser Aufgabe beauftragt werden.
❚ Bernhard Goetz, Bickensohl
Natürlich werden Gottesdienst und Gedenkfeiern gemeinsam gestaltet, Impulse
für die rituelle und liturgische Gestaltung
zur Bewältigung ihrer alltäglichen
Erfahrungen mitgestaltet und veröffentlicht. Besinnungstage, unterstützende
Workshops und Seminare werden angeboten. Die Polizeiseelsorger/innen begleiten Einsatze und sind für Einsatznachbesprechungen, Betreuungsgruppen, und verschiedene Kriseninterventionsteams wichtige Partner innerhalb der
Polizei.
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
319
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 320
Sonderseelsorge
Militärseelsorge im Auslandseinsatz
❚ Pascal Kober ist seit 2014 Militärpfarrer
an den Standorten Stetten am kalten Markt
und Pfullendorf. Er begleitete den Einsatz
der Bundeswehr in Mali von Dezember bis
März 2015 und von Mai bis Juli 2016.
Als Militärseelsorger teilt er die besonderen
Lebensumstände im Einsatz. Seine Seelsorge kennt viele Themen und Anlässe.
die Sinnhaftigkeit ihres Einsatzes und der
Verteidigungspolitik allgemein, sie fragen
nach dem Grund für das Böse in der
Welt, nach der Wahrheit Gottes, sie freuen sich und sie weinen. Seelsorge im
Auslandseinsatz hat viele Themen und
viele Anlässe. Das Besondere an der Militärseelsorge im Einsatz: Seelsorger und
Soldaten leben über Monate hinweg vierin Soldat zeigt gerührt das Ultraundzwanzig Stunden am Tag zusammen
schallbild seines ungeborenen Kinauf engstem Raum und teilen die besondes auf seinem Smartphone, das seine
deren Lebensumstände, die der Alltag im
Frau ihm eben gemailt hat. Ein anderer
Auslandseinsatz mit sich bringt. Distanz?
erzählt von seinem Sohn, der bei einem
– Fehlanzeige. Der Seelsorger, rund um
Autounfall ums Leben gekommen ist. Da
die Uhr im Blickfeld der Soldaten, steht
ist die Soldatin, die sich am Telefon nur
zwangsläufig mit seiner ganzen Person
ständig mit ihrem Freund streitet, und da
für sein Amt, von der Wahl des Duschist der Soldat, der Post von einer Scheigels bis hin zu den Worten in der Predigt.
dungsanwältin in den Einsatz gesandt
Nichts bleibt unbeobachtet, nichts bleibt
bekommt. Das Kind rutscht in der Schule
unhinterfragt. Der Gottesdienstbesuch im
ab, der Soldat fehlt beim
Einsatz ist hoch, wenn
Der Gottesdienstbesuch
ersten Krippenspiel seidie Sprache stimmt.
im Einsatz ist hoch, wenn
ner Tochter. Die Ehefrau
die Sprache stimmt.
daheim bekommt die
Zwischen zwölf und bis
Diagnose Krebs mitgezu neunzig Prozent – je
teilt. Zwei Soldaten streiten über die Abnach Standort – nehmen am Gottesgrenzung ihrer Aufgaben, der Kommandienst teil. Gefragt sind Themenpredigdeur holt sich Rat bei einem disziplinariten in klaren Worten. Mit dogmatischen
schen Problem. Soldaten erzählen vom
Formeln redet man an vielen vorbei,
Schießen und Beschossen werden und
denn die Gottesdienste im Einsatz wervon verwundeten oder toten Kameraden.
den auch von Soldaten besucht, die
Sie möchten in die Kirche eintreten, aus
sonst keinen Kontakt zur Kirche haben,
der Kirche austreten, sie möchten die
weil sie etwa aus den ostdeutschen BunKonfession wechseln, die Unterschiede
desländern kommen.
zwischen katholisch und evangelisch
wissen, mehr über den Islam erfahren,
Militärseelsorge gehört zu den kirchlisie machen ihrer Enttäuschung über friechen Diensten in der Arbeitswelt, basiert
densethischen Populismus aus dem
aber auf dem unveräußerlichen GrundRaum der Kirche Luft, sie hinterfragen
recht auf Religionsfreiheit, auf dem vom
E
320
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 321
Zur Diskussion
Grundgesetz garantierten Recht auf ungestörte Religionsausübung (Art 4. (2)).
Wer als Soldat vom Bundestag in einen
Einsatz fern der Heimat geschickt wird,
hat sozusagen das Recht, dass der Staat
den Zugang seiner Religionsgemeinschaft zu ihm gewährleistet und organisiert. Die Arbeit der Militärseelsorge ist
dabei „von staatlichen Weisungen unabhängig“. Auch im Auslandseinsatz ist der
Militärpfarrer in seiner Arbeit unabhängig,
gebunden an das Ordinationsversprechen und den geistlichen Auftrag, über
den die Kirche wacht.
❚ Pascal Kober, Stetten am kalten Markt
Thesen zum Umgang
mit dem Thema Arbeitszeit
im Pfarrberuf
❚ Das Thema Arbeitszeit im Pfarrberuf ist
aus verschiedenen Gründen hochaktuell:
wegen der Diskussion um Arbeitszeitvorgaben in anderen Landeskirchen, wegen
der Belastungssituation (die durch die
längere Lebensarbeitszeit eher steigen
dürfte), aber auch wegen der Befürchtung, mit den aktuellen Arbeitszeiterwartungen keinen Nachwuchs mehr zu
finden. Die folgenden 24 Thesen zur
Arbeitszeit im Pfarrberuf wurden in der
Pfarrvertretung und in mehreren Pfarrkonventen schon diskutiert; nun möchte
die Pfarrvertretung eine Diskussion auf
breiterer Basis. Das von Volker Matthaei
verfasste Papier ist dabei nicht als abschließende Positionsbestimmung der
Pfarrvertretung zu verstehen, sondern als
Grundlage für den Diskussionsprozess.
Rückmeldungen sind ausdrücklich
erwünscht!
1 PfarrerInnen auf Gemeindepfarrstellen arbeiten im Jahresdurchschnitt 64
Wochenstunden (aus der Werbebroschüre (!!) des EOK für den Pfarrberuf
„Dein neuer Style? Sehr cool!“).
2 Diese Arbeitszeit führt zu Unzufriedenheit und langfristig zu Burnout und
ist gesundheitsgefährdend.
Diese Arbeitszeit führt zu
Unzufriedenheit und langfristig
zu Burnout.
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
321
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 322
3 Der Schritt von der bislang nicht
geregelten Arbeitszeit hin zu einer
48-Stunden-Woche (wie sie in den
Dienstplänen der bayrischen Landeskirche festgehalten ist) erscheint
daher zunächst einmal als entlastend.
4 Tatsächlich ist das bayrische 48Modell eine Burnoutfalle, erst recht
das 56-Stunden-Modell, das (neben
41 und 48 Stunden) im Rheinland in
Diskussion ist: Die Arbeitszeitberechnung berücksichtigt viele Tätigkeiten
nicht in realistischem Umfang (z. B.
Schule), andere Tätigkeiten werden
nur pauschal als „Sonstiges“ erfasst
und ebenfalls zu gering quantifiziert.
Berufe!!) darf durch kirchliche Regelungen nicht überboten werden.
7 Dagegen ist festzuhalten: Orientierungswert ist die (als Durchschnittswert!) 41-Stunden-Woche (= Arbeitszeitverordnung für Beamte in BadenWürttemberg und im Bund und davon
abgeleitet auch für die PfarrerInnen im
Evang. Oberkirchenrat).
8 Ein Orientierungswert ist keine exakt
definierte Arbeitszeitvorgabe. Berufe
mit einem hohen Grad an Verantwortung brauchen Gestaltungsspielräume. Die Freiheit, Schwerpunkte zu
setzen je nach Erfordernissen und
persönlichen Begabungen, muss im
Pfarrberuf erhalten bleiben.
5 Arbeitszeitberechnungen kranken oft
daran, dass sie jahreszeitliche Spitzen
9 Arbeiten über die 41 Stunden hinaus
nicht berücksichtigen. Wenn z. B. der
ist kein Problem, solange sie selbstbeLeitfaden für den Probedienst in eistimmt, gerne und freiwillig geschieht.
nem Musterdienstplan 8 WochenstunDie allermeisten PfarrerInnen sind
den für 3x im Monat Gottesdienste anhochmotiviert und wollen sich engagiesetzt, ist nicht berücksichtigt, dass
ren. Ob man allerdings mit (nicht
März/April und Dezember mehr als 3x
nur ausnahmsweise)
im Monat GottesDie allermeisten PfarrerInnen
64 Stunden in ausreidienst zu halten ist.
sind hochmotiviert und wollen
chendem Maß der
Entlastungen in Ferisich engagieren.
Verantwortung gegenenzeiten (z. B. bei
über seinen sozialen
Schule oder KonfirBezügen (Partnerschaft, Kinder, Freundmandenunterricht) werden dagegen –
schaften) und sich selbst (Ruhezeiten,
wenn man nicht gerade selbst Urlaub
Gesundheit) gerecht wird, erscheint
macht – meist durch verstärkte Vertrefraglich.
tungsaufgaben kompensiert.
6 Das im Rheinland diskutierte Modell
einer 56 Stunden-Woche ist ein Affront
gegen die PfarrerInnenschaft: Die EUArbeitszeitrichtlinie (durchschnittlich
maximal 48 h, Ausnahme: geistliche
322
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
10 Das Denkmodell, mit dem sich freiwilliges Engagement von belastendem
Überengagement unterscheiden lässt,
ist die Differenzierung in Pflicht und Kür
im beruflichen Handeln von PfarrerIn-
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 323
nen: Pflicht ist das berufliche Handeln,
dessen Unterlassen als Dienstpflichtverletzung anzusehen ist. Kür ist das
berufliche Handeln, das über die Kernaufgaben (Gottesdienst, Kasualien,
Schule, Konfirmandenunterricht, Seelsorge, Verwaltung) hinaus geleistet wird
und das von niemand eingeklagt werden kann – nicht von Ältestenkreisen,
die mit der Mentalität eines Aufsichtsrates agieren, und nicht von DekanInnen,
die über Zielvereinbarungen in unangemessener Weise Gestaltungsspielräume einengen wollen.
11 Die Definition eines Kür-Anteils jenseits der verpflichtenden Kernaufgaben
zielt nicht darauf, sich Gemeinden mit
Stoppuhrmentalität zu präsentieren,
sondern darauf, selbstbestimmt Tätigkeitsfelder zu wählen, die man als Ressource wahrnimmt, weil sie die Freude
am Beruf steigern. Dieser Anteil ist freiwillig, d.h. dass es z.B. in Belastungssituationen wie Kleinkindbetreuung, gesundheitlichen Problemen oder Pflege
auch möglich sein muss, diese Aufgaben
zur Disposition zu stellen, weil sie sich
nicht mehr als Ressource erweisen –
wofür wir ja im Umgang mit Ehrenamtlichen auch Verständnis haben.
reichungen sollten sich an diesen 41
Stunden orientieren.
13 Auch der Stellenplan gehört zum Verantwortungsbereich der Landeskirche:
Mit den Pfarrstellenkürzungen der Jahre 1999-2003 hat die badische Landeskirche dafür gesorgt, dass ihre PfarrerInnen im EKD-Vergleich die höchste
Arbeitsbelastung haben. (Baden liegt
bei der Pastorationsdichte mit 2144 Gemeindegliedern pro Stelle unter 21
EKD-Kirchen auf Platz 6 der Tabelle
und damit deutlich über dem Durchschnitt von 1684 Gemeindegliedern. Allerdings hat Baden, anders als viele andere EKD-Kirchen, ein Pflichtdeputat im
Religionsunterricht von 6 bis 8 Stunden
(und liegt mit diesem Pflichtdeputat
EKD-weit mit an der Spitze). Unter den
Kirchen mit Unterrichtsverpflichtung hat
Baden die mit Abstand ungünstigste
Pastorationsdichte!! Für das Belastungserleben badischer PfarrerInnen
gibt es also objektive Gründe!
