Entschlußbildung in der NS

Aus: Döscher, Hans-Jürgen: »Reichskristallnacht«. Die Novemberpogrome 1938. Frankfurt/M., Berlin:
Ullstein, 1988. S. 78-80.
Entschlußbildung in der NS-Führung
Am 9. November 1938 kamen die führenden Nationalsozialisten — wie
alljährlich — zur Gedenkfeier für den Hitler-Putsch von 1923 in München
zusammen. Nach dem zelebrierten Marsch auf die Feldherrahalle trafen
sich viele »alte Kampfer« im Münchener Rathaussaal zu einem
Kameradschaftsabend mit Essen, an dem auch Hitler teilnahm. Zwischen
19 und 20 Uhr wurde die telegraphische Nachricht überbracht, daß Emst
vom Rath dem Attentat erlegen ist. Wie sich ein Augenzeuge, der
Münchener Polizeipräsident von Eberstein, erinnerte, soll Hitler »dadurch
stärkstens beeindruckt« gewesen sein und es entgegen seiner Gewohnheit
abgelehnt haben, vor der Versammlung zu sprechen. Während des Essens
habe er eine »außerordentlich eindringliche Unterredung« mit Goebbels
gehabt. Hitler sei dann kurz darauf in seine Privatwohnung an der
Prinzregentenstraße gefahren (vgl. 3.1).
Anschließend teilte Goebbels den versammelten Parteiführern mit, daß
Emst vom Rath den Verletzungen erlegen sei und als Vergeltung dafür
bereits judenfeindliche Kundgebungen in den Gauen Kurhessen und
Magdeburg-Anhalt stattgefunden hätten. Dabei seien jüdische Geschäfte
zertrümmert und Synagogen in Brand gesteckt worden. Hitler habe auf
seinen Vortrag entschieden, »daß derartige Demonstrationen von der Partei
weder vorzubereiten noch zu organisieren seien, soweit sie spontan
entstünden, sei ihnen aber auch nicht entgegenzutreten«. Die anwesenden
Reichs- und Gauleiter verstanden die Rede so, »daß die Partei nach außen
nicht als Urheber der Demonstrationen in Erscheinung treten, sie in
Wirklichkeit aber organisieren und durchführen sollte«.2
Gegen 22.30 Uhr löste sich die Versammlung auf. Noch aus dem »Alten
Rathaus« in München gaben die Gauleiter und SA-Führer ihren regionalen
Dienststellen telefonisch mehr oder minder präzise Anweisungen, mit
entsprechenden Aktionen gegen jüdische Geschäfte und Synagogen
loszuschlagen.
Nach bisheriger Auffassung erhielt die SS- und Polizeiführung erst nach
23 Uhr Kenntnis von den Pogromanweisungen. Heydrichs Befehle, die am
frühen Morgen des 10. November als Blitz-Fernschreiben ergingen,
spiegeln in der Tat Überraschung und Improvisation wider (vgl. 3.2).
Wenngleich dokumentarische Nachweise fehlen, erlauben doch verschiedene Indizien den Schluß, daß sowohl Hitler als auch die SS-Führung vom Tode Raths und den zu erwartenden Pogromen weniger überrascht waren als bislang angenommen. Die Tatsache, daß Hitler seinen
persönlichen Begleitarzt, SS-Sturmbannführer Dr. Brandt, nach Paris
entsandte und den Legationssekretär vom Rath noch »rechtzeitig« vor
seinem Tode zum Gesandtschaftsrat I. Klasse ernannte — eine außergewöhnliche Sprungbeförderung —, weist nicht nur auf die große
Bedeutung hin, die Hitler dem Fall beimaß, sondern auch auf seine
unmittelbare und frühzeitige Unterrichtung über das Befinden vom Raths
— über alle Ressortgrenzen hinweg.
Wenn Hitler sich früher als sonst üblich vom Kameradschaftsabend der
»alten Garde« in seine Privatwohnung zurückzog und Goebbels die
Auslösung der Pogrome überließ, so spricht dieser Umstand eher für seine
Kenntnis der Pogromvorbereitungen als dagegen. Ohne Hitlers Billigung
hätte es der — nach einer unglücklichen Liebesaffäre mehr denn je auf
Hitlers Gunst angewiesene — Reichspropagandaleiter Goebbels kaum
gewagt, eigenmächtig die Novemberpogrome zu inszenieren. Für Hitler bot
dieses »arbeitsteilige« Verfahren den Vorteil, sich als Staatsoberhaupt
zurückzuhalten und die internationale Reputation zu wahren, um die er sich
wenige Wochen zuvor beim Münchener Abkommen scheinbar bemüht
hatte. Je stärker er sich vom Ausmaß der Pogrome »überrascht« zeigte,
desto glaubwürdiger wirkte seine Rolle als »Unbeteiligter«, nicht zuletzt
auch gegenüber seiner Umgebung.
Das Fernschreiben des Chefs der Gestapo, SS-Standartenführer Müller,
das noch am 9. November um 23 Uhr 55 von Berlin an alle
Staatspolizeistellen ging, deutet darauf hin, daß auch die SS- und Polizeiführung früher von den Pogromvorbereitungen Kenntnis hatte als die
Anweisungen Heydrichs vermuten lassen (vgl. 3.3). Berücksichtigt man für
Entwurf, Abfassung, Genehmigung und Absendung des Fernschreibens
eine Vorlaufzeit von wenigstens einer Stunde, dürfte das Geheime
Staatspolizeiamt in Berlin also bereits vor 23 Uhr über die geplanten
Pogrome unterrichtet gewesen sein. Die in Punkt 3 des Fernschreibens
angeordnete Festnahme von 20—30 000 vermögenden Juden läßt überdies
Vorsorgemaßnahmen erkennen, denen eine zeitlich noch größere
Planungsphase vorangegangen sein mußte.
Die bis in die jüngste Zeit verbreitete Darstellung, daß die Pogrome
zwar von Goebbels angestiftet, dann aber von der SS-Führung und
namentlich von Heydrich veranstaltet worden seien3, läßt sich aus den
vorliegenden Quellen nicht bestätigen. Auch nach übereinstimmender
Auffassung verschiedener Zeitzeugen aus dem Umkreis Hitlers und
Himmlers haben Goebbels und die Parteiorganisationen — also insbesondere Gauleiter und Kreisleiter unter Hinzuziehung der SA — den
»Feldzug« gegen die Juden inszeniert und durchgeführt.4
SS und Polizei sollten sich auf Weisung Hitlers »aus dieser Aktion
heraushalten« und sich darauf beschränken, Archivmaterial der jüdischen
Kultusgemeinden sicherzustellen und »arisches« Eigentum vor Schaden zu
schützen, mit anderen Worten: die Zerstörung jüdischer Geschäfte und
Gotteshäuser zu sanktionieren.
1
BA Koblenz, R 58, 979.
2
Geheimer Bericht des Sondersenats beim Obersten Parteigericht
der NSDAP vom Februar 1939, in: IMT, Bd. XXXH, Dok. 3063PS.
3
So zuletzt Theodor Eschenburg in: Die Zeit Nr. 24 v. 5. 6.1987, S.
36.
4
Vgl. Riess, Curt: Joseph Goebbels, Baden-Baden 1950, S. 227;
Wiede¬mann, Fritz: Der Mann, der Feldherr werden wollte,
Velbert u. Kettwig 1964, S. 189 ff; vgl. auch Görings Aussage v.
14.3.1946, in: IMT, Bd. IX, S. 312 f. — Mitteilung des Herrn Dr.
Werner Best vom 24. 7.1987 an den Verf.