Matthias Hülsmann Theologisches Basiswissen 1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.dnb.de abrufbar. Matthias Hülsmann Theologisches Basiswissen ISBN 978-3-936420-54-8 © Religionspädagogisches Institut Loccum 2016 © Titelfoto: Danny Navarro (CC BY-SA 2.0) Religionspädagogisches Institut Loccum Postfach 2164 31545 Rehburg-Loccum Telefon: 49 - 5766 - 81136 Fax: 49 - 5766 - 81184 E-Mail: [email protected] Internet: www.rpi-loccum.de Druck: Weserdruckerei Stolzenau 2 Inhalt Vorwort.......................................................................................................7 1. Gott und die Götter...............................................................................9 Gott und die Schöpfung............................................................................10 Gottes Name und Unverfügbarkeit (Ex 3)................................................11 Gottes Allgegenwart (Ps 139)...................................................................14 Die Liebe Gottes (1. Kor 13)....................................................................17 Gott und das Geld.....................................................................................19 Ein Gott – viele Götter..............................................................................22 Die Nützlichkeit der Religionen...............................................................24 Rituale und Symbole.................................................................................26 2. Glaube und Zweifel.............................................................................28 Glaube und Vertrauen...............................................................................28 Der Glaube Jesu und der Glaube an Jesus................................................29 Glaube und Zweifel...................................................................................32 Der Zweifel Jesu.......................................................................................35 Die dunkle Seite Gottes............................................................................20 Naturwissenschaft und Religionskritik.....................................................46 Bultmann und die Entmythologisierung...................................................49 3. Mensch und Menschenwürde............................................................51 Ich und Bewusstsein.................................................................................51 Geschöpf und Ebenbild Gottes (Gen 1-2).................................................52 Mensch und Markt....................................................................................55 Menschenrechte und Menschenwürde......................................................56 Person und Würde.....................................................................................58 Gottesebenbildlichkeit und Menschenwürde............................................61 3 4. Schuld und Vergebung........................................................................65 Das verlorene Paradies..............................................................................66 Die Sünde und die Sünden........................................................................67 Paulus und die Gnade Gottes (Röm 3)......................................................68 Die verlorenen Söhne (Lk 15)...................................................................72 Der unbarmherzige Knecht (Mt 18,21-35)...............................................74 Die Satisfaktionslehre...............................................................................75 5. Bekenntnisse........................................................................................77 Der Philipperhymnus................................................................................77 Das Bekenntnis zum Auferstandenen (1. Kor 