14 Mit der Bildung überparochialer Dienstgruppen und der Zusammenlegung von
Gemeinden will die Landeskirche belastbare Strukturen für künftig notwendige
Pfarrstellenstreichungen schaffen (die Ermöglichung gabenori12 Die Verantwortung
entierten Arbeitens in
Unter den Kirchen mit Unterder Landeskirche
Dienstgruppen ist dabei
richtsverpflichtung hat Baden
besteht darin, Struktueher ein Nebeneffekt).
die mit Abstand ungünstigste
ren bereitzustellen, bei
Das ist grundsätzlich
Pastorationsdichte.
denen die Kerntätigverantwortungsbewusst,
keiten in 41 Stunden geleistet werden
verkennt aber, dass die Landeskirche
können. Stellenbeschreibungen, Auszunächst einmal in der Pflicht ist, die moschreibungstexte, aber auch Mustermentane Arbeitsbelastung der PfarrerIndienstpläne in landeskirchlichen Handnenschaft deutlich zu reduzieren.
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
323
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 324
15 Eine Verantwortung der Landeskirche
renamtlichen in der Gemeinde ist allerist auch der wertschätzende Umgang
dings nicht hilfreich, weil dadurch die
mit dem Berufsstand der PfarrerInnen.
Frage in den Hintergrund rückt, in welIn der PfarrerInnenschaft ist es nicht
chem Umfang Küranteile an der Arbeit
gut angekommen, dass die im EKDgerne und freiwillig realisiert werden.
Vergleich höchste Arbeitsbelastung
17 DekanInnen haben als Vorgesetzte
nicht nur als Folge der Haushaltskonhinsichtlich der Arbeitsbelastung eine
solidierung des Landes mit Nullrunden
Fürsorgefunktion auszuüben (gegenübei den Gehältern zusammengetroffen
ber Ältestenkreisen, aber auch im Hinist, sondern dass die badische Landesblick auf die Inanspruchnahme von Urkirche als einzige EKD-Gliedkirche
laub und dienstfreien Tagen; auch beihren PfarrerInnen einen beschleunigzirkliche Urlaubsplanung und bezirkliten Übergang zum Ruhestand mit 67
che Vertretungsorganisation wirken
Jahren zugemutet hat und dadurch auf
enorm entlastend). Das entbindet nicht
Kosten der PfarrerInnenschaft viel Geld
von der Pflicht zur Selbstfürsorge.
gespart hat. Zur EKD-weit höchsten Arbeitsbelastung kommt also auch noch
18 Das Verhältnis zur Berufsgruppe der
die längste Lebensarbeitszeit! Die inGemeindediakonInnen ist dadurch pozwischen erfolgte Abfederung dieser
tenziell belastet, dass diese eine 39Maßnahme durch eine Beschränkung
Stunden-Woche als konkrete Arbeitsauf 40 Dienstjahre erreicht zwei Drittel
zeitvorgabe
haben,
der betroffenen Kolwährend PfarrerInnen
Eine Verantwortung der LanlegInnen nicht. Es ist
prinzipiell ohne Bedeskirche ist auch der wertZeit für ein Signal,
grenzung arbeiten. Daschätzende Umgang mit dem
dass wir PfarrerInher besteht die Gefahr,
Berufsstand der PfarrerInnen.
nen nicht nur ein Kodass alles, was nicht
stenfaktor sind, soninnerhalb des Zeitkontingents der Gedern in unserer Schlüsselrolle (KMU 5)
meindediakonInnen leistbar ist, autofür die Kirche Anerkennung erfahren!
matisch an den PfarrerInnen hängen16 Druck zum Arbeiten über eigene Belableibt.
stungsgrenzen hinaus kommt z. T. aus
19 Das gleiche gilt für SekretärInnen und
den Gemeinden. Ehrenamtliche in der
HausmeisterInnen: Einsparungen von
Gemeinde fühlen sich dazu oft subjekStellenanteilen bei diesen Berufsgruptiv im Recht, weil sie sich schließlich
pen (oder auch krankheitsbedingte
ehrenamtlich engagieren und daher
Ausfälle) erhöhen automatisch die Armeinen, zusätzliches Engagement auch
beitszeit von PfarrerInnen; wichtig
von ihren PfarrerInnen erwarten können.
wären ausreichende Stundenzahlen
Hier gilt es, Pflicht- und Küranteile zu
und gegenseitige Vertretungen auf
kommunizieren. Eine Orientierung der
überparochialer Ebene.
Arbeitszeit an den engagiertesten Eh324
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 325
20 Die Arbeitszeit von PfarrerInnen muss
beitsbelastung zu übernehmen. So
gesellschaftliche Entwicklungen
wichtig Rahmenbedingungen und gute
berücksichtigen: Die Arbeitszeit von
Mitarbeiterführung sind: Schützen könPfarrerInnen darf sich nicht mehr orinen wir uns letztlich nur selbst. Daher
entieren am Berufsvertrete ich zum BeiDie Arbeitszeit von PfarrerInnen spiel auch eine abgebild von Personen,
muss gesellschaftliche
deren EhepartnerIn
wandelte Version der
Entwicklungen berücksichtigen. Rechtfertigungslehre:
die Familien- und
Hausarbeit leistet.
Niemand muss seinen
Wert aus einer weit überdurchschnittli21Soziologen konstatieren eine „Generachen Arbeitszeit ableiten. Wir haben ein
tion Y“, die nicht mehr bereit ist, alles
Recht auf Grenzen. Unsere Aufgabe ist
dem Beruf unterzuordnen, sondern
es, sie verbindlich zu kommunizieren.
eine angemessene Balance von Be24 Am besten sind wir in unserem Beruf,
ruf und Freizeit erwartet. Für diese
wenn wir Freude daran haben. Es gilt
Generation ist es schwer zu vermitalso zu analysieren, was uns die Freuteln, dass PfarrerInnen ihren Beruf
de nimmt, und das ernstzunehmen.
häufig in Zeiten ausüben, die dadurch
Kollegialer Austausch und Supervision
wertvoll sind, dass sie mit vielen ansind dafür wichtige Instrumente. Und
deren Menschen für Freizeitbedürfwer glaubt, dass das ja dann auch wienisse geteilt werden kann (Abende,
der Zeit kostet, dem möchte ich noch
Wochenenden, Feiertage). Wenn Kireine kleine Geschichte von Stephen
che als Arbeitgeberin attraktiv bleiben
Covey mitgeben:
will, muss sie eine Antwort auf die
Frage haben, warum der Pfarrberuf
„Ein Waldarbeiter sägt mühsam einen
trotz dieser Arbeitszeiten ein lohnengroßen Stapel Holz und kommt nur langdes Berufsziel ist.
sam und angestrengt voran. Fußgänger
22 Dienstgruppen verändern das Berufskommen am Wegesrand vorbei und bebild. „Selig die Beine, die am Altar
obachten den Holzarbeiter eine Weile.
steh´n alleine“ ist out; TeamorientieSchwitzend flucht und schimpft er. Die
rung ist in. Das bietet Chancen (GabePassanten fragen ihn, warum er denn
norientierung z. B.), aber auch die Genicht zuerst seine Säge schärft. Der
fahr erhöhter Arbeitsbelastung, wenn
Holzarbeiter schüttelt entrüstet den Kopf
die im Team notwendige Kommunikaund sagt: ‚Sehen Sie nicht die viele Artion nicht effizient organisiert wird.
beit? Ich habe keine Zeit die Säge zu
schärfen. Ich muss sägen!‘“
23 Zu guter Letzt noch der Blick auf die
❚ Volker Matthaei, Stutensee
eigene Person: Bei allem Druck, der
von außen kommt, ist es auch wichtig,
selbst die Verantwortung für seine ArPfarrvereinsblatt 7-8/2016
325
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 326
Zur Diskussion
Buße als politische Chance
❚ Pfarrer Klaus Paetzholdt sieht, inspiriert
von Michael Lüders Buch „Wer den Wind
sät ... “ und mit Blick auf das bevorstehende Reformationsjubiläum, die Notwendigkeit zur Buße als einem politischen Akt.
Im Eingeständnis von politischer und wirtschaftlicher Schuld liegt die Chance eines
Neuanfangs der Vertrauensbildung,
so Paetzholdt. Er versteht diesen kleinen
Artikel als Beitrag zur Lutherdekade,
noch einmal für den Zusammenhang von
Politik und Reformation und darüber
hinaus als Beitrag für die Friedensarbeit,
die in meiner evangelischen Landeskirche in Baden geschieht.
Mit großem Interesse habe ich das Buch
Wer den Wind sät … von Michael Lüders1
gelesen. Auch wenn ich mir durch mein
politisches Interesse im Laufe der letzten
Jahre ein einigermaßen umfangreiches
Wissen und ein recht sicheres Einschätzungsvermögen angeeignet habe, hat mir
dieses Buch darüber hinaus viele zusätzliche Informationen gegeben und vor allem
Zusammenhänge gezeigt, die mir bisher
so noch nicht vertraut waren.
Als Nahost-Korrespondent der Hamburger
Wochenzeitung DIE ZEIT will Lüders Zusammenhänge nicht im Weltmaßstab zeigen. Durch seine journalistische Schwerpunktsetzung hat er sich auf den Nahen
Osten konzentriert. Als grundlegendes historisches Datum, ich müsste eher sagen:
als den grundlegenden politischen Sündenfall, wie er das selber nennt 2, stellt er
dar, wie CIA und der britische Geheimdienst im Jahr 1953 alles daran gesetzt ha326
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
ben, den demokratisch gewählten Präsidenten des Iran, Mohammed Mossadegh,
zu stürzen, um vor allem die wirtschaftlichen Vorteile Großbritanniens und der
USA zu sichern. Leider – oder soll ich lieber sagen: unvermeidlich – ist dieses Vorhaben geglückt.
Das Buch stellt dann in zahlreichen Details
dar, wie sich Politik im Nahen Osten seit
diesem Urdatum und aus diesem Urdatum
entwickelt hat. Unter Politik verstehe ich
jetzt nicht allein die Entwicklungen dort im
Nahen Osten, sondern auch die Einflussnahme des Westens. Es kann jetzt nicht
meine Aufgabe sein, die in diesem Buch
genannten Details zu wiederholen. Jedenfalls legt Lüders überzeugend dar, wie unter anderem auch der militärische Einmarsch unter G. Bush in den Irak, die Entstehung des islamischen Terrorismus bis
hin zur augenblicklichen Unübersichtlichkeit der politischen Situation im Nahen
Osten, Elemente einer Geschichte sind,
die jenen genannten Sündenfall möglicherweise nicht als alleinige Ursache hat,
aber sich doch in entscheidender Weise
politischen Entscheidungen des Westens
verdankt, die mit diesem Urdatum zusammenhängen und kaum anders als imperialistisch bezeichnet werden können.
Was Michael Lüders konzentriert für die islamische Welt, den Nahen Osten, entfaltet,
könnte für andere Bereiche unserer Welt
und die jeweiligen politischen Zusammenhänge gezeigt werden. Auch wenn unser
Wissen (ich denke, es geht vielen wie mir)
zum Teil bruchstückhaft ist und uns viele
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 327
Zusammenhänge nicht durchsichtig genug
sind, haben wir durch unser kirchliches Engagement über Brot für die Welt, Misereor,
die Missionspresse (etwa „Eine Welt“) und
andere doch viel Einblick bekommen in
Verhältnisse in anderen Teilen unserer
Welt. Dabei ist uns deutlich geworden, wie
zum Beispiel der Kolonialismus weiter gewirkt hat und noch immer wirkt. Und da Kolonialismus wirtschaftliche Vorteile auf Kosten der früheren Kolonien als entscheidende Ursache hat, geht es in der Folge
dieser anderen Sündenfälle vor allem um
Armut bzw. Verarmung, starke soziale Unterschiede und vieles mehr. Wie stark diese Arten der Ausbeutung auch die Flora
und Fauna dieser Länder beeinträchtigen,
muss ich in diesem Zusammenhang außer
Acht lassen, obwohl es spannend wäre zu
untersuchen, wie sich die Ausbeutung von
Menschen auf die Ausbeutung der Natur
verschoben hat.
es Amerika und Europa und wohl auch in
vielen anderen Bereichen unserer Welt zu
einer erneuten militärischen Aufrüstung,
zur Optimierung der Waffen und Ausrüstung, darüber hinaus zu immer neuen
Einsätzen hier und dort in unserer Welt,
die gewöhnlich zunächst (euphemistisch)
als humanitäre Einsätze bezeichnet werden und sofort oder bald ein Teil des militärischen Vorgehens werden. Wie Wirtschaft angeblich nur gesund ist, wenn sie
wächst, so scheint auch die militärische
Kraft nur gesund zu sein, wenn sie in ihren
Möglichkeiten dem Gegner immer ein
Stück voraus ist, was unvermeidlich zum
Kreislauf des Wettrüstens führt.
