AUSSERDEM VON PANINI ERHÄLTLICH WARCRAFT: Der offizielle Roman zum Film Christie Golden, ISBN 978-3-8332-3267-1 WARCRAFT: Durotan – Die offizielle Vorgeschichte zum Film, Christie Golden, ISBN 978-3-8332-3266-4 WORLD OF WARCRAFT: Kriegsverbrechen Christie Golden – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2858-2 WORLD OF WARCRAFT: Der Untergang der Aspekte Richard A. Knaak – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2859-9 WORLD OF WARCRAFT: Vol’jin – Schatten der Horde Michael Stackpole – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2617-5 WORLD OF WARCRAFT: Jaina Prachtmeer – Gezeiten des Krieges Christie Golden – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2523-9 WORLD OF WARCRAFT: Wolfsherz Richard A. Knaak – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2233-7 WORLD OF WARCRAFT Band 9: Thrall – Drachendämmerung Christie Golden – ISBN 978-3-8332-2439-3 WORLD OF WARCRAFT Band 8: Weltenbeben – Die Vorgeschichte zu Cataclysm, Christie Golden – ISBN 978-3-8332-2234-4 WORLD OF WARCRAFT Band 7: Sturmgrimm Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-2051-7 WORLD OF WARCRAFT Band 6: Arthas – Aufstieg des Lichkönigs, Christie Golden – ISBN 978-3-8332-2050-0 WORLD OF WARCRAFT Band 5: Die Nacht des Drachen Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1792-0 WORLD OF WARCRAFT Band 4: Jenseits des Dunklen Portals Aaron Rosenberg, Christie Golden – ISBN 978-3-8332-1791-3 WORLD OF WARCRAFT Band 3: Im Strom der Dunkelheit Aaron Rosenberg – ISBN 978-3-8332-1640-4 WORLD OF WARCRAFT Band 2: Aufstieg der Horde Christie Golden – ISBN 978-3-8332-1574-2 WORLD OF WARCRAFT Band 1: Teufelskreis Keith R. A. DeCandido – ISBN 978-3-8332-1465-3 Weitere Titel und Infos unter www.paninibooks.de Von William King Ins Deutsche übertragen von Tobias Toneguzzo Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Buch wurde auf chlorfreiem, umweltfreundlich hergestelltem Papier gedruckt. Englische Originalausgabe: „World of Warcraft: Illidan“ by William King published in the US by Del Rey, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC, New York, April 2016. Copyright © 2016 Blizzard Entertainment, Inc. All Rights Reserved. Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70178 Stuttgart. Geschäftsführer: Hermann Paul Head of Editorial: Jo Löffler Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected]) Presse & PR: Steffen Volkmer Übersetzung: Tobias Toneguzzo Lektorat: Friederike Fischer für Grinning Cat Productions Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart Book design by Barbara M. Bachmann Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck: GGP Media, Pößneck Printed in Germany YDWCTP001 ISBN 978-3-8332-3265-7 1. Auflage, Juli 2016 Auch als E-Book erhältlich: ISBN 978-3-8332-3383-8 Findet uns im Netz: www.paninicomics.de PaniniComicsDE Für meinen Sohn Dan, der mich auf dieser Reise begleitet hat. S ch e rgr at Z a Nga r m a rSch eN N agr a N d Wä lde r voN te rok k a r Scherbenwelt N eth e rSt u r m h ölleN f eu e rh a lbi NSel S ch atteN moN dta l PROL OG Sechs Jahre vor dem Fall Die uralte Dunkelheit, die ihn umgab, hielt ihn ebenso wenig vom Sehen ab wie der Umstand, dass er keine Augen hatte. Einst war er ein Zauberer gewesen, ein äußerst mächtiger, und seine Spektralsicht zeigte ihm jeden Zentimeter seiner Zelle mit größerer Klarheit, als fleischliche Augen es je vermocht hätten. Selbst ohne sie fand er sich in seinem Gefängnis zurecht. Er kannte jede Steinplatte auf dem Boden, jeden Zauber, der ihn fesselte. Er wusste, wie sie aussahen, wie sie sich anfühlten. Er wusste, welchen Widerhall seine Füße bei jedem der neun Schritte von einer Seite der Zelle auf die