15; Lk 24).........................77 Die Entdeckung der Trinität (Joh 1)..........................................................81 Das Apostolische Glaubensbekenntnis.....................................................84 Die Barmer Theologische Erklärung........................................................88 6. Die Ich-bin-Worte Jesu.......................................................................90 Jesus im Johannesevangelium...................................................................90 Das Brot des Lebens (Joh 6,35)................................................................93 Das Licht der Welt (Joh 8,12)...................................................................93 Der gute Hirte; die Tür (Joh 10,1-18).......................................................95 Die Auferstehung und das Leben (Joh 11,21-27).....................................96 Der Weg, die Wahrheit und das Leben (Joh 14,6)....................................98 Der Weinstock (Joh 15,1)........................................................................100 Ein König (Joh 18,35-38).......................................................................103 7. Christliche Ethik...............................................................................105 Bewahrung der Schöpfung......................................................................105 Die Zehn Gebote.....................................................................................106 Die Bergpredigt Jesu (Mt 5-7)................................................................ 111 Das wichtigste Gebot (Mt 22,34–40)......................................................113 Freiheit bei Paulus (Gal 5)......................................................................114 Freiheit bei Luther...................................................................................116 4 8. Kirche und Staat...............................................................................118 Die erste Gemeinde (Apg 2)...................................................................118 Gemeinde als Organismus bei Paulus (1. Kor 12,12–31).......................119 Das Kirchenverständnis der Reformatoren.............................................120 Jesus und die Steuer (Mk 12,13–17).......................................................122 Jede Staatsführung ist von Gott (Röm 13,1–7).......................................123 Kirche und Staat in der Vergangenheit...................................................125 Kirche und Staat in der Gegenwart.........................................................126 9. Zukunft und Hoffnung.....................................................................129 Die Botschaft der Propheten Israels........................................................129 Jesus und das Weltgericht (Mt 25,31–46)...............................................135 Paulus und das Ende der Zeiten (1. Thess 4,13-18)................................138 „In der Morgenröte künftigen Lebens“...................................................139 Abkürzungen und Zitate.........................................................................143 Literatur...................................................................................................144 5 6 Vorwort Was sollte man heute über den christlichen Glauben wissen? Dieses Buch ist ein Antwortversuch auf diese Frage. Es erläutert zentrale Bibeltexte auf dem Hintergrund ihrer historischen Entstehung und beschreibt die grundlegenden Inhalte des christlichen Glaubens. Es war mein Anliegen, den aktuellen Forschungsstand der Wissenschaften in anschaulicher Sprache darzustellen. Dabei war es mir wichtig, die geschichtlichen Entwicklungen und ihre Auswirkungen auf unsere heutige Zeit deutlich zu machen. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit habe ich auf Fremdworte, Anmerkungen und Fußnoten verzichtet. Vorkenntnisse sind nicht erforderlich. Viel Freude bei der Lektüre! Loccum, im August 2016 7 Matthias Hülsmann 8 1. Gott und die Götter Wer über Gott reden will, stößt sofort auf drei Probleme. Das erste Problem besteht in der grundsätzlichen Frage, ob es Gott überhaupt gibt. Kein noch so religiöser Mensch kann unwiderlegbar und zweifelsfrei die Existenz Gottes beweisen. Das Gegenteil gilt aber ebenso: Kein Atheist kann beweisen, dass es keinen Gott gibt. Das zweite Problem ergibt sich umgehend aus dem ersten. Falls Gott tatsächlich existiert, stellt sich zwangsläufig die Frage, welcher denn dann der „richtige“ Gott ist. Die Tatsache, dass jemand im evangelischen Wittenberg geboren wurde und nicht im katholischen Rom, sagt noch nichts darüber aus, wie Gott wirklich ist. Dieses Problem wächst mit der zunehmenden Globalisierung. Im muslimischen Mekka denkt man anders über Gott als im buddhistischen Tibet oder im hinduistischen Mumbai. Aber welche dieser vielen Religionen verehrt den „wahren“ Gott? Das dritte Problem betrifft die Frage der Methode. Kann man überhaupt „über“ Gott reden? Jeder seriöse Wissenschaftler könnte über seine Forschungsergebnisse einen Vortrag halten, weil er sein Forschungsgebiet beherrscht. Er kann den Gegenstand seiner Untersuchung zum Beispiel unter ein Mikroskop legen und analysieren. Aber ist diese Redeform angemessen, wenn es um Gott geht? Die biblischen Schriften erzählen auffälligerweise nicht über Gott, sondern von Gott, denn hier berichten Menschen, welche Erfahrungen sie mit Gott gemacht haben. In den Psalmen des Alten Testaments münden diese Erzählungen dann in ein Gespräch mit Gott. Fazit: Es gibt zwar überall auf der Erde religiöse Schriften und Menschen, die von ihren Erfahrungen mit Gott erzählen. Gleichzeitig muss aber jeder, der über Gott reden will, berücksichtigen, dass Gott für uns Menschen unverfügbar ist. Gott ist immer größer als die Gotteserfahrung, die jemand gemacht hat. Wer seine eigene Gotteserfahrung verabsolutiert und Andersdenkenden fundamentalistisch aufdrängt, leugnet genau diese Größe Gottes, die er mit Gewalt durchzusetzen versucht. 9 Gott und die Schöpfung Die Bibel erzählt, dass Gott der Schöpfer der Welt ist. Das bedeutet, dass die Erschaffung der Welt eine freie Tat Gottes ist. Gott hätte es auch unterlassen können, eine Welt zu schaffen. Die Existenz der Welt ist nicht notwendig, die Welt könnte auch nicht sein, ihr Dasein ist sozusagen „zufällig“. Gott benötigt keinerlei Voraussetzungen für die Erschaffung der Welt. Das ist mit dem theologischen Fachausdruck „creatio ex nihilo“ – Schöpfung aus dem Nichts – gemeint. Gott braucht keine bereits vorhandene Materie, die er ordnen und gestalten müsste. Er muss nicht gegen Chaosmächte kämpfen und keinen Gegengott überwinden wie es zum Beispiel im babylonischen Schöpfungsmythos erzählt wird. Dementsprechend gibt es auch keinen zweiten Gott, der für das Böse und das Leid in der Welt verantwortlich ist. Jeder Dualismus und jede Zweiprinzipienlehre ist mit der Rede von der creatio ex nihilo ausgeschlossen. Das hebräische Verb „bara“ für schaffen ist im gesamten Alten Testament ausschließlich Gott vorbehalten; nur er wird in der Bibel als Subjekt dieses Verbs erwähnt. Auch nach ihrer Erschaffung bleibt die Welt dauerhaft von Gott abhängig. Die Welt verdankt ihr Dasein nicht sich selbst. Das gilt sowohl für den Anfang bei der Erschaffung der Welt als auch für ihr weiteres Bestehen und für ihre weitere Existenz. Die Welt ist in jedem Augenblick abhängig davon, dass Gott sie in jedem Augenblick im Sein erhält, sonst würde die Welt ins Nichts zurückfallen. Das ist mit der theologischen Bezeichnung „creatio continua“ gemeint, also die fortgesetzte, andauernde Erschaffung der Welt durch Gott. Die Welt kann nicht aus sich selbst heraus bestehen; sie bleibt auf Gott angewiesen – so wie ein Heißluftballon, der