Nun lassen sich Entscheidungen und Prozesse früherer Zeit nicht mehr rückgängig
machen. Das gilt sogar für Vorgänge, die
uns noch historisch relativ nahe sind. Denn
sobald etwas auf den Weg gebracht ist,
beginnt dessen Wirkungsgeschichte.
Dann entsteht als positivste Möglichkeit
die Frage, welche Alternativen uns angesichts dieser Wirkungsgeschichte für unser politisches Handeln bleiben.
Nun hat dieser Tage der Bundestag fast
einstimmig für Völkermord erklärt, was vor
100 Jahren durch den Vorgängerstaat der
heutigen Türkei an den Armeniern geschehen ist. Dabei könnte jemand einwenden,
es sei leicht, nicht sich selbst, sondern ein
anderes Land des Völkermordes zu bezichtigen. Doch wird beim Blick in die damalige Weltgeschichte klar, inwiefern
Deutschland durch den ersten Weltkrieg
auch an dem mitbeteiligt war, was in jenem
Teil Asiens, dem Osmanischen Reich, damals geschehen ist. Insofern ist die Anerkennung dieses Geschehens als Völkermord zumindest ansatzweise auch Eingeständnis eigener, also deutscher Mitschuld.
Wir erleben auch in Europa den Terrorismus radikaler Gruppen. Und wir erleben,
wie die Politik gemeinhin darauf reagiert:
Da Sicherheit bei uns ein sehr hohes Gut
darstellt und ein Politiker kaum gewählt
würde, wenn er nicht Sicherheit als ein
zentrales Anliegen nennen würde, kommt
Was von deutscher Seite gegenüber den
Hereros in Südwestafrika geäußert wurde3,
kam zwar spät, vielleicht zu spät, aber ich
möchte auch das werten als Schuldeingeständnis und als Versuch, über dieses
Schuldeingeständnis ein neues Verhältnis,
neues Vertrauen aufzubauen.
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
327
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 328
Ein weiteres Beispiel sind für mich die
Worte nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, die die Schuld der Deutschen im 3.
Reich und am Weltkrieg benennen 4. Nun
sind uns die Defizite dieser Äußerungen
durchaus bewusst: die grauenhafte Schuld
an den Juden und anderen nicht-arischen
Volksgruppen bleibt noch ausgeblendet.
Und natürlich gab es auch Widerstände
gegen das, was hier bekannt und zugestanden wurde. Was hier geäußert wurde,
war nicht das einzige und wohl auch nicht
das Entscheidende, was in der deutschen
Bevölkerung (ich denke jetzt in erster Linie
an Westdeutschland) sich nach dem 2.
Weltkrieg entwickelt hat. Und auch wenn
ein Neuanfang immer wieder gefährdet ist
und es immer Rückschläge auch beim Aufbau eines Vertrauensverhältnisses gibt,
können wir doch ein wenig stolz darauf
sein, dass wir es im Großen geschafft haben, zu den früheren Feinden ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, mit vielen Völkern freundschaftlich verbunden zu sein,
ja, jetzt in dieser beeindruckenden Weise
offen zu sein für die Flüchtlinge aus vielen
Ländern Afrikas und des nahen Ostens.
Welche Rolle dabei politische Bußäußerungen gespielt haben, kann ich nicht einschätzen.
So freue ich mich auch, wenn wir uns angesichts eines so großen Ereignisses wie
des Reformationsjubiläums auch die
Schattenseiten bewusst machen. Wo wir
uns dem großen Jubiläum der Reformation nähern, wird Martin Luther natürlich
auch als Glaubensheld und Kirchenreformator gewürdigt. Aber zum Glück nicht
nur. Natürlich kann man unterschiedlicher
Ansicht sein, welche Rolle er z. B. für den
328
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
weiteren deutschen Antisemitismus gespielt hat. Wir nehmen ja deutliche Unterschiede wahr zwischen seinen frühen und
seinen späteren Äußerungen zum Judentum. Mir kommt es im Zusammenhang mit
dem oben Ausgeführten darauf an, dass
auch hier Irrtümer, Fehler, Schuld benannt
werden, weil mir dadurch eine neue Würdigung des Reformators und der Reformation möglich erscheint. So wie in den oben
genannten Beispielen ein neues Miteinander mit anderen Völkern dieser Erde und
gesellschaftlichen Gruppen möglich geworden zu sein scheint.
Um nun bei Luther zu bleiben und mein
Anliegen zu nennen: Was für uns als Urdatum der Reformation gilt, ist der Thesenanschlag in Wittenberg. Luther betont bekanntlich, das ganze Leben eines Christen
solle Buße und Umkehr sein. Nun weiß ich
selber nicht, wie stark es an Luther selber
lag, dass sich Buße in der weiteren Frömmigkeitspraxis sehr stark auf den einzelnen Menschen und sein Verhältnis zu Gott
bezogen hat. Immerhin betont er in einer
der ersten Thesen, dass die Buße auch
nach außen wirken und so wirksam werden solle (5). Doch wie stark sich in der
Frömmigkeitsgeschichte Religion überhaupt zur Sache des jeweils Einzelnen
entwickelt hat, so war dieselbe Entwicklung für eine Praxis wie die Buße geradezu
unvermeidlich: Nach meinem Eindruck hat
sich Buße stark auf unser Verhältnis gegenüber Gott bzw. Jesus konzentriert, unsere sozialen und sonstigen Bezüge dabei
aber weniger in den Blick genommen.
Wenn ich nun Luthers 95 Thesen verbinde
mit dem, was ich oben zu politischen Vorgängen und Entscheidungen gesagt habe,
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 329
lässt sich mein Interesse leicht erkennen:
Ich möchte die für unser Leben so wichtige
Buße zu einem politischen Vorgang werden lassen – und zwar als Chance für einen Neuanfang. Das ist mehr als die neue
Einführung eines bundesweiten Buß- und
Bettags als Feiertag. Zumal ich den Eindruck habe: Von den wenigen, die ausgerechnet an einem Mittwoch mitten im November einen Gottesdienst besuchen,
womöglich sogar während ihrer Arbeitszeit, geht ein deutlicheres Zeichen aus als
von den wenigen, die an einem noch geduldeten, aber in der Öffentlichkeit kaum
mehr verstandenen Feiertag ihrer Pflicht
zum Gottesdienstbesuch nachkommen.
Mir geht es angesichts einer bedrohten
und bedrohlichen Weltsituation um eine Alternative zur Spirale des Weiter- und
Nachrüstens, zur wachsenden Angst und
dem zunehmenden Bedürfnis nach immer
größerer Sicherheit, Absicherung. Natürlich ist mir bewusst, wie schwierig bei einem seit Jahrzehnten, womöglich Jahrhunderten eingeschlagenen Weg eine
Richtungsänderung ist. Wer bisher auf
Schläge mit Gegenschlägen reagiert hat,
findet nicht leicht hinaus aus diesem tödlichen Hin und Her. Trotzdem wage ich meine These: Das Eingeständnis der politischen und wirtschaftlichen Schuld auch
Deutschlands, anderer Nationen aber
auch, kann einen Neuanfang der Vertrauensbildung setzen. Ich mache mir und anderen keine Illusionen: Das kann und wird
mit Sicherheit ein langer und mühsamer
Weg werden und es kann beim einen und
der anderen darüber auch ein Resignieren
geben, ob der jeweils eingeschlagene
Weg der richtige ist. Ich behaupte ja auch
nicht, dass es der einzige Weg ist, der mir
als Alternative zur amerikanisch-europäischen Politik der Terrorbekämpfung als
möglich erscheint. Aber ich bin fest überzeugt von dem, was aus dem christlichen
Glauben heraus auch im politischen Miteinander möglich ist. Wir sollten nicht die
Augen zumachen, sondern die Augen öffnen dafür, was Politik, unsere und die anderer Völker, bewirkt oder angestellt hat,
unserer Welt weiter geholfen oder Menschen in Abhängigkeit, Armut und Angst
gebracht hat. Und benennen, was durch
uns geschehen ist – gerade denen gegenüber, die Empfänger oder Opfer dessen geworden sind, was bei uns und durch
uns geschehen ist. Eine solche Buße kann
einen Neuanfang ermöglichen, kann die
Grundlage legen für ein neues Miteinander. Wahrhaftig sein sich selbst gegenüber
und so einen Beitrag leisten, damit Vertrauen sich entfalten und entwickeln kann.
Auch bei Terror und Krieg sollte Politik
nicht bloß reagieren, sondern fähig werden, einen Weg zu entwerfen, auf dem aus
der Einsicht in die eigene Schuld Vertrauen wächst und gemeinsames Leben ohne
Angst voreinander auf dem Weg in die Zukunft möglich wird.
❚ Klaus Paetzholdt, Karlsruhe
1 Michael Lüders, Wer den Wind sät, Was westliche Politik
im Orient anrichtet, 13. Auflage, München 2015.
2 Der Begriff „Sündenfall“ taucht gleich in der Überschrift
zum 1. Kapitel nach der Einführung auf: Putsch in Teheran: Der Sündenfall.
4 Heide-Marie Wieczorek-Zeuls Äußerungen 1904, also
100 Jahre danach, bei einem Besuch in Namibia, die unter anderem die Forderung nach Wiedergutmachungsleistungen zur Folge hatte.
5 Das Stuttgarter Schuldbekenntnis 1945 und das Darmstädter Wort 1947.5 Martin Luther: 95 Thesen, hier These 3.
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
329
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 330
Zur Diskussion
Künftiges
Denk und entscheide von der Zukunft her,
wo alle Wesen sich um Jesus sammeln
als Gott dem Herrn, ihm jubeln oder stammeln,
denn Fluchtpunkt aller Wege ist doch er.
Denk und entscheide nicht bloß ephemer,
wo alle nur ums Glück der Stunde bammeln,
aus Lust des Augenblicks das Ziel vergammeln,
in sich gekehrt den Blick und erdenschwer.
Denk und entscheide dich für das, was bleibt,
für ihn, der und den keine Zeit vertreibt.
Er kommt und wird mit sich die Zukunft füllen.
Dann werden Schleier, dran das Schicksal wirkt,
und jede Formel, die die Zukunft birgt,
und alle Rätsel ihn allein enthüllen.
❚ Helge Heissler, Königsfeld
330
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 331
Aus dem Pfarrverein
Deutscher Pfarrerinnen- und Pfarrertag
Montag, 26. September bis Mittwoch,
28. September 2016 in Lübeck-Travemünde
Informationen und Anmeldeformular finden Sie im Deutschen Pfarrerblatt 5 / 2016
Anmeldeschluss 31. Juli 2016 bei der Geschäftsstelle des Dachverbandes in Kassel.
Der Badische Pfarrverein gewährt einen Teilnehmer-Zuschuss von
100 Euro pro Mitglied nach Ablauf des Deutschen Pfarrertages anhand der dort
geführten Teilnehmerliste. Eine Beantragung ist nicht erforderlich.
Der Zuschuss wird im November 2016 ausbezahlt.
Delegierte und Teilnehmende der Sonderkonferenzen
wurden bereits vorab eingeladen.
✂
Förderverein Pfarrhaushilfe • Förderverein Pfarrhaushilfe • Förderverein Pfarrhaushilfe
Bitte ausfüllen und einsenden an:
Förderverein Pfarrhaushilfe e. V., Postfach 22 26, 76010 Karlsruhe.
BBBank Karlsruhe, IBAN: DE61 6609 0800 0002 4128 88, BIC: GENODE61BBB
Name und Anschrift: ________________________________________________________
Bitte ziehen Sie – widerruflich – von meinem Konto Nr.: ________________________
bei (Bank): _________________________________________ BLZ: _________________
❏ einmalig
EUR _____________
❏ monatlich
EUR _____________
❏ vierteljährlich
EUR _____________ ein.
Datum: _____________ Unterschrift: ___________________________________________
Eine Spendenbescheinigung (Zuwendungsbestätigung) erhalten Sie automatisch
Ende Januar des Folgejahres.