andere verursachten. Er spürte den Fluss der Magie überall um sich, Zauber um Zauber, Spruch um Spruch, deren seelenzermalmende Macht nur einem Ziel diente: Dafür zu sorgen, dass er hier eingeschlossen blieb, vergessen und ohne Vergebung. Jene, die ihn hier eingesperrt hatten, wollten, dass dieser Ort seine Gruft wurde. Sie hatten ihn im Lauf der Millennien vergessen. Sie hätten besser daran getan, ihn zu töten. Das wäre gütiger gewesen. Stattdessen ließen sie ihn leben und taten so, als wäre das eine Gnade. Damit sie – sein Bruder, Malfurion Sturmgrimm, und die Frau, die er liebte, Tyrande Wisperwind, und all die anderen – ihr Gewissen nicht beflecken mussten. Lange Jahrhunderte waren vergangen, ohne dass er die 9 Stimme eines anderen lebenden Wesens vernommen hätte. Nur seine Kerkermeister, die Wächter, sprachen gelegentlich zu ihm, und sie hatte er schon früh zu hassen gelernt. Besonders groß war sein Hass auf ihre Anführerin, die Wächterin Maiev Schattensang. Sie besuchte ihn häufiger als die anderen, noch immer in Sorge, dass er allen Sicherheitsvorkehrungen zum Trotz fliehen könnte. Einst hatte sie seinen Tod gefordert; jetzt war es ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass er eingesperrt blieb, während alle anderen ihn längst vergessen hatten. Was war das? Ein leichtes Zittern im Ring der Zauberfesseln? Unmöglich. Es gab kein Entkommen von diesem Ort. Nicht einmal durch den Tod. Zauber heilten jede Verletzung, die er sich selbst zufügen könnte, Magie hielt ihn am Leben, ohne dass er Wasser oder Nahrung brauchte. Diese Ketten waren von Meistern ihrer Zunft geschmiedet worden, und sie lagen so eng um ihn, dass sie nur von jenen wieder gelöst werden konnten, die ihn hier lebendig begraben hatten. Doch das würden sie niemals tun. Sie hatten zu große Angst davor, ihn freizulassen. Und das zu Recht. Jahrhundertelang hatte er darüber gebrütet, was er mit denen anstellen würde, die ihn eingesperrt hatten. Zeit war das Einzige, das er besaß. Die Dauer seiner Kerkerhaft überstieg die Anzahl der Jahre in Freiheit um ein Vielfaches. Jeder andere hätte längst den Verstand verloren. Vielleicht war er auch schon verrückt. Wie viele Tausend Jahre waren vergangen, seit man ihn hier eingeschlossen hatte? Er wusste es nicht mehr. Das war das Schlimmste. Jahrtausende in Finsternis zu verbringen, gefangen in einem Käfig, nie mehr als neun Schritte in eine Richtung machen zu können. Er, der einst Dämonen durch die ungezähmte Wildnis von Azeroth gejagt hatte, war an einen Ort gebunden, an dem er nicht einmal ein Tier eingesperrt hätte. Sie hatten ihn verurteilt, obwohl er nur versucht hatte, ihren 10 gemeinsamen Feind zu besiegen. Er hatte sich in die Reihen der Brennenden Legion eingeschlichen, des eingeschworenen Feindes seines Volkes – nein, seiner Welt –, um die Zerstörung zu vergelten, die von den dämonischen Eindringlingen angerichtet worden war. Doch hatte man ihn dafür belohnt? Nein! Sie hatten ihn lebendig begraben. Sein Volk hatte ihn für einen Verräter gehalten, einen Betrüger. Einst war er ein Held für sie gewesen, doch nun nicht mehr. Falls sich überhaupt noch jemand an ihn erinnerte, wurde sein Name gewiss nur noch als Fluch benutzt. Vernahm er da das Klirren von Waffen? Er schob den Gedanken beiseite, weigerte sich, Hoffnung in seiner Brust aufkeimen zu lassen. Es gab niemanden dort draußen, der ihn frei sehen wollte. Seine Familie und Freunde hatten sich von ihm abgewandt, als er versucht hatte, auf dem Berg Hyjal den Brunnen der Ewigkeit wiederherzustellen, jene uralte Machtquelle der Nachtelfen. Die Einzigen, die Interesse an seiner Befreiung haben könnten, wären Dämonen, aber seine Kerkermeister würden