darauf angewiesen ist, dass der Brenner nicht plötzlich ausfällt. Die Welt ist Gabe und Geschenk Gottes. Gott erschafft die Welt aus seinem freien Willen; Empfänger der Schöpfung sind die Geschöpfe. Das heißt, das Dasein der verschiedenen Geschöpfe ist zugleich ein Geschenk an die anderen Mitgeschöpfe. Das bedeutet für den Menschen und für seine Stellung innerhalb der Schöpfung, dass er Auge und Ohr der Schöpfung Gottes ist. Die Menschen hören und schauen stellvertretend für den ganzen Kosmos die Schönheit der von Gott erschaffenen Welt. Natürlich soll der Mensch 10 auch wahrnehmen, was er selbst an der Schöpfung zerstört hat. Aber er soll auch sehen, was Gott in der Schöpfung schön gemacht hat, denn wenn der Mensch sich nicht mehr an der Schöpfung freuen kann, dann verschwindet mit der Freude auch die wahrgenommene Schönheit und dann verstummen das Lob der Schöpfung und des Schöpfers. Gottes Name und Unverfügbarkeit (Ex 3) Der Name Gottes spielt im jüdischen Glauben eine ganz zentrale Rolle. Er ist keine poetische Erfindung von Menschen, sondern geht auf die Selbstoffenbarung Gottes zurück. In Ex 3 – Exodus ist der Fachbegriff für das zweite Buch Mose und bedeutet auf Deutsch „Auszug“; weitere Abkürzungen im Buchanhang - wird erzählt, wie das Volk Israel von den Ägyptern zur Sklavenarbeit gezwungen wird. Obwohl der Pharao alle männlichen neugeborenen Juden töten lässt, wird Mose, der Sohn einer Jüdin, gerettet und wächst am Hof des Pharao auf. Als er später beobachtet, wie ein ägyptischer Aufseher einen Juden verprügelt, erschlägt Mose den Ägypter. Mose muss aus Ägypten fliehen und gelangt ins Land Midian, das vermutlich auf der südöstlichen Sinaihalbinsel liegt. Dort heiratet er Zippora, die Tochter des dortigen Priesters Jitro. Während Mose die Schafe seines Schwiegervaters hütet, sieht er am Berg Horeb einmal einen brennenden Dornbusch, der nicht verbrennt. Er wird neugierig und geht zu dem Busch, um das seltsame Phänomen näher zu betrachten, doch plötzlich spricht die Stimme Gottes zu ihm aus dem Busch. Gott beauftragt Mose, das Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten herauszuführen und in das Land Kanaan in die Freiheit zu bringen. Dabei stellt sich Gott in Ex 3,6 selbst vor als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Als Mose Gott nach seinem Namen fragt, antwortet dieser: Ich bin da. Der hebräische Gottesname Jahwe wird in hebräischen Buchstaben mit „JHWH“ wiedergegeben und in der theologischen Fachsprache als sogenanntes Tetragramm bezeichnet. Er geht auf das hebräische Wort für das deutsche Verb „sein“ zurück, sodass die Formulierung in V. 14 unterschiedlich übersetzt werden kann, zum Beispiel „Ich bin, der ich bin“, „Ich werde 11 sein, der ich sein werde“ oder schlicht „Ich bin da“. Im deutschen Bibeltext steht überall dort das mit Großbuchstaben geschriebene Wort HERR, wo im ursprünglichen hebräischen Text des Alten Testaments der hebräische Gottesname Jahwe gebraucht wird. Theologisch besonders bedeutsam ist, dass an dieser Stelle bei der Berufung des Mose der Gott der Väter mit dem Gott Jahwe zusammengeführt und identifiziert wird. Deshalb sagt Gott in Ex 3,15 zu Mose: Sag zum Volk Israel: „Der Ich-bin-da hat mich zu euch geschickt: der HERR! Er ist der Gott eurer Vorfahren, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. „HERR“ ist mein Name für alle Zeiten. Mit diesem Namen sollen mich auch die kommenden Generationen ansprechen, wenn sie zu mir beten.