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
331
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 332
Aus dem Pfarrverein
Unsere Leistungen:
• Regelmäßige Information unserer
Mitglieder in den Badischen Pfarrvereinsblättern über berufsständische
und aktuelle kirchliche Fragen
• Unterstützungen im Krankheitsfall
durch die angegliederte Krankenhilfe
als Beihilfeergänzung
• Unterstützungen im Todesfall
• Enge Zusammenarbeit mit der Pfarrvertretung als gewählter Interessenvertretung der badischen Pfarrerschaft
• Tag der badischen Pfarrerinnen und
Pfarrer als Forum der Kommunikation,
jährlich mit der Mitgliederversammlung, der Ehrung der Ordinationsjubilare und dem Treffen der Neumitglieder
• Bezug des Deutschen Pfarrerblattes
als monatliche Publikation des Verbandes evangelischer Pfarrerinnen
und Pfarrer in Deutschland e. V. (Dachverband)
• Herausgabe des Pfarramtskalenders
und des Badischen Pfarrkalenders,
dem Adressenverzeichnis aller badischen Pfarrerinnen und Pfarrer, der
Ruheständler und Witwen
• Verbindung zu den Pfarrvereinen der
anderen Landeskirchen durch den
Dachverband und zur Pfarrerschaft
im Ausland durch die Konferenz europäischer Pfarrvereine und Pfarrvertretungen (KEP)
332
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
• Unterstützungen in besonderen
Notlagensituationen
• Talarbeihilfe für die Erstausstattung
bei LehrvikarInnen
• Beihilfen und zinsfreie Darlehen für
studierende Kinder durch den Dachverband
• Hilfe für bedürftige Angehörige des
Berufsstandes, ihre Hinterbliebenen
und die in Ausbildung befindlichen Pfarrerinnen und Pfarrer mit Schwerpunkt
Osteuropa durch den angegliederten
Förderverein Pfarrhaushilfe e. V.
• Kostenlose Erstberatung in dienstrechtlichen Angelegenheiten durch einen Vertragsanwalt
• Günstige Bedingungen bei den Versicherern im Raum der Kirchen (Bruderhilfe/Pax/Familienfürsorge)
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 333
Aus dem Pfarrverein
Direktabrechnung in der Beihilfe –
nähere Infos zum Verfahren
Seit dem 01. März 2016 können Aufwendungen für stationäre Leistungen direkt mit der Beihilfestelle abgerechnet
werden. Krankenhäuser, Rehakliniken
und Pflegeheime können ihre Rechnungen seitdem per Kurzantrag unmittelbar
beim KVBW oder LBV einreichen, die
Beihilfezahlung erfolgt direkt an die Einrichtung.
Das Antragsverfahren läuft wie folgt ab:
Sie müssen einen Kurzantrag ausfüllen
und diesen unterschrieben an die entsprechende Einrichtung (Krankenhaus,
Klinik, Heim) weitergeben. Den Kurzantrag können Sie telefonisch oder per EMail beim KVBW anfordern. Es gibt 3
verschiedene Vordrucke (Krankenhaus,
Rehabilitation, Pflege), aus denen der jeweils passende verwendet werden muss.
Auch auf der Homepage des KVBW sind
die Formulare abrufbar.
Weitere Infos zum Verfahren erhalten Sie
bei Ihrer Beihilfestelle.
In der Krankenhilfe des Pfarrvereins
bleibt alles beim Alten: Wie bisher erhalten Sie anschließend von Ihrer Beihilfestelle einen Bescheid, in dem die Zahlungen dargestellt sind. Diesen reichen
Sie bitte vollständig, im Original und
ohne Belege bei uns ein. Pflegekosten
sind entsprechend zu kennzeichnen als
„Pflege“ – hier ist es erforderlich, Belege
vorzulegen.
Auch weiterhin bitte bei stationären Aufenthalten angeben, dass Sie Beihilfeberechtige/r und Selbstzahler sind.
Mitverdienende Angehörige:
Beitragspflicht auch bei Rentenbezug
Wenn EhepartnerInnen von Mitgliedern
eine eigene Rente beziehen, werden dadurch in der Krankenhilfe des Pfarrvereins
Beiträge fällig. Voraussetzung ist, dass es
sich dabei um eine Rente aus Berufstätigkeit handelt und die Ehepartnerin/der Ehepartner in der Krankenhilfe des Pfarrvereins mitberücksichtigt werden möchte.
Ein Rentenbezug von mitberücksichtigten Angehörigen muss uns immer gemeldet werden!
Liegt die Rente unter einem Bruttobetrag
von monatlich 800 Euro, wird kein Beitrag erhoben. Zwischen 800 und 1.700
Euro entsteht ab 2016 ein Monatsbeitrag
in Höhe von 70 Euro, über 1.700 Euro
werden 7% der Bruttorente fällig.
Generell gilt: wer in der Krankenhilfe mitberücksichtigt werden möchte, muss vorher angemeldet werden.
Adressänderungen
Aus aktuellem Anlass möchten wir noch
einmal darauf hinweisen, dass die Geschäftsstelle des Badischen Pfarrvereins
bei Adressänderungen dringend auf Ihre
Mithilfe angewiesen ist. Wenn Sie aufgrund eines Stellenwechsels oder aus privaten Gründen umziehen, bekommen wir
dies nicht vom Evangelischen Oberkirchenrat oder von anderer Stelle gemeldet.
Damit unser Badischer Pfarrkalender jedoch aktuell bleibt und die Ihnen zugedachte Post weiterhin richtig zugestellt
werden kann, benötigen wir stets Ihre aktuelle Anschrift. Sollte sich diese ändern,
bitten wir Sie daher, uns die neue Adresse
so bald wie möglich mitzuteilen.
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
333
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 334
Aus der Pfarrvertretung
Aktuelles
D
er Verband der Pfarrvereine in der
EKD ist übereingekommen, den
Vorsitz ab 2017 hauptamtlich zu besetzen und zu finanzieren – zur Zeit ist der
Vorsitzende Andreas Kahnt von der Oldenburgischen Landeskirche für diese
Aufgabe freigestellt; diese Freistellung endet allerdings im kommenden Jahr. Die
EKD wird sich, obwohl der Verband u. a.
die Aufgabe der Pfarrvertretung auf EKDEbene übernimmt, nicht an der Finanzierung beteiligen. Das ist nun der Punkt, wo
die Frage des hauptamtlichen Vorsitzes
uns als Pfarrvertretung interessieren
muss: Auf der einen Seite werden immer
mehr rechtliche Regelungen nicht mehr
auf landeskirchlicher Ebene gemacht,
sondern auf EKD-Ebene; auf der anderen
Seite wird die professionelle Wahrnehmung der Pfarrvertretungsaufgaben – anders als in den meisten Landeskirchen! –
von der EKD nicht durch Gewährung von
personellen und materiellen Ressourcen
unterstützt. Zwar gibt es auf EKD-Ebene
eine paritätisch besetzte dienstrechtliche
Kommission; der koordinatorische Aufwand des Verbandsvorsitzenden wird dabei aber abweichend von im Arbeitsleben
üblichen Standards nicht anerkannt.
Die volle Finanzierung des Verbandsvorsitzenden durch die Vereine ist daher eine
Maßnahme, die für die professionelle
Amtsführung notwendig ist, an der sich die
EKD zukünftig aber auch beteiligen sollte.
Zu zwei pfarrdienstrechtlichen Themen
hat die Frühjahrssynode Gesetze be334
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
schlossen, zu amtsärztlichen Untersuchungen und zu Leistungsbescheiden:
• Statt amtsärztlichen Untersuchungen
sollen zukünftig auch fachärztliche Untersuchungen möglich sein. Der Oberkirchenrat begründet dieses Gesetz damit, dass Gesundheitsämter zunehmend
nicht oder erst mit großer zeitlicher Verzögerung amtsärztliche Untersuchungen für
die Landeskirche durchführen. Die Pfarrvertretung hat in ihrer Stellungnahme herausgestellt, dass sie bei Verfahren zur
Feststellung der Dienstunfähigkeit die Begutachtung durch Amtsärztinnen bzw. ärzte aufgrund ihrer Neutralität als beste
Lösung ansieht. Wir haben daher für eine
Formulierung plädiert, nach der fachärztliche Untersuchungen nur dann möglich
sein sollen, wenn Gesundheitsämter
amtsärztliche Untersuchungen ablehnen
bzw. nur mit erheblichen Wartezeiten
durchzuführen bereit sind. Die Synode hat
diese Formulierung auf Vorschlag des
Oberkirchenrats abgelehnt, um nicht zusätzliche Hürden für fachärztliche Untersuchungen aufzubauen. Sollte als Folge
dieser Veränderung bei Betroffenen der
Eindruck entstehen, dass Gutachten
deutlich den Interessen ihrer Finanziers
(d.h. der Landeskirche) folgen
• ich bin in solchen Fällen dankbar für
eine Rückmeldung an mich – kann ihnen
nur geraten werden, eigene fachärztliche
Gutachten vorzulegen, die dann zumindest verdeutlichen, dass der medizinische Sachverhalt klärungsbedürftig ist.
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 335
• den Leistungsbescheiden geht es um
ein Verfahren zur Regelung vermögensrechtlicher Ansprüche aus dem Pfarrdienstverhältnis. Eine Rolle kann das
z. B. spielen, wenn PfarrerInnen in ihrer
Funktion als KGR-Vorsitzende ihre Nebenkosten nicht abgerechnet haben
und nun die Nachzahlung zu regeln ist.
Die Pfarrvertretung hat gegen diese Leistungsbescheide keine Einwendungen
gehabt.
Die Pfarrbesoldung war Gegenstand
zweier Rechtsverordnungen zur Ausführung des EKD-Besoldungs- und Versorgungsgesetzes, die der Oberkirchenrat bzw. der Landeskirchenrat im Mai beschlossen haben. Bei der Rechtsverordnung des Landeskirchenrats ist bemerkenswert, dass in § 5 zukünftig eine Dynamisierung der 1000 €-Zulage für die
PfarrerInnen im privatrechtlichen Anstellungsverhältnis vorgesehen ist
(zukünftig nimmt diese seit 1.1.15 gewährte Zulage an den allgemeinen Besoldungserhöhungen teil; diese Erhöhung wird im GVBl veröffentlicht).
Außerdem wird diese Zulage auf LehrvikarInnen im Angestelltenverhältnis ausgeweitet (500 €).
Die Veröffentlichung der Besoldungstabelle (für Bundesbesoldung mit Bemessungssatz 98 %) im Gesetzes- und
Verordnungsblatt schafft Transparenz
über die Gehaltshöhe.
In § 8 (4) wird begrüßenswerter Weise
geregelt, dass für VersorgungsempfängerInnen bis zur nächsten Besoldungserhöhung der § 50f des Beamtenversorgungsgesetzes ausgesetzt
wird, um Ausgleichszulagen zu vermei-
den. Nicht geregelt ist damit die Frage,
ob diese Aussetzung auch zukünftig gelten soll, wenn die Höhe der Versorgungsleistungen auch über die nächste Besoldungserhöhung hinaus beim Land höher
ist als beim Bund.
Die Rechtsverordnung des Oberkirchenrats übernimmt eine alte Regelung aus
dem Jahr 2001, die aber bei dieser Gelegenheit hier wieder einmal ins Gedächtnis gerufen werden soll: Auf Antrag können LehrvikarInnen eine Mietbeihilfe
erhalten, wenn die Kaltmiete (bei angemessener Wohnungsgröße) 30 % des Nettoeinkommens (bzw. bei Ehepaaren 30 %
des Nettogesamteinkommens) übersteigt.
Der übersteigende Betrag wird auf Antrag zu zwei Dritteln übernommen; die
Obergrenze beträgt 260 €. Diese 260 €
können überschritten werden, wenn
durch Pflege oder Erziehung von Angehörigen die Mietaufwendungen besonders hoch sind. Die Pfarrvertretung hätte
sich nach 15 Jahren eine Anpassung der
Obergrenze an die gestiegenen Mietkosten gewünscht.
Von einem Kollegen hörte ich die Beschwerde über einen Schuldekan, der
die Deputatsermäßigung (um 2 Stunden bzw. bei 50 bis 80 % -Anstellung 1
Stunde) im Religionsunterricht ab Beginn des Schuljahrs, in dem man 60
wird, nicht selbstverständlich umgesetzt
hat. In der Rechtsverordnung über die
Ermäßigung des Religionsunterrichtsdeputats ist zu lesen, dass diese Ermäßigung auf Antrag beim Schuldekan bzw.
der Schuldekanin erfolgt. Formal ist dieser Schuldekan also im Recht. Allerdings
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
335
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 336
Aus der Pfarrvertretung
kann von KollegInnen nicht unbedingt erwartet werden, dass sie ExpertInnen für
Kirchenrecht sind; m.a.W. es ist eine Frage der Fairness, auf eine solche Möglichkeit hinzuweisen. Noch besser wäre es in
meinen Augen, die Formulierung „auf Antrag“ in der RVO zu streichen.
Ebenfalls auf Antrag (beim EOK auf dem
Dienstweg) wird ab Beginn des Schuljahrs, in dem das 63. Lebensjahr vollendet wird, das RU-Deputat vollständig
erlassen. Für beide Anträge gilt, dass sie
spätestens bis zum 1. April zu stellen
sind. Wer trotz Antragsmöglichkeit im bisherigen Umfang unterrichtet, erhält das
nicht vergütet!
Ebenfalls zum 1. April sind Anträge auf
Deputatsermäßigungen wegen nachweisbarer gesundheitlicher Beeinträchtigung zu stellen.
Weitere Reduktionsmöglichkeiten bestehen für Hospitation (2 Stunden in den ersten beiden Amtsjahren und dann nach 7
Jahren wieder) bzw. für religionspädagogische regionale (2 Stunden) oder Intensiv- (alle 7 Jahre für ein Schuljahr bei verbleibenden 2 Stunden RU) Fortbildungen.
Sämtliche Regelungen finden sich auf
www.kirchenrecht-baden.de in der Volltextsuche unter EV-ERU.
Von einer Kollegin bekam ich nach der
Besoldungsumstellung die Rückmeldung, dass sie 5 € im Monat weniger erhält als bisher. Die Zusage der Landeskirche, dass (als Folge des Prinzips der
Besitzstandswahrung) niemand weniger
336
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
bekommt als vorher, weil eventuelle Verluste durch eine Ausgleichszulage kompensiert werden, trifft beim Blick auf den
Überweisungsbetrag also nicht in allen
Fällen zu. Die Ursache liegt allerdings
nicht im Gehalt selbst, sondern im Berechnungsverfahren für die Pfarrvereinsbeiträge. Sie werden aus 7 % des Grundbezugs (plus, falls es sie gibt, der Ausgleichszulage) errechnet, nicht aber aus
Verheirateten- und Kinderzuschlägen. Da
aber die Ausgleichszulage nur dafür
sorgt, dass die Summe von Grundbezug
und Zuschlägen nicht kleiner als vor der
Besoldungsumstellung ausfällt, profitiert
der Pfarrverein, wenn sich beim Gesamtbrutto das Verhältnis von Grundbezug
und Zuschlägen Richtung Grundbezug
verschiebt. Der Pfarrverein kann allerdings nichts dafür, wenn er von der Besoldungsumstellung profitiert; insofern
macht es wenig Sinn, dort zu protestieren. Angesichts von möglichen Verlusten
beim Überweisungsbetrag ist es umso
wichtiger, die vermögenswirksamen
Leistungen zu nutzen: Seit dem 1.7. sind
als Folge der Besoldungsumstellung die
VWL in Höhe von 6,50 € pro Monat nach
dreieinhalb Jahren wieder eingeführt
worden. Da mittlerweile KollegInnen eingestellt wurden, die die VWL noch nicht
kennengelernt haben, hier der Hinweis,
dass für den Bezug die Mitteilung an den
EOK über die Art der Anlage (z. B.
Bausparvertrag, Aktienfonds, Banksparplan), das Institut und die Kontonummer
erforderlich sind. Ohne diese Mitteilung
gehen die 78 € im Jahr verloren.
❚ Volker Matthaei, Stutensee
[email protected]
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 337
Buchbesprechung
Rolf-Ulrich Kunze
„Möge Gott unserer
Kirche helfen!”
Theologiepolitik, Kirchenkampf und Auseinandersetzungen mit dem NS-Regime: Die evangelische
Landeskirche Badens 1933-1945, Stuttgart: Kohlhammer 2015, 514 Seiten, 39,99 Euro
Verehrte Synode,
der Bitte des Synodenpräsidiums, ihnen
das Buch von Rolf-Dietrich Kunze mit
dem Titel „Möge Gott unserer Kirche helfen!“ Theologiepolitik, Kirchenkampf und
Auseinandersetzung mit dem NS-Regime: Die Evangelische Landeskirche Badens 1933-1945 vorzustellen, komme ich
gerne nach. Es führt seine Leser zurück
in eine Zeit heftiger innerkirchlicher Konflikte angesichts der Politik des NS - Regimes, die das Ziel der Gleichschaltung
der evangelischen Landeskirchen in einer regimetreuen einheitlichen Reichskirche unter der Leitung des Reichsbischofs
verfolgte. Es ging im Kirchenkampf darum, ob die nationalsozialistische Herrschaft mit ihrem Totalitätsanspruch
einschließlich des Führerprinzips und
des Arierparagraphen, der besonders Juden aus dem öffentlichen Dienst ausschloss, auch in den Landeskirchen gilt
oder ob die Landeskirchen in ihrem Auftrag und ihrer Struktur weitgehend selbständig blieben. Man spricht hier von intakten Landeskirchen „mit legalen Kirchenleitungen unter Abwehr der Deutschen
Christen“ oder zerstörten Landeskirchen
„mit konkurrierendem deutschchristlichem und bekennendem Kirchenregi-
ment“ (16). Intakt waren die Landeskirchen Bayerns, Württembergs und Hannovers, die sich der Reichskirche nicht
unterstellten. Der Autor vertritt nun die
These, dass die Badische Landeskirche
nach ihrer Ausgliederung aus der Reichskirche im November 1934 die vierte intakte Landeskirche war. In den Entscheidungsjahren des Kirchenkampfes 1933
und 1934 wurden dafür die Weichen gestellt. Hier liegt auch der Schwerpunkt
der Untersuchung von Rolf-Dietrich Kunze. Er ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Institut für Geschichte des KIT, Karlsruher Institut für Technologie. Der Autor ist also kein Theologie,
sondern ein kritischer Historiker. Schon
damit bringt er eine neue Perspektive in
die evangelische Zeitgeschichtsschreibung, die „fast ausschließlich von Theologen bestimmt“ (11) wurde. Dafür wählt
Kunze einen besonderen Zugang: Die
Sozial- und Mentalitätsgeschichte.
Ziel seines Forschungsprojektes ist es,
„eine exemplarische, biografisch-sozialgeschichtlich und mentalitätsgeschichtlich konturierte Studie zur Geschichte der
Evangelischen Landeskirche in Baden
1933-1945 zu erarbeiten, bei der die Erfahrungsräume und Selbstbildkonstruktionen von Pfarrern im Mittelpunkt der
Betrachtung stehen ... Dabei geht es u. a.
um das Verhältnis und den Kontext von
Anpassung und Autonomiebehauptung
der gesellschaftlichen Großformation
evangelische Kirche in einer modernen
Diktatur, schließlich auch um Widerstandsgeschichte“ (17). Kunze stellt also
nicht die großen kirchenpolitischen Zusammenhänge in den Mittelpunkt. Er will
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
337
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 338
„am Beispiel der Geistlichen der badischen Landeskirche ... zeigen, inwieweit
sich Elemente traditioneller politischer
Kultur auf lokaler Ebene gegenüber dem
totalitären Anspruch des Regimes behaupten konnten bzw. in welchem Ausmaß es dem Nationalsozialismus gelang
die (milieuspezifischen) Räume alltäglicher Erfahrung zu besetzen“ (23). Das ist
angesichts der Veränderungen in der politischen Kultur, die wir gegenwärtig in
Deutschland erleben, höchst aktuell.
Die evangelische Landeskirche in Baden
eignet sich gut für eine solche Studie,
weil die historischen Quellen umfassend
zugänglich sind. Die Personalakten aller
„hauptamtlichen Geistlichen der Landeskirche zwischen 1933 und 1945“ (15)
sind erhalten; eine Quellenedition "Die
Evangelische Landeskirche in Baden im
„Dritten Reich“ in sechs Bänden liegt vor,
dazu eine Reihe von Studien.
Kunze entfaltet seinen Stoff und die Ergebnisse der Studie in neun Kapiteln.
Der einleitenden Erläuterung von Forschungsstand, Methoden und erkenntnisleitenden Fragen folgt ein kirchen- und
theologiegeschichtlicher Überblick. Eine
eigene Untersuchung ist der Theologiepolitik in der badischen evangelischen
Publizistik gewidmet. Die Theologie- und
kirchenpolitischen Formationen, genauer
die badische Bekenntnisgemeinschaft
und die Deutschen Christen werden untersucht. Eine Fallstudie über einen Konflikt in Sankt Georgen und ein Vergleich
des Kirchenkampfes in Württemberg und
der Pfalz schließen sich an. Den Abschluss bilden „Bilanz und Desiderate für
338
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
die Forschung“ sowie ein bemerkenswerter ausführlicher Anhang. Er bietet nicht
nur eine Kurzdarstellung der kirchenpolitischen Gruppierung und eine Chronologie der „Hauptereignisse“, sondern stellt
„sozial- und mentalitätsgeschichtliche
Muster“ und kurze Lebensläufe der
führenden evangelischen Nationalsozialisten, Deutschen Christen und der badischen Pfarrer, die keiner nationalsozialistischen Gruppierung angehörten, dar.
Um die Grundthese des Buches zu verstehen, bedarf es der Erinnerung an die
grundlegenden kirchenpolitischen Ereignisse und Zusammenhänge der damaligen Zeit. Das NS-Regime konnte seinen
Machtanspruch im Alltag nicht ohne die
großen Kirchen durchsetzen. Es umwarb
die Kirchen und verfolgte taktisch eine
auf Auflösung der Landeskirchen und
Vereinheitlichung zielende Politik. Obwohl der Nationalsozialismus im Kern antichristlich war und z. B. in Alfred Rosenbergs Manifest „Der Mythos des 20.
Jahrhunderts“ teilweise selbst religiöse
Züge annahm und in einzelnen einflussreichen Gruppierungen eine germanische Religiosität beförderte, enthielt das
Parteiprogramm ein Bekenntnis zum
„Positiven Christentum“. Darauf beriefen
sich die evangelischen Nationalsozialisten immer wieder, um den christlichen
Charakter der „Bewegung“ aufzuzeigen.
Sie schlossen sich 1932 in der Glaubensbewegung „Deutsche Christen“ zusammen. In den Kirchenwahlen seit 1932
drängten die Deutschen Christen massiv
in die Synoden. Nach der Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 wurde die
Deutsche Evangelische Kirche durch ei-
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 339
ne Änderung der Kirchenverfassung in
eine Reichskirche unter der Leitung eines Reichsbischofs umgewandelt. Der
Königsberger Wehrkreispfarrer Ludwig
Müller wurde von Hitler zum Bevollmächtigten für die Evangelische Kirche ernannt. Die neu gebildete Deutsche Evangelische Generalsynode der Deutschen
Christen wählte ihn im September 1933
einstimmig zum Reichsbischof. Der von
der Deutschen Evangelischen Kirche designierte Reichsbischof Friedrich von Bodelschwingh war im Juni bereits auf
Druck der Nationalsozialisten zurückgetreten. Der Reichsbischof setzte das
Führerprinzip in der Kirche um, beanspruchte direktes Weisungsrecht für die
Landeskirchen und gliederte die evangelische Jugend in die Hitlerjugend ein.
Gegen die Ernennung von Ludwig Müller
zum Reichsbischof und die Einführung
des Arierparagraphen in der Kirche bildete sich am 21. September 1933 der
Pfarrernotbund, in dem Pfarrer Martin
Niemöller aus Berlin-Dahlem eine zentrale Rolle spielte. Ihm schlossen sich
zahlreiche Pfarrer in den Landeskirchen
an. Er wurde zum Vorläufer der Bekennenden Kirche, die im Mai 1934 in der
Bekenntnissynode von Barmen die Lehren der Deutschen Christen als unchristliche Irrlehren „verwarf“ und gegen die
Reichskirche den Anspruch erhob, die
einzige rechtmäßige evangelische Kirche zu sein und mit einem „Notrecht“ eigene Leitungsämter- und Verwaltungsstrukturen schuf.
Parallel zum Umbau der Reichskirche
wurde im Juni 1933 auch die Verfassung
der Vereinigten evangelisch-protestanti-
schen Landeskirche in Baden umgebaut.
Dabei spielten die kirchenpolitischen
Parteien in der Landessynode, die kirchlich Positiven, die Deutschen Christen,
die Liberalen und die religiösen Sozialisten eine Rolle. Die parlamentarische
Kirchenverfassung von 1919 mit einem
Kirchenpräsidenten als Vorsitzendem der
Kirchenregierung und EOK-Vorsitzendem, einem Prälaten als erstem Geistlichen der Landeskirche und einer von
Parteien geprägten Generalsynode wurde abgelöst. Dies geschah im Zusammenwirken der Gruppierungen der Deutschen Christen und der Kirchlich-Positiven. Das Amt des Landesbischofs wurde
eingeführt. der Evangelische Oberkirchenrat wurde als Kollegialbehörde installiert, der auch der Landesbischof angehört. Der EOK ist nicht mehr abhängig
von der Landessynode als Kirchenparlament. Die Organe der Landeskirche und
die Grundstrukturen ihres Zusammenwirkens, die bis heute bestimmend sind,
wurden im damaligen Umbau der Kirchenverfassung festgelegt. Sie war nicht
nur ein Produkt des Zeitgeistes, sondern
war auch darauf angelegt, der verbreiteten Unzufriedenheit mit der stark von
Auseinandersetzungen zwischen der
kirchlichen Parteien in der Synode und in
der Zusammensetzung des Oberkirchenrats bestimmten Kirchenverfassung der
Weimarer Zeit abzuhelfen.
Am 24.6.1933 wurde Prälat Julius Kühlewein zum Landesbischof gewählt. Kurz
darauf erhielt die Deutsche Evangelische
Kirche eine neue Verfassung, die durch
ein Reichsgesetz anerkannt wurde. Sie
schrieb vor, dass die Landessynoden
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
339
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 340
und die kirchlichen Organe aufgelöst und
neu gebildet werden mussten. In Baden
bildeten die Kirchlich-Positive Vereinigung und die Deutschen Christen eine
Einheitsliste und errangen die Mehrheit
in der neuen Landessynode. Dies zeigt,
dass es politisch eine große Nähe zwischen der Gruppe der Positiven und den
Deutschen Christen gab, kirchenpolitisch
jedoch Differenzen bezüglich der Eingliederung in die Reichskirche. Sie kamen
ein Jahr später im Juli 1934 zum Tragen
als ein Gesetzentwurf der Deutschen
Christen „zur Eingliederung der Landeskirche in die Reichskirche“ abgelehnt
wurde. Daraufhin wurde die Landessynode durch den von einer DC Mehrheit bestimmten erweiterten Oberkirchenrat aufgelöst. Er beschloss die Eingliederung
der Landeskirche in die Reichskirche.
Dies führte zum Protest der Kirchlich-Positiven Vereinigung, die den Beschluss
des Oberkirchenrats nicht für rechtmäßig
hielt. Die Bekenntnisfront unter den
Kirchlich-Positiven und in der Pfarrerschaft war seit der Gründung des Pfarrernotbunds in Baden im November 1933
und der Dahlemer und Barmer Synode
erstarkt. 260 badische Pfarrer und Vikare
hatten sich dem Reichsbruderrat der BK
unterstellt, während 111 der insgesamt
703 Badischen Pfarrer Deutsche Christen waren. 106 Pfarrer waren Parteimitglied, 50 gehörten keiner nationalsozialistischen Organisation an. Es drohte ein
Bruch in der Landeskirche. Der Landesverband der Positiven Vereinigung gründete im Juni 1934 einen badischen Bruderrat, der öffentlich scharfe Kritik am
Eingliederungsbeschluss übte. Die Zeit340
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
schrift „kirchlich-positive Blätter wandelte(n) sich zum Organ der badischen BK“
und bemühte sich, die Reichskirche als
bekenntnisfeindlich darzustellen: „das
letzte Ziel der Reichskirchenregierung
und der deutschen Christen (ist) die
überkonfessionelle Nationalkirche (...)
die Evangelische, Katholiken und Deutschgläubige umfasst. Also Beseitigung
der Bekenntnisse und nordisch-christliche Mischreligion“ (107).
Im Hintergrund dieser Analyse stand die
berühmte Berliner Sportpalastkundgebung der Deutschen Christen, in der im
November 1933 unter dem Jubel von
20000 Teilnehmenden und über den
Rundfunk die „Vereinigung aller Religionen und Konfessionen“ in einer „völkischen Nationalkirche“ gefordert wurde.
Der Sportpalastskandal führte in der badischen Kirchenleitung zunächst nicht zu
einer Veränderung der Eingliederungspolitik. Aber er verstärkte die Gegenreaktionen der am Bekenntnis orientierten
Kräfte.
Der badische Bruderrat forderte den Landesbischof am 10. November „ultimativ
auf, sich von der Reichskirche zu trennen
und der BK anzuschließen. Drei Tage
später gliederte Kühlewein die badische
Landes- aus der Reichskirche aus“. Das
würde ihm möglich, weil sich die Stimmenverhältnisse im EOK geändert hätten. Oberkirchenrat Fritz Voges, der
Schulreferent und Führer der Deutschen
Christen, hatte sich nach abschreckenden Erfahrungen bei einem Aufenthalt in
der Zentrale der Deutschen Christen und
der Reichskirche, der Gruppe der Kirch-
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 341
lich Positiven zugewandt und für die Ausgliederung aus der Reichskirche gestimmt.
Landesbischof Kühlewein schrieb an
Reichsbischof Müller, dass er „nach wie
vor für die Errichtung der deutschen
evangelischen Reichskirche“ einstehe.
„Aus allem aber, was sich in der letzten
Zeit in der Reichskirchenleitung zugetragen hat, habe ich zu meinem großen
Schmerz die Überzeugung gewinnen
müssen, dass die gegenwärtige Leitung
der Reichskirche nicht mehr die Autorität
und die Möglichkeit besitzt, die Befriedung der Kirche herbeizuführen und ihre
Einheit für die Zukunft zu wahren. Um die
drohende Spaltung innerhalb der badischen Landeskirche zu verhindern und
deren Weiterbestand aufrecht zu erhalten, muss ich Ihnen mitteilen, dass ich
bis auf weiteres Weisungen von Seiten
der Reichskirchenleitung nicht mehr entgegennehmen kann, sondern die
Führung der badischen Landeskirche
selbst in die Hand nehmen muss. Möge
Gott unserer Kirche helfen“ (75).
Kühlewein erhielt für diese Entscheidung
die Zustimmung von 478 (77,9%) der
616 von ihm angeschriebenen Geistlichen. Der Badische Bruderrat anerkannte den Landesbischof und den Oberkirchenrat als rechtmäßige Kirchenleitung.
Dies ist für den Historiker Kunze das entscheidende Argument, von der Badischen Landeskirche als einer nach der
Wiedereingliederung intakten Landeskirche zu reden. Die Pfarrerschaft anerkannte den Landesbischof und das Kollegium als rechtmäßige Kirchenleitung.
Darum hatte die badische Landeskirche
nicht nur eine „Sonderstellung“ oder
„Mittelstellung“ zwischen zerstörten und
intakten Kirchen. Sie war eine intakte
Kirche.
Auffallend an dieser Argumentation ist
die zurückhaltende Beurteilung der Politik von Landesbischof Kühlewein, der als
kirchlich Positiver Kompromisse mit den
Deutschen Christen geschlossen hatte
und zunächst der politischen Linie der
Reichskirche folgte, dann aber klar umschwenkte.
Prüfsteine dafür, ob die Landeskirche als
intakt bezeichnet werden kann, sind der
Umgang mit der ab 1938 vom badischen
Innenministerium eingesetzten Finanzabteilung und die Bewährung der Bekenntnisorientierung gegenüber der nationalsozialistischen Religionspolitik in
der badischen Pfarrerschaft.
Über die Einrichtung von staatlichen Finanzabteilungen für die Landeskirchen
wollte der NS-Staat die Kontrolle über die
Kirchen behalten. Relativ spät wurde am
25. Mai 1938 durch den Reichskirchenminister in Baden eine Finanzabteilung
errichtet. „Finanziell relevante Entscheidungen konnte die Kirchenleitung nun
nicht mehr treffen. Der nun entbrennende
Kampf um die Finanzabteilung beherrschte die Auseinandersetzungen
zwischen der badischen Landeskirchen
und dem NS-Regime bis zum Ende des
Zweiten Weltkriegs. Mit letzter Schärfe
rangen die unter einem Dach im EOKGebäude in der Karlsruher Blumenstraße
residierenden Behörden, die sich gegenPfarrvereinsblatt 7-8/2016
341
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 342
seitig Legalität und Legitimität absprachen, um die Durchsetzung ihrer kirchenpolitischen Position“ (80).
Der Landesbischof protestierte schriftlich
gegen die Errichtung der Finanzabteilung
und ließ die Information in den Gemeinden verlesen. 420 Pfarrer und Vikare unterzeichneten einen Protest des Landesbruderrates. Der Protest konnte spürbare
Konsequenzen haben, vom Torpedieren
von Bewerbungen auf Pfarrstellen bis hin
zur Sperrung des Gehalts. Die Finanzabteilung versuchte bei allen personalpolitischen Entscheidungen die Gestapo einzuschalten. Die Erpressung der bekenntnisorientierten Pfarrerschaft durch die Finanzabteilung, eine Politik der Denunziation, des Ausspielens der verschiedenen
kirchlichen Gruppierungen gegeneinander und der Zermürbungskrieg schadete
dem Ansehen der Volkskirche und
schwächte sie.
Wie verhielten sich nun die badischen
Pfarrer? Wie nutzten sie Räume zur Artikulation des Bekenntnisses und zur
Auseinandersetzung mit dem Regime.
Rolf-Ulrich Kunze rekonstruiert auf der
Basis der erschlossenen Korrespondenz, der Publikationsorgane und der
Personalakten Mentalität und Entwicklung der badischen Bekenntnisgemeinschaft und der Deutschen Christen. Die
Frage des Bekenntnisses beschäftigte
nicht nur die Pfarrer, sondern auch die
Gemeinden. Viele kirchlich positive
Pfarrer schlossen sich der Bekenntnisgemeinschaft an. Dabei waren eine
ganze Reihe von Ihnen Befürworter
oder Anhänger des Nationalsozialismus.
342
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
Die Heterogenität der Bekenntnisgemeinschaft und auch der Deutschen
Christen wird durch die Darstellung von
einzelnen Pfarrerbiographien verdeutlicht.
Der Widerstand gegen die Judenverfolgung beschränkte sich auf Einzelne, namentlich Prälat Hermann Maass und
Gertrud Luckner mit ihren Helferinnen
und Helfern.
Welche Schlüsse lassen sich aus der
Untersuchung ziehen?
• Die Stärke der BK-Pfarrer in Baden
speiste sich aus dem Lager der Kirchlich-Positiven,
• Die Deutschen Christen waren zwar
zahlenmäßig nicht so stark, hatten aber
keine Minderheitenposition und waren
keineswegs gemäßigt.
• „Die Stärke der BK als neue Organisationsform der Kirchlich-Positiven ermöglichte den eigenartigen kirchenpolitischen Kurs der Karlsruher Kirchenleitung von der Eingliederung in die
Reichskirche im Juli 1934 zur Ausgliederung im November 1934“ (378).
• Die „theologiepolitischen Motivationen“
der BK Pfarrer waren sehr heterogen.
Sie können „nicht pauschal mit Widerständigkeit identifiziert werden“, enthalten „allerdings ein breites Spektrum widerständigen Verhaltens“ (378).
• „Einen evangelischen Widerstand,
verstanden als Organisations- und Aktionsform politischen Widerstehens und
der direkten Aktion gegen den NS-Staat
gab es nicht“ (386). Die Kirchen waren
keine Organisationen des politischen
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 343
Buchbesprechung
Widerstands. Die Geschichte des Widerstands sollte vom „widerständigen
Verhalten Einzelner“ (379) ausgehen
und arbeitet mit einem biographischen
Ansatz.
Ursula Baltz-Otto
Wovon wir leben.
Worte in den Tag
Radius-Verlag Stuttgart 2016, 262 Seiten, 18 Euro
Dieses nüchterne Fazit macht uns jedenfalls deutlich, dass es damals wie heute
auf den Einzelnen ankommt, auf sein Bekenntnis, seine Positionierung, seine Bereitschaft sich zu engagieren, zu organisieren, für eigene Überzeugungen und
den eigenen Glauben einzutreten.
Unterstrichen wird auch noch einmal,
welche immense Bedeutung die staatskirchenrechtliche Absicherung der
Selbständigkeit der Kirchen als Institutionen hat und eine klare Regelung des
Verhältnisses von Kirche und Staat und
des Zusammenwirkens auf der Grundlage der Religions- und Bekenntnisfreiheit.
V
ier Augen sehen, vier Ohren hören
mehr als zwei. Im Gespräch, in der
Zwiesprache erschließt sich die Welt. Es
ist die Fruchtbarkeit des Dialogs, aus
dem schöpferische Einsichten fließen.
Das ist der methodische wie auch thematische rote Faden, der sich durch das
neue Buch „Wovon wir leben“ von Ursula
Baltz-Otto zieht.
Wir leben von dem, was uns gesagt ist so
gut wie von der Resonanz dessen, was
Worte in uns bewegen. In diesem Fall
sind es kurze morgendliche Radioansprachen der Autorin, Worte in den Tag,
die auf SWR 2 über Jahre ausgestrahlt
wurden. Anregende Miniaturen für alle,
die den Tag geistvoll beginnen und beleben möchten.
Versammelt sind in einer großen Gesprächsrunde Autorinnen und Autoren
wie Ingeborg Bachmann und Marie Luise
Kaschnitz, Max Frisch und Marc Chagall,
Nelly Sachs, Hilde Domin, Erich Fried
und Christa Wolf. Bert Brecht ist dabei
und Anna Seghers, Rainer Maria Rilke
und Martin Buber, Manés Sperber und
Rose Ausländer, Pablo Neruda und Kurt
Marti. Ein illustrer Freundeskreis von Gesprächspartner, die über die Zeiten hinweg in einen von der biblischen Tradition
inspirierten Dialog treten. Nicht zu vergessen natürlich Dorothee Sölle, die langjähriPfarrvereinsblatt 7-8/2016
343
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 344
ge Freundin der Autorin und ihres verstorbenen Mannes, Gert Otto, Professor
für praktische Theologie. In ungleichzeitiger Zeitgenossenschaft treffen Schriftstellerinnen und Dichter auf biblische
Gestalten wie Isaak und Rebekka, David und Batseba, Josef und seine Brüder, David und Jonathan, Maria und
Martha, Zachäus und die Frau am Jakobsbrunnen.
Gott ins Gespräch bringen, darum geht
es der Autorin, die beides ist, gelernte
Germanistin wie studierte Theologin und
viele Jahre zuständig war für den Dialog
zwischen Religion und Literatur am
Fachbereich Evangelische Theologie der
Universität Mainz.
Auf Fragen von seelsorgerlich Kraft stößt,
wer sich in das Buch vertieft: Was steckt in
mir? Welche Vision vom Leben habe ich?
Wie gehe ich mit Verlusten um? Was hilft
mir Lebensübergänge zu bewältigen? Was
bleibt schlussendlich, wenn nichts mehr zu
machen ist? Und grundsätzlich: wer oder
was trägt mich? Es sind Texte, die Augenblicke evozieren, „in denen etwas licht und
klar wird, wo wir etwas Anderes sehen und
verstehen“, die „Momente verdichteten
Glücks“ aufspüren (S. 81).
„Worte in den Tag“ in wörtlichem Sinn,
die – mit einer Formulierung von Dorothee
Sölle – „Fenster zum Himmel“ öffnen. Und
wirklich – im Dreieck von biblischer Tradition, literarischen Zeugen der Gegenwart
und dem fragenden Ich der Autorin gelingt,
was Ziel und Absicht ist: dem alten Glauben
neuen Atem einzuhauchen.
❚ Klaus Nagorni, Karlsruhe
344
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 345
Buchbesprechung
Helmut Schwier (Hrsg.)
Ethische und politische
Predigt. Beiträge zu
einer homiletischen
Herausforderung
Eine Veröffentlichung des Ateliers Sprache e.V.
Braunschweig, Evangelische Verlagsanstalt Leipzig
2015, 232 Seiten, 24 Euro
W
ie kann man heute ethisch predigen? Welche Formen politischer
Predigt gibt es? Wo liegen Chancen, wo
Gefahren? Diesen Fragen stellte sich
das Internationale Bugenhagen-Symposium im Jahr 2014. Die Vorträge dieses
Symposiums finden sich in dem hier angezeigten Buch. Sie behandeln die Fragestellungen aus praktisch-theologischer, neutestamentlicher und systematisch-theologischer Perspektive.
Helmut Schwier formuliert sieben eindrucksvolle Thesen zur ethischen Predigt. Ethische bzw. politische Predigt
soll Zuspruch und Anspruch, Deutungen
und Orientierungen in der jeweiligen gesellschaftlichen Situation liefern.
Johan Cilliers gibt einen Überblick über
ethisch-politische Predigten in Südafrika – damals und heute. Es gelingt ihm
allein durch die Überschriften seiner
Abschnitte das breite Spektrum politischer Predigt zu umreißen: zwischen
Schweigen und Streiten, zwischen
Scheiden und Staunen, zwischen Seufzen und Sehnen, zwischen Schämen
und Spielen.
Matthias Konradt fragt nach der Ethik
des Neuen Testaments. Sie erschöpft
sich nicht in einem Katalog von Verhaltensanweisungen. Auch narrative Texte
sind ethisch relevant. Allein der Gesamtzusammenhang einer Schrift kann den
Deutungsrahmen für ethische Aussagen
bieten. So sind z. B. die strikten Texte der
Ablehnung jeder Art von Scheidung eingebettet in Texte, die von der unbegrenzten Güte und Barmherzigkeit Gottes erzählen. Darum müssen ethische Aussagen im NT sowohl auf die übergreifenden
ethischen Grundsätze als auch auf die
Lebenswirklichkeit des antiken Umfelds
hin analysiert und interpretiert werden.
Diese Übersetzungsarbeit ist dann auch
für die gegenwärtige Situation von Kirche
und Welt zu leisten.
Marco Hofheinz zeigt am Beispiel des
Songs von Tim Bendzko „nur noch kurz
die Welt retten“ das Problem der Hybris
politischer Predigt. Sie kann und muss
durch methodische Reflexion eingezäunt
werden. Dazu gehören: Problemwahrnehmung, Situationsanalyse, Verhaltensoptionen, Prüfung von Normen und von
Verbindlichkeit, mündend in einen Urteilsentscheid.
Alexander Deeg, vielen bekannt durch seine dramaturgische Homiletik, geht von der
Grundthese aus, dass jede Predigt ethisch
und politisch ist. Er bietet unter dem Titel
„Ethisch predigen und die Bibel inszenieren“ eine Fülle von dramaturgisch-homiletischen Reflexionen zur ethischen Predigt.
Angela Rinn widmet sich der ethischen
Predigt aus der Sicht der NeurowissenPfarrvereinsblatt 7-8/2016
345
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 346
In memorian
schaft. Sie zeigt am Beispiel der Wirkung
von Erzählungen, das Menschen soziales
Verhalten und Einfühlungsvermögen aus
Erzählungen lernen können. Überraschend ihr Rat: Predigende können von
Kriminalromanen lernen, nicht nur, wie
man Spannung aufbaut, sondern auch, wie
man gesellschaftliche Schichten sachgemäß beschreiben kann, und wie wichtig
die Wahrnehmung der Lesenden bzw.
Hörenden ist, die auf das Gelesene mit
Vergnügen, mit Entsetzen, mit Ablehnung
oder mit Mitgefühl reagieren.
Manuel Stetter bietet Überlegungen zu drei
Verfahrensweisen ethischer Predigt: anschauliche Darstellung in narrativer Form,
diskursive Argumentation, die auf Überzeugung und Akzeptanz zielt, und schließlich
Glaubwürdigkeit in der Vertretung ethischer Positionen.
Kathrin Oxen fragt nach der Bedeutung politischer Predigt für die homiletische Ausund Fortbildung, die eine genaue Wahrnehmung und Wachsamkeit von Christinnen und Christen erfordert, und zeigt die
Gründe, warum es dagegen Widerstände
gab und gibt.
Eine besondere Zugabe des Symposiums
war ein homiletischer Stadtrundgang zu
den Kanzeln von. Martini und des Doms zu
Braunschweig, auf denen Auszüge aus
Predigten, die in diesen Kirchen in einem
Zeitraum von der Reformation bis ins 20.
Jahrhundert gehalten worden waren, gelesen wurden.
Dieter Rammler gestaltete und dokumentiert in diesem Band diesen Stadtrundgang.
❚ Jürgen Kegler, Plankstadt
346
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
Hannelis Schulte
* 20. Dezember 1920 † 12. April 2016
I
m April dieses Jahres ist Hannelis
Schulte im Alter von 95 Jahren gestorben. PD Dr. theol. Johanna Elisabeth
Schulte war die erste Frau im Talar, die
ich gesehen habe. Sie hielt einen Gottesdienst im Matthias-Claudius-Heim in Heidelberg-Ziegelhausen, in dessen Nachbarschaft sie wohnte. Lange bevor ich
sie in diesem kleinen Raum hatte predigen hören, hatte ich schon von ihr gehört. Sie hatte mit meinem Vater, der Gemeindepfarrer geworden war, studiert.
Noch wusste ich nicht, dass Frau und
Kanzelrecht in meiner Kirche bis 1971
unvereinbar miteinander waren. Wurde
in den 1950er und 60er Jahren in Kirchenkreisen von Hannelis Schulte gesprochen, dann mit kritischem Respekt.
Sie war Theologin und sie vertrat in der
Öffentlichkeit ihre von der herrschenden
politischen Position abweichende Entscheidung. Das waren gleich zwei mit
dem Predigtamt der Landeskirchen unvereinbare Voraussetzungen. Sie arbeite
von 1950 bis 1981 als Religionslehrerin
an verschiedenen Gymnasien. Von 1982
an war sie Dozentin der theologischen
Fakultät der Universität Heidelberg.
Hannelis Schulte bezog als Theologin eine friedenspolitische Position von Anfang
an. Als Mitglied der DFG (Deutsche Friedensgesellschaft, gegründet 1892, älteste
Organisation der deutschen Friedensbewegung), deren Bundesvorsitzende Hannelis Schulte von 1966 bis 1974 war, verortete sie sich auch frauenpolitisch in der
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 347
älter als 100jährigen Tradition der internationalen Frauenfriedenskongresse. Im
Unterschied zum Mainstream der allgemeinen deutschen und evangelischen
Frauenbewegung sprachen sich diese bereits vor den beiden Weltkriegen ausdrücklich gegen Kriege als Mittel zur
Durchsetzung nationaler Interessen aus.
Im badischen Komitee „Freiheit für Wort
und Dienst in der Kirche” (gegründet im
April 1975 in Frankfurt als Reaktion auf
die Übernahme des „Radikalenerlass” in
verschiedenen Landeskirchen) haben wir
zusammengearbeitet.
In den 1980er Jahren hat sie mich angefragt, bei Friedensdemonstrationen öffentlich das Wort zu ergreifen. Ihr verdanke ich die Einsicht, dass der Kampf ums
Kanzelrecht ein Nebenschauplatz ist,
wenn es um Krieg und Frieden, wenn es
um das Zusammenleben aller auf Erden
geht. Dieser Kampf ist öffentlich auszutragen. Das Thema verpflichtet und berechtigt zu öffentlicher Rede. Die Initiativen der
Frauenarbeit der Ev. Landeskirche in Baden „Von nun an” 1982, der „Bittgang für
das Leben” 1983 und von 1984 an „Unterwegs für das Leben” sind, was mich als
eine der Initiatorinnen dieser Aktionsformen betrifft, von meiner Zusammenarbeit
mit Hannelis Schulte geprägt worden.
Immer wieder sind wir uns bei Aktionen
für Frieden und Gerechtigkeit auf der Straße begegnet. Ihr begegnen, ermutigte
zum öffentlichen politischen Dialog, nötigte zur eigenen Stellungnahme.
Von 1999 bis 2004 war sie Mitglied des
Heidelberger Gemeinderats. Sarah Mirow
von Die Linke/Piraten schreibt im Heidelberger Stadtblatt „Wir werden Hannelis'
Stimme vermissen“. So geht es auch mir.
In Erinnerung an Hannelis Schulte kommt
mir ein Satz von Simone Weil in den Sinn
„ ... nicht glauben, Rechte zu haben. Das
bedeutet nicht die Gerechtigkeit in Frage
zu stellen oder zu deformieren, aber wir
können nicht mit Recht erwarten, dass die
Dinge gemäß der Gerechtigkeit geschehen, zumal wir doch selbst weit davon entfernt sind, gerecht zu sein. Es gibt eine
schlechte Art zu glauben Rechte zu haben, und eine schlechte Art zu glauben,
keine zu haben“ (Leitwort zum Buch „Wie
weibliche Freiheit entsteht“ Eine neue politische Praxis, herausgegeben von Libreria della donne di Milano, 1987)
Mehr zu Hannelis Schulte findet sich
bei wikipedia.
❚ Eva Loos, Heidelberg
Traueransprache für
Hannelis Schulte
Liebe Trauergemeinde,
liebe Freundinnen und Freunde!
In den Basisgemeinden Lateinamerikas
werden die verstorbenen Schwestern und
Brüder geehrt, indem man ihren Namen
ruft, worauf die Gemeinde mit einem „Presente!“ antwortet: „Sie sind da!“ in dem,
was wir in ihrem Sinne und zu ihren Ehren
weiter tun. Wenn wir uns nun von Hannelis Schulte verabschieden, sollte ihr Vermächtnis noch einmal lebendig werden,
ihr lebenslanges Engagement für Gerechtigkeit und Frieden, das sie an uns weiterPfarrvereinsblatt 7-8/2016
347
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 348
gibt, und wer mag, kann in den Ruf einstimmen: Companera Hannelis, Presente!
Lassen Sie mich Hannelis Schulte also
für einen Augenblick herbeirufen und präsent sein lassen, als Lehrerin und Theologin, als politische Aktivistin und Frauenrechtlerin und schließlich als Ikone der
Friedensbewegung, nicht nur in Heidelberg. Am Wochenende hat die Internationale Christliche Friedenskonferenz auf
der Frauenkonferenz in Berlin ihrer gedacht, darunter einige alte Mitstreiterinnen aus den Tagen der ersten großen
Friedensbewegung gegen die Wiederbewaffnung der BRD. Unzählige Kilometer
hat sie seit damals zurückgelegt, bei Ostermärschen, Menschenketten, Großdemonstrationen und Umzingelungen von
Militärdepots, gegen die Logik des
Wettrüstens, die Gefahren des „Kalten
Krieges“, gegen die Strukturen von Ungerechtigkeit und Gewalt. Sie stand für
den Dialog von Christen und Marxisten,
gehörte zu den Christen für den Sozialismus und stand am Ende im Heidelberger
Stadtrat für eine linke Alternative, um denen eine Stimme zu geben, die in unserer Gesellschaft so oft im doppelten Sinne „nichts zu sagen haben.“ Zugleich war
sie Teil der weltweiten Bewegung für die
Gerechtigkeit, ohne die es keinen Frieden geben kann. Die Nähnadelfabrik in
Vietnam und die Solidaritätskonzerte für
Chile sind mit ihrem Namen und ihrer
Sammelbüchse aufs Engste verbunden.
Schließlich verkörperte sie in ihrer Person die drei großen Ziele des „Konziliaren Prozesses“ in einer ökumenischen
Bewegung für „Gerechtigkeit, Frieden
und Bewahrung der Schöpfung“.
348
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
Manches davon ist bereits Geschichte
und doch nach wie vor von brennender
Aktualität. Dass es ohne Gerechtigkeit
keinen Frieden geben wird, dass das System von Feudalkapitalismus und Neoliberalismus auch den christlichen Werten
Hohn spricht, war Hannelis Überzeugung, und die uns alle bedrängenden gegenwärtigen Herausforderungen haben
sie darin bestätigt. Dass sie aber dabei
nie resigniert und ihre kritische Haltung
bis zuletzt nicht aufgegeben hat liegt vor
allem daran, dass die tiefsten Wurzeln ihres politischen Engagements in den
großen biblischen Gerechtigkeits- und
Befreiungstraditionen liegen, die über die
Erfolge und Niederlagen des Tages hinausreichen. Der in der hebräischen Bibel
so zentrale Begriff des Schalom als eine
Zusage Gottes an die gesamt Schöpfung, dass es Befreiung geben soll von
Ungerechtigkeit und Krieg, Ausbeutung
und Gewalt, ist und bleibt die Hoffnung
derer, die sich in einer Welt der Gewalt
nicht zu den Siegern zählen können oder
wollen.
Diesem Schalom hat sich Hannelis verschrieben und sie hat ihn praktiziert,
nicht nur bei Friedensdemonstrationen.
Viele von uns wissen um ihre Liebe zur
Natur und ihre Fürsorge für Pflanzen und
Tiere, um ihre auch persönlich praktizierte Solidarität, um ihren liebevollen Umgang mit Schulkindern und Studierenden. In all dem war sie ganz sie selbst,
gehörte keiner wissenschaftlichen, kirchlichen, gesellschaftlichen oder politischen Fraktion an, sie folgte keinem Mainstream und keiner Mode. Sie fand ihren
Weg und ihre Weisung für diesen Weg
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 349
aus der Schrift, die sie am besten kannte
und am meisten liebte, aus der hebräischen Bibel. Ihre Abschiedsvorlesung an
der Theologischen Fakultät trug den Titel
„Warum ich das Alte Testament lieb habe“, und so wie der Titel sind auch ihre
Ausführungen eine Liebeserklärung an
dieses Buch der Weisungen – hören wir
noch einmal ein wenig ihre Stimme: „Ich
liebe das AT, weil es so viele schöne Erzählungen enthält.“ Hannelis war eine
wunderbare Erzählerin! Als ich als ihre
Nachfolgerin an der Gesamtschule Weinheim den Religionsunterricht übernahm,
hörte ich ihr einige Stunden zu, denn ich
war dazu verdonnert, diese von den Kindern geliebte Tradition fortzusetzen. Und
ich habe dabei begriffen, wie sehr unsere
jüdisch-christliche Tradition eine erzählte
Erinnerungstradition ist, bei der die Erinnerung zugleich eine Vergegenwärtigung
von Befreiungserfahrungen sein soll.
Diese „große Erzählung“ lebendig zu halten als eine Vision, die „Zukunft und Hoffnung“ geben kann, darin war mir Hannelis ein Vorbild, sowohl in der Schule als
auch danach in der Hochschule.
Hannelis fährt fort: „Was zeichnet die Geschichten des AT aus? Als erstes … ihre
tiefe Menschlichkeit. Da werden keine tadellosen Menschen vorgeführt, sondern
Menschen wie wir, mit ihren Fehlern und
Stärken.“ Es geht um Menschheitswissen, um Männer- und vor allem Frauenerfahrungen, nachvollziehbar bis heute.
In Hannelis Erzählungen tauchten keine
frommen Legenden auf, sondern ohne
Tabus das Leben, wie es ist, voller Widersprüche und doch in ihnen voller Hoffnung. In ihrem Buch mit dem Titel „Und
dennoch gingen sie aufrecht“ zeigte sie
die Frauen des AT, die im Patriarchat und
zugleich gegen das Patriarchat ihre Würde zu wahren wussten. Dabei galt ihre
besondere Liebe und Bewunderung der
Sklavin Hagar, die, als Alleinerziehende
in der Wüste, die Freiheit der Sicherheit
im Haus des Patriarchen Abraham vorzog. Zwischen den Zeilen wird eine diebische Freude sichtbar darüber, dass Hagar darin bestärkt wurde durch eine göttliche Verheißung für sie und ihren Sohn.
Das fand Hannelis richtig gut, war es
doch die Erfahrung ihrer Frauengeneration, dass selbstbestimmtes Leben
manchmal nur möglich war, wenn frau einem potentiellen Patriarchen den Laufpass gab – um stattdessen auf Augenhöhe, im sportlichen Kleppermantel, mit
den Patriarchen der Friedensbewegung,
Gustav Heinemann und Martin Niemöller,
zusammen zu arbeiten und zu demonstrieren.
Am meisten bewunderte und verehrte
Hannelis jedoch die Prophetengestalten,
vor allem den Propheten Jeremia mit seinem „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ und seinem historischen Auftrag.
„Ich liebe das AT, weil es weithin unmythologisch und stattdessen geschichtlichpolitisch redet … Der Glaube ist im AT
auf das Reden Gottes bezogen, ob im
Traum oder im Wachtraum, der Vision.“
Ihre eigene Erfahrung mit der Stimme
Gottes mag dazu beigetragen haben,
dass sie der Überzeugung gewesen ist,
dass es sich bei dem „prophetischen
Wortempfang … nicht um einen Bestandteil eines vergangenen Weltbildes handelt sondern um Phänomene, die in unPfarrvereinsblatt 7-8/2016
349
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 350
sere Erfahrungswelt gehören.“ Ihre besondere Aufmerksamkeit galt dem prophetischen Wort für Gerechtigkeit, für
Ethik statt Opferkult: „Auf die Frage: Wo
kann ich Gott begegnen? Antworten sie:
nicht im Heiligtum, nicht beim Brandopferaltar, sondern da, wo Witwen und Waisen geholfen wird!“ Und sie fährt fort:
„Die Propheten fordern nicht zum Almosen für Witwen und Waisen auf, sondern
dazu ihnen ihr Recht zu verschaffen, um
die Durchsetzung der Menschenrechte –
gerade der sozialen Menschenrechte geht
es ihnen“, und damit um die Kritik an anderen Auslegungen des Willens Gottes, die
sich ebenso in biblischen Texten finden.
Wer aber wird am Ende Recht behalten?
Zum Ende ihres Vortrags macht Hannelis
deutlich, dass das AT ein einziger Streit
um Gott ist, um das Gottesbild, um die
Gottesauslegung, und dass die Entscheidung für die prophetische Gerechtigkeitstradition in unserem Verstand und unserer Freiheit und in unserer Praxis liegt.
Sie hat sich mit aller Radikalität und mit
ihrem ganzen Leben dafür entschieden.
Deshalb möchte ich mit einem prophetischen Wort aus dem Buch Daniel enden,
mit dem erstmals im AT eine Vision von
einer Wirklichkeit auftaucht, die über das
Ende eines Lebens hinaus reicht. Es ist
ein Wort, das wie für Hannelis Schulte
aufgeschrieben wurde:
„Die Lehrer und Lehrerinnen der Gerechtigkeit werden leuchten wie die Sterne
am Himmel immer und ewig“. Amen.
❚ Renate Wind, Nürnberg
350
Pfarrvereinsblatt 7-8/2016
"Freud und Leid" wurde in der Online-Ausgabe
zum Schutz der persönlichen Daten entfernt
PV_1682_Pfarrblatt_7 8 2016.qxp_März/April 2015 20.07.16 13:16 Seite 352
Thema
Zu guter Letzt
Wortgeburten
rtgeburt.
rtdurchfall ist die Wo
Das Gegenstück zum Wo
t.
eug
und überz
Hier zeugt das Wort
erisch, kreativ.
öpf
sch
ist
rt
Solches Wo
en wird, schafft es.
Indem es ausgesproch
Welt hervor.
ser Kraft. Es bringt die
Gottes Wort ist von die
rt. (Joh 1,1)
Im Anfang war das Wo
rde Licht.
Und Gott sprach, es we
n 1,3)
Und es wurde Licht. (Ge
Himmels
Wasser unterhalb des
Dann sprach Gott: Das
ar werde.
htb
sic
ne
Ort, damit das Trocke
sammle sich an einem
)
1,9
So geschah es. (Gen
ttes Wort.
ht nur geboren aus Go
Schöpfung ist aber nic
Go
em tt unablässig
im Dasein bewahrt, ind
Schöpfung wird auch
Wort spricht.
dieses schöpferische
„aufrichtend”
tend”, „ausrichtend” und
Gottes Wort wird „rich
Wort nahe.
nem
sei
in
n. Gott kommt uns
de
len
vol
ng
pfu
hö
Sc
die
sein Volk, die Kirche.
Gottes Wort schafft
ntwegt neu:
Er schafft sie auch une
elle aller
Qu
die
Wort Gottes ist
er). (…)
rtn
Kö
.U.
(H
Kirchenreform
orte
Gotteswort - Kirchenw
schöpferische
raut, dieses
Der Kirche ist anvert
en.
hlicher Weise zu sprech
nsc
me
in
Gottes-Wort
ist
üllt
gef
e
ch
r Kir
Nur wenn das Wort de
s, kann sie überzeugen.
tte
Go
rt
Wo
n
de
vom zeugen
„Mund Gottes”.
phetische Tradition –
Sie wird dann – gute pro
swort und leiht
in das zeugende Gotte
Sie schmiegt sich ein
sch macht. (…)
: was allein sie propheti
ihrem Gott den Mund
Wir wissen zuviel
en,
dagegen: Wir, die Kirch
Doch zunächst halte ich
erzeugend.
üb
ht
nic
mit
da
und
t, leichtfertig
eck
ed
ung
ls
ma
oft
en
ort
red
sw .
nicht aber ist es Gotte
Es sind Kirchenworte,
.
wenn wir zuviel wissen
Das ist dann der Fall,
).
e zur falschen Zeit. (Sir 22,6
Musik zur Trauer ist eine Red
, Seiten 26f, 29, 31
flage
Aus: Paul M. Zulehner, Wie
2.Au
,
1998
g
verla
chfall. Schwaben
Wider den kirchlichen Wort-Dur