sie töten, lange bevor ihr Plan gelänge. Und solange seine magischen Fesseln ihn umgaben, könnte er auch nichts tun, um das zu verhindern. Doch da war es schon wieder. Ein weiteres Beben in den Strömen der Magie um ihn herum. Das Gewebe der Macht, das ihn all die Zeit gebunden hatte, wurde schwächer. Er hob den Arm, spreizte die Finger und streckte die Hand dann aus, um aus der Magie zu schöpfen. Zum ersten Mal seit Jahrtausenden spürte er eine Reaktion, ein Prickeln, so schwach, dass er zunächst glaubte, er würde es sich nur einbilden. Er rief nach seinen Zwillingsklingen, den Kriegsgleven von Azzinoth. Sie waren als Zeichen des Triumphes auf einem Gestell draußen vor seiner Zelle aufgehängt, um ihn zu verspotten, doch dank der uralten Seelenbindung zwischen ihm und den Waffen erschienen sie nun in seinen Händen. Macht durchströmte sie und brachte die Runen auf den Klingen zum Leuchten. 11 Sein Herz schlug schneller, sein Mund war trocken. Es gab also doch Hoffnung auf Freiheit. Er schloss die Finger fester um die Kriegsgleven. In der Vergangenheit hatten sie Dämonen niedergestreckt, jetzt würden sie Elfen töten. Einst hätte ihn dieser Gedanke entsetzt, doch jetzt nicht mehr. Er würde es sogar genießen. Wieder flackerten seine magischen Ketten, während die Kampfgeräusche lauter wurden. Einige der Sprüche waren bereits gebrochen. Vielleicht wurden sie durch das Blutvergießen entweiht oder durch die Zauber zersetzt, die, deutlich spürbar, im Kampf draußen eingesetzt wurden. Energie strömte ihm zu, als seine Fesseln nachgaben. Sein Herz pochte wild, sein Körper prickelte, und er fühlte sich, als würde er jeden Moment mit seinem Atem Feuer ausstoßen. Der Strom der Macht war nach der langen Abstinenz geradezu überwältigend. Er spürte eine Präsenz vor der Tür seiner Zelle und bereitete sich auf einen Angriff vor. Da erklang eine Stimme, und es war die letzte, die er in diesem Moment erwartet hätte. „Illidan, bist du da drin?“, fragte Tyrande Wisperwind. All seine Rachefantasien, seine Träume von Vergeltung verblassten, als wäre er nie eingesperrt gewesen. Das Gefühl überraschte ihn; er hätte nicht für möglich gehalten, dass etwas oder jemand sein Herz erweichen könnte – und schon gar nicht sie. Er hatte jahrzehntelang nicht gesprochen, und seine Worte waren eingerostet. „Tyrande … du bist es! Nach dieser Ewigkeit im Dunkel ist deine Stimme für meinen Geist wie reines Mondlicht.“ Er verfluchte sich für seine Schwäche. Das waren nicht die Worte, die er sich in seinen Träumen von Flucht und Freiheit vorgestellt hatte, aber sie kamen wie von selbst über seine Lippen, und Hoffnung blühte in seiner Brust auf. Vielleicht hatte sie eingesehen, dass sie einen Fehler begangen hatte. Vielleicht war sie hier, um ihn zu befreien. Um ihm zu vergeben. 12 „Die Legion ist zurück, Illidan. Dein Volk braucht dich noch einmal.“ Seine Fäuste schlossen sich fester um seine Waffen. „Mein Volk braucht mich? Mein Volk ließ mich hier verrotten!“ Der Zorn schnürte ihm die Kehle zu und erstickte jedes weitere Wort. Die Dämonen waren also zurück, genau wie er es schon immer vorhergesagt hatte, und sein Volk wollte seine Hilfe. Die lodernde Wut, die durch ihn hindurchbrandete, hinterließ eine tiefe Leere, und noch mehr Macht strömte hinein, um dieses Loch zu füllen. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr – die Zauber, die ihn fesselten, waren geschwächt. Tyrande half seine Ketten zu lockern, indem sie ihren Willen vom Zauber abgewandt hatte. Er konzentrierte all seinen Zorn und seine aufgestaute Frustration auf einen mächtigen Befreiungszauber. Einen Moment lang hielten die geschwächten Fesseln noch, aber wirklich nur für einen Moment. Ströme von Macht zersetzten die Barrieren um ihn, und die Magie, die ihn gefangen hielt, löste sich auf, zunächst langsam, doch dann immer schneller. Er zerschmetterte die Gitter, sprengte die Wände seiner Zelle. Und da stand Tyrande, schön wie ehedem, und starrte ihn an. Die Jahre hatten ihr nichts angehabt. Sie war noch immer hochgewachsen, mit heller, violetter Haut und blauem Haar, anmutig wie eine Tempeltänzerin und liebreizend wie der Mondaufgang über Nordrassil. Sie roch nach Blut und entfesselter Magie. Es war offensichtlich, dass sie seinen Zorn sah, denn sie wandte sich ab, unfähig, seinem Blick standzuhalten. Dass sie so lange Jahre nach ihrer letzten Begegnung derart vor ihm zurückschreckte, schmerzte ihn mehr als alles andere. „Einst warst du mir teuer, Tyrande. Darum werde ich die Dämonen finden und die Legion vernichten.“ Er fletschte die Zähne. „Aber unserem Volk bin ich rein gar nichts schuldig.“ Jetzt begegnete sie seinem Blick. Emotionen huschten über ihr Gesicht. Hoffnung. Furcht. War das Mitleid oder Bedau13 ern? Er war sich nicht sicher, und er verabscheute sich dafür, dass er so großen Wert darauf legte, was sie dachte. Was sie fühlte, war bedeutungslos, war nichts! Tyrande sagte: „Dann lass uns schnell zur Oberfläche zurückkehren! Mit jeder Sekunde, die wir verschwenden, breitet sich die Verderbnis der Dämonen weiter aus.“ Das war alles. Das war die Begrüßung, die er nach den langen, vergeudeten Jahrtausenden bekam. Keine Entschuldigung. Keine Reue. Sie hatte geholfen, ihn an diesem schrecklichen Ort einzusperren, und jetzt wollte sie, dass er ihr half. Und das Schlimmste daran war, dass er es tun würde. Vor der Zelle lagen Leichen über den Boden verstreut. Offensichtlich hatte hier ein heftiger Kampf getobt, und Tyrande hatte sich ihren Weg hierher freigeschlagen, um ihn zu befreien. Sie musste wirklich verzweifelt sein, wenn sie zu solchen Mitteln griff. Er blickte auf den riesenhaften Leichnam des Hüters des Hains hinab. Nun, falls die Brennende Legion zurückgekehrt war, hatte sie auch allen Grund, verzweifelt zu sein. Die Legion zerstörte Welten, so wie andere Armeen Städte zerstörten. „Hast du ihn getötet?“, fragte er und deutete auf die Leiche von Califax. „Ja“, antwortete Tyrande. „Der Hüter des Hains wollte dich nicht freilassen.“ Illidan lachte. „Maiev wird wütend sein. Er war einer ihrer Lieblinge.“ Tyrande errötete. „Das ist kein Grund für Gelächter“, tadelte sie. „In den Jahrtausenden, seit ihr mich eingesperrt habt, hatte ich nur selten Grund zur Freude. Vergib mir also, falls mein Sinn für Humor etwas seltsam erscheint.“ „Zehntausend“, sagte sie. „Was?“ 14 „Es ist mehr als zehntausend Jahre her, seit du hierher gebracht wurdest.“ Das Lachen erstarb auf seinen Lippen. Das Gewicht ihrer Worte legte sich auf ihn wie das Gewicht der Welt über ihren Köpfen. „So lange“, murmelte er leise, dann blickte er zurück zu dem uralten Gewölbe seiner Zelle, spürte das Geflecht der Zauber, die ihn gefesselt hatten. Er beschleunigte seine Schritte, entschlossen, diesen Ort zu verlassen und nie wieder hierher zurückzukehren. „Warum hast du mich wirklich befreit?“, fragte er, noch immer in der Hoffnung, dass sie zumindest einen Hauch von Bedauern über ihre Taten zeigen würde. „Wie gesagt, die Brennende Legion ist zurück. Niemand weiß mehr über sie als du. Niemand hat mehr Dämonen erschlagen.“ „Hast du keine Angst, dass ich euch hintergehen könnte? Man nennt mich den Verräter, weißt du das nicht mehr?“ „Du warst ein Verräter, aber letztlich hast du dich für die richtige Seite entschieden.“ Er deutete mit einer tätowierten Hand auf ihre Umgebung. „Und sieh nur, wohin es mich gebracht hat.