“ Mose führt zwar seinen Auftrag aus und geht zum Pharao, doch verweigert der Pharao den Juden die Ausreise. Deshalb lässt Gott zehn Plagen über die Ägypter kommen. Die zehnte Plage besteht darin, dass alle männliche Erstgeburt beim Vieh und jeder älteste Sohn einer Familie stirbt. In der allgemeinen Verwirrung ergreift das Volk Israel die Flucht, doch der Pharao lässt es durch sein Heer verfolgen. Durch ein Wunder gelangt das Volk Israel trockenen Fußes durch das geteilte Schilfmeer, während die ägyptischen Truppen in den zurückkehrenden Wassermassen ertrinken. Bei dieser Erzählung in Ex 3 handelt es sich um einen Schlüsseltext des jüdischen Glaubens, denn hier wird Mose von Gott selbst zum Führer Israels berufen. Darüber hinaus erweist sich Jahwe als Gott eines ganzen Volkes, der das Potenzial zu einer politischen Befreiungsaktion hat. Darin wird der große Unterschied zu dem Gott Abrahams deutlich, der als Familiengott lediglich der Gott einer Sippe war. Außerdem ist Jahwe für sein auserwähltes Volk da. Er bindet sich also an das Volk Israel als sein Gegenüber; er begleitet es auf seinem Weg und ist nicht mehr an einen heiligen Ort gebunden. Und schließlich wird in Ex 3 die Spannung zwischen der Selbstoffenbarung Gottes und der Unverfügbarkeit Gottes deutlich, denn Gott bleibt weiterhin für sein Volk unverfügbar, auch wenn er seinem Volk seine Gegenwart und 12 Hilfe zusagt. Er offenbart zwar seinen Namen, aber zugleich bleibt sein Name rätselhaft. Es bleibt in Ex 3 unklar, ob ein Engel Jahwes oder Jahwe selbst aus dem Dornbusch zu Mose spricht. Gott zeigt sich zwar in Dingen dieser Welt, aber er ist doch nicht mit ihnen identisch. Das wird besonders am Dornbusch deutlich, der einerseits brennt, aber andererseits nicht verbrennt. Darüber hinaus weisen auch das verzehrende Feuer und der mit schmerzhaften Stacheln ausgestattete Dornbusch auf Gottes Unzugänglichkeit hin. Das Volk Israel gelangt anschließend auf der Flucht zum Berg Sinai. Dort teilt Gott dem Mose die Zehn Gebote und viele weitere Vorschriften mit. Sie bilden die Grundlage für den Sinaibund, den Gott mit seinem Volk Israel schließt. Es fällt auf, dass gleich zu Beginn in Ex 20, 3f. das Verbot, andere Götter zu verehren, verbunden wird mit dem Verbot, sich ein Bild von Gott zu machen. Dieses Bilderverbot unterschied in alttestamentlicher Zeit die jüdische Religion von allen anderen Nachbarreligionen. In allen benachbarten Religionen gehörte die Verehrung von Götterstatuen zum zentralen Kult der jeweiligen Religion; entsprechend galt die Zerstörung von Götterstatuen als absolutes Sakrileg. In Israel war es umgekehrt; hier galt die Herstellung und Verehrung eines Götterstandbildes als absolut verwerflich. Natürlich kennt auch das Judentum sprachliche Bilder von Gott. Gott ist zum Beispiel der Hirte oder der Fels. Selbst Jesus beschreibt Gott im Vaterunser mit einem Bild, nämlich als Vater. Das Bilderverbot hat den Sinn, Gottes Freiheit und Unverfügbarkeit zu bewahren. Der Mensch soll Gott nicht auf ein Bild festlegen, denn seine begrenzten menschlichen Gottesvorstellungen sollen durch neue Gotteserfahrungen veränderbar bleiben. Gott sagt sich zwar zu: Ich bin da – aber er macht sich damit nicht verfügbar. Er gibt zwar ein Versprechen, aber er gibt keine Garantie. In Ex 32 wird erzählt, wie die Israeliten der Versuchung erliegen, Gott trotzdem handhabbar zu machen, um ihn verlässlich überall hin mitnehmen zu können, damit er garantiert zur Verfügung steht, wenn man ihn braucht. Deshalb stellen sie Gott in einem goldenen Stierbild dar. Dieser Versuch 13 scheitert, denn Gott lässt sich nicht einschränken; er bleibt frei und unverfügbar. Der Mensch kann darauf vertrauen, dass Gott bei ihm ist, aber er hat keine Garantien oder Sicherheiten. Gott ist nicht berechenbar, denn er ist immer größer als die Bilder, die wir Menschen uns von ihm machen. Die Verabsolutierung des eigenen Gottesbildes wird zur Leugnung des wahren Gottes. Gott wird gewissermaßen zum Opfer der Verwirrungen des menschlichen Geistes. Das Bilderverbot dagegen bewahrt davor, vom eigenen Gottesbild versklavt zu werden. Diese innere Freiheit, die eigene Gottesvorstellung nicht verabsolutieren zu müssen, bildet die belastbare Grundlage für einen gewaltfreien Dialog der verschiedenen Religionen ohne sture Rechthaberei. Gottes Allgegenwart (Ps 139) Dass Gott allgegenwärtig ist, gehört zu den grundlegenden Aussagen des christlichen Glaubens. Doch diese Erkenntnis ist keineswegs selbstverständlich. David zum Beispiel verflucht in 1. Sam 26,19 die Anhänger König Sauls, denn sie zwingen ihn, aus dem Land zu fliehen und bei fremden Göttern Hilfe zu suchen: Sie wollen mich vertreiben, mir meinen Anteil am Land des HERRN nehmen; sie sagen zu mir: „Geh fort, diene fremden Göttern!“ Die jüdischen Gläubigen um 1000 vor Christus trauten Jahwe zwar zu, dass er im gesamten Land Israel mit seiner Macht gegenwärtig war und dass er in seinem heiligen Tempel in Jerusalem wohnte, doch an der Landesgrenze endete für sie der Herrschaftsbereich Jahwes; wer sie überschritt, geriet unter den Herrschaftsbereich eines anderen Gottes. Diese Glaubensauffassung änderte sich durch die Katastrophe des babylonischen Exils. So wie die Herausführung des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten zum entscheidenden Heilsereignis in der jüdischen Geschichte wurde, so wurde die Eroberung Israels durch die Babylonier im Jahr 587 vor Christus zum entscheidenden Unheilsereignis. Die gesamte jüdische 14 Oberschicht wurde nach Babylon, das im heutigen Irak liegt, verschleppt. Die Stadt Jerusalem, der jüdische Tempel und damit das religiöse Zentrum Israels waren vollkommen zerstört. Wer lesen, schreiben und Verantwortung übernehmen konnte, wurde gefangen nach Babylon weggeführt und dort angesiedelt. Im Land Israel blieben nur Alte, Kinder und solche Menschen zurück, die keine Gefahr für die Babylonier darstellten. Dieses babylonische Exil brachte die jüdische Religion in eine grundlegende Krise, die andererseits zu völlig neuen Glaubenseinsichten führte. Die herausragende neue Erkenntnis war, dass Jahwe überall gleichzeitig sein kann, sowohl im Land Israel als auch bei den Weggeführten im Exil in Babylon. Psalm 139, 7f. fasst diese neue Einsicht in ein persönliches Bekenntnis: Wohin kann ich gehen, um dir zu entrinnen, wohin fliehen, damit du mich nicht siehst? Steige ich hinauf in den Himmel – du bist da. Verstecke ich mich in der Totenwelt – dort bist du auch. Gott ist überall gegenwärtig, nicht nur auf der gesamten Erde, sondern auch im Himmel und sogar im Totenreich. Also kann er auch bei den jüdischen Gläubigen im babylonischen Exil sein. Darüber hinaus werden die geschichtlichen Ereignisse neu gedeutet. Die neue Glaubenserkenntnis lautete: Die Babylonier haben zwar das Volk Israel besiegt, aber nicht ihren Gott. Ganz im Gegenteil! Jahwe selbst hat die Babylonier als sein Werkzeug benutzt und durch sie die Niederlage und das Exil herbeigeführt als Strafe dafür, dass sein Volk den Sinaibund gebrochen und seine Gebote übertreten hat. Damit hat Jahwe sich als mächtiger erwiesen als die babylonischen Götter. Eine vergleichbare Geschichtsdeutung vertritt Lukas, wenn er in Lk 2,1 erzählt, dass Gott den mächtigsten Mann der damaligen bekannten Welt benutzt hat, um die alttestamentliche Verheißung zu erfüllen und den Messias wie angekündigt in Bethlehem zur Welt kommen zu lassen. Es ist die von Kaiser Augustus in Rom angeordnete Volkszählung, die Josef und Maria auf den Weg nach Bethlehem in Bewegung setzt. Lukas stellt damit Gott als den alleinigen Lenker der Heilsgeschichte dar, für den sogar die politischen Machthaber nur Marionetten sind. 15 In Psalm 139 wird darüber hinaus deutlich, dass Gottes Allgegenwart eng mit Gottes Allwissenheit zusammenhängt. Gott weiß schon vorher, was passieren wird, weil er alle Ereignisse lenkt: Du sahst mich schon fertig, als ich noch ungeformt war. Im Voraus hast du alles aufgeschrieben, jeder meiner Tage war schon vorgezeichnet, noch ehe der erste begann. (V. 16) Eine weitere Glaubenserkenntnis in der babylonischen Gefangenschaft, die sich aus der Allgegenwart Gottes ergab, bestand in einer neuen Deutung der Zerstörung des Tempels in Jerusalem. Die Babylonier hatten ihn zwar zerstört, aber die jüdischen Gläubigen erkannten, dass sie überhaupt nicht auf einen kollektiven Gottesdienst im zentralen Heiligtum in Jerusalem angewiesen waren. Der jüdische Glaube kann stattdessen auch in der Familie oder in der Frömmigkeit des Einzelnen praktiziert werden. Die Frage nach der Allgegenwart Gottes wurde in der Reformationszeit im Zusammenhang mit dem Abendmahl zu einem zentralen Streitpunkt. Im Abendmahlsstreit zwischen Luther und Zwingli ging es um die Frage, wie der Leib Christi in der Oblate sein kann, wenn der Leib Christi doch in den Himmel aufgefahren ist. Zwingli behauptete, der Leib Christi sei gar nicht beim Abendmahl in der Oblate gegenwärtig, weil er im Himmel zur Rechten Gottes sitze. Jesu Satz „Das ist mein Leib“ müsse also bildlich und im übertragenen Sinne verstanden werden: Diese Oblate deutet auf meinen Leib hin. Luther dagegen hielt am Wortsinn fest. In der Oblate ist der Leib Christi tatsächlich gegenwärtig, zugleich ist Christi Leib auch im Himmel. Luthers Erklärungsmodell für diese jeder Logik widersprechenden Ansicht war die Lehre von der communicatio idiomatum, auf Deutsch: die Mitteilung der Eigenschaften. Luther ging davon aus, dass die Einheit der Person Christi so umfassend ist, dass die göttliche Natur Christi und die menschliche Natur Christi miteinander in Beziehung treten. Das bedeutet, dass die göttliche Natur Christi ihre Eigenschaften wie zum Beispiel die Allgegenwart auch der menschlichen Natur Christi mitteilt. Damit bekommt die menschliche Natur Christi Anteil an diesen göttlichen Eigenschaften mit der Folge, dass 16 der Leib Christi überall sein kann. Umgekehrt bekommt die göttliche Natur Christi auch Anteil an den menschlichen Eigenschaften Christi wie zum Beispiel der Sterblichkeit. Nur deshalb ist es möglich, dass in Jesus Christus Gott in seiner göttlichen Natur am Kreuz stirbt. Die evangelisch-lutherische Konkordienformel von 1577 veranschaulicht Zwinglis Verständnis der beiden Naturen Christi mit dem Bild von zwei zusammengeleimten Brettern; hier findet keinerlei Austausch zwischen den Brettern statt. Luthers Verständnis der Mitteilung der Eigenschaften der beiden Naturen dagegen wird veranschaulicht im Bild von einem Stück Eisen, das ins Feuer gelegt wird und die Eigenschaften des Feuers annimmt, indem es heiß und rotglühend wird. Dennoch bleibt es ein Eisen, das vorher kalt, hart und grau war. Das Feuer wiederum bekommt Form und Gestalt, indem es sich mit dem Eisen verbindet. Trotzdem bleibt es Feuer. Die Liebe Gottes (1. Kor 13) „Gott ist die Liebe.“ So kurz und klar kann man das Gottesbild des Neuen Testaments zusammenfassen. Zwar wird von Gottes Liebe auch im Alten Testament erzählt, aber nicht in dieser Eindeutigkeit und Ausschließlichkeit, wie es das Neue Testament tut. In sämtlichen neutestamentlichen Schriften wird bezeugt, dass die Liebe Gottes in Jesus Christus konkrete Gestalt angenommen hat. Allerdings sollte man in Bezug auf die Liebe Gottes einige wichtige Punkte beachten, um Missverständnisse zu vermeiden. Weil Gott die Liebe ist, ist die Rede vom „lieben Gott“ durchaus angemessen, wenn man sie versteht als das kindliche Vertrauen eines Menschen, der sich auf Gott verlässt und sich bei ihm geborgen fühlt. Wer aber aus diesem Satz „Gott ist die Liebe“ die Konsequenz ableitet, dass er nun alles über Gott weiß, der übersieht, dass Gott für uns Menschen weiterhin unverfügbar bleibt. Einerseits ist und bleibt Gott gnädig und barmherzig; das ist die zentrale Botschaft Jesu. Aber andererseits gibt es auch weiterhin eine dunkle Seite Gottes, die uns verborgen bleibt. Gott ist auch derjenige, der richtet, straft und zürnt. Wenn diese dunkle Seite Gottes ausgeblendet oder verschwiegen wird, wird die Rede vom „lieben Gott“ unglaubwürdig oder zynisch. 17
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