“ „Du könntest tot sein. Wie so viele unseres Volkes.“ „Was soll all dieses Gerede über unser Volk? Es ist nicht unser Volk. Es ist dein Volk.“ „Hasst du uns so sehr?“ „Ja“, erklärte er, die Lippen abfällig verzogen. „Aber zu eurem Glück hasse ich die Dämonen noch mehr.“ Sie nickte, als hätte er gerade bestätigt, was sie hören wollte. Ein Verdacht durchzuckte ihn. Dass man ihn eingesperrt hatte, war kein Akt der Gnade gewesen; sie hatte gewusst, dass er eines Tages wieder gebraucht werden würde. Man hatte ihn aufbewahrt wie eine Waffe in einer Rüstkammer. Vor ihnen spürte er eine gewaltige – und vertraute – Macht: 15 sein Bruder. Er hätte es sich eigentlich denken können. Wo Tyrande war, konnte ihr Geliebter, Malfurion, nicht weit sein. Illidans ganzer Körper spannte sich, bereit für einen Kampf. Seine Begleiterin spürte es ebenfalls. Sie eilte voraus und blieb dann stehen, als ihr der Weg von der mächtigen Präsenz des Erzdruiden Malfurion Sturmgrimm versperrt wurde. Illidans Bruder war ein wahrer Hüne, und ein Geweih spross aus seinem Kopf. Ein bestürzter Ausdruck legte sich auf seine attraktiven Züge; offensichtlich war er nicht hier, um Tyrande zu helfen. Vier Druiden der Klaue flankierten Malfurion, jeder von ihnen in der Gestalt eines Bären. Sie ließen ihre krallenbewehrten Tatzen spielen und knurrten Illidan an. Sie waren wohl hier postiert, um seine Flucht zu verhindern, und sie schienen noch immer entschlossen, ihre Pflicht zu erfüllen. „Mal!“, sagte Tyrande. Illidan kämpfte darum, seinen Zorn zu beherrschen. Hier stand der Bruder, der ihn verurteilt hatte. Als er seine Stimme wiederfand, war sie voller Verbitterung. „Es ist eine Ewigkeit her, Bruder. Eine Ewigkeit in der Dunkelheit!“ Malfurion begegnete seinem Blick unbeeindruckt. „Du wurdest verurteilt, um für deine Sünden zu büßen, mehr nicht.“ Diese Heuchelei war unfassbar. Welcher Bruder verdammt sein eigen Fleisch und Blut zu zehntausend Jahren in einer Gruft? „Und wer warst du, über mich zu richten? Falls ich mich recht entsinne, kämpften wir Seite an Seite gegen die Dämonen!“ Die Luft zwischen ihnen knisterte vor Spannung. Sie beide waren in diesem Moment bereit, zu kämpfen – und zu töten. Tyrande rief: „Genug damit, ihr beiden! Was geschehen ist, ist geschehen.“ Sie richtete die ganze Macht ihrer Aufmerksamkeit auf Malfurion. „Mein Geliebter, mit Illidans Hilfe können wir die Dä16 monen einmal mehr zurückschlagen und retten, was noch von unserem geliebten Land übrig ist!“ Der Erzdruide schüttelte den Kopf. „Hast du auch über den Preis nachgedacht, Tyrande? Die Hilfe dieses Verräters in Anspruch zu nehmen, könnte unser aller Untergang sein. Ich will nichts damit zu tun haben.“ Illidan zwang sich zu einem gelassenen Gesichtsausdruck. Sein eigener Bruder hielt ihn augenscheinlich noch immer für ein Monster, nichts weiter. Eine Marionette der Legion. Er würde es ihm zeigen. Er würde ihnen allen zeigen, dass die Dämonen keine Macht über ihn hatten. „Falls du dich in Schwäche und Unentschlossenheit ergehen willst, Bruder, dann tu es woanders“, sagte er. „Ich habe etwas zu erledigen, und mir bleibt nur wenig Zeit.“ Illidan entfesselte einen Teil der Energie, die er beständig zurückgewonnen hatte, und stieß die Personen um ihn herum gegen die Steinwände. Anschließend marschierte er an ihren benommenen Gestalten vorbei aus dem Gefängnis. Tief in seinem Herzen wusste er, dass man ihn erneut einen Verräter nennen würde, bevor diese Sache vorüber wäre, und diesmal würde er den Titel verdienen. Nie wieder würde er sich einsperren lassen. 17 1 Vier Jahre vor dem Fall Grüne Meteore schnitten durch die dunklen Wolken, die permanent den Himmel über dem Schattenmondtal verbargen. Die Erde bebte, als die monströs verzierten, dämonischen Belagerungsmaschinen auf den Mauern des Schwarzen Tempels Tod und Verderben auf die Blutelfentruppen von Kael’thas Sonnenwanderer herabregnen ließen. Der rote Boden der Scherbenwelt war bereits mit Leichen übersät, aber trotz ihrer Verluste drängten die Elfen weiter vor, entschlossen, die Zitadelle von Magtheridon – Fürsten der Scherbenwelt und Satrap der Brennenden Legion in diesen verwüsteten Landen – zu stürmen. Illidan hielt einen Moment inne und musterte den Schwarzen Tempel. Unerfahrenen Augen mochten die Verteidigungsanlagen unüberwindbar erscheinen, aber er sah, dass man sie vernachlässigt hatte. Es gab zu wenige Wachtposten entlang der hoch aufragenden Mauern, die Schutzzauber begannen, ihre Wirkung zu verlieren, und die Metallstützen an den Toren waren fleckig vor Rost und Grünspan. Die Verteidiger reagierten nur langsam, als könnten sie nicht wirklich glauben, dass sie von einer so viel kleineren Streitmacht angegriffen wurden. Vielleicht erwarteten sie auch, von ihren dämonischen Verbündeten unterstützt zu werden. Doch falls dem so war, stand ihnen eine große Enttäuschung bevor. Illidan und seine Mitstreiter hatten den ganzen langen, heißen Tag damit ver18 bracht, die Tore zu versiegeln, durch welche die Dämonen beschworen wurden. Von dort würden ihre Feinde also keine Unterstützung erhalten. Illidan sah zu Prinz Kael’thas hinüber. „Magtheridon hat im Lauf der Zeit an Macht gewonnen, aber er musste sich nur selten echten Feinden stellen. Das hat ihn dekadent und selbstgefällig gemacht. Unserer Taktik und unserem Willen hat der arrogante Hundesohn nichts entgegenzusetzen.“ Der hochgewachsene, hellhaarige Blutelfenprinz blickte zu ihm auf. Wilde Kampffreude funkelte in seinen Augen. „Dies wird eine glorreiche Schlacht, Meister. Magtheridons Truppen mögen den unseren zahlenmäßig weit überlegen sein, aber Eure Soldaten sind bereit, bis zum Ende zu kämpfen.“ Illidan hoffte, dass es nicht so weit kommen würde. Er musste den Schwarzen Tempel und die Herrschaft über die Scherbenwelt schnell an sich reißen, falls er vor der Rache des Dämonenlords Kil’jaeden sicher sein wollte. Als er sich nach seiner Befreiung aus der Gefangenschaft wieder der Brennenden Legion angeschlossen hatte, war er von Kil’jaeden mit einer Aufgabe betraut worden – den Frostthron zu zerstören und dadurch einen rebellischen Diener zu eliminieren –, aber Illidan hatte die Mission nicht ausgeführt. Der Betrüger duldete jedoch kein Versagen. Durch das Schließen der Portale, da war sich Illidan sicher, könnte er auch Kil’jaedens Versuche vereiteln, ihn aufzuspüren. Und die Eroberung der Festung würde ihm eine solidere Operationsbasis verschaffen, von der aus er die Portale geschlossen halten konnte. Ein Elfenzauberer hob die Hand und sandte einen Blitz arkaner Energie in Richtung der Mauern. Doch schlecht instand gehalten oder nicht, die Verteidigungsanlagen hielten ihn ab, bevor er eine der Belagerungsmaschinen treffen konnte. Ein Feuerball kam in hohem Bogen in Richtung des Zauberers zurück und verbrannte die blutrote Erde, weil die Verteidiger die Entfernung falsch eingeschätzt hatten. Eine Gruppe 19 von Kael’thas’ Soldaten eilte vorbei, um am Fuß der Mauern Schutz zu suchen. Illidan ballte die Fäuste, als er die Dämonen im Innern des Tempels spürte. Hier, in der fremden Scherbenwelt, spürte er die Verlockungen der dämonischen Magie stärker als sonst, und umso mehr, seit er die Macht aus dem Schädel von Gul’dan absorbiert hatte. Die böse Energie des Artefakts hatte ihn verwandelt, ihn sowohl körperlich als auch im Hinblick auf die Grenzen seiner Kraft verändert, und er hatte mehrere Monate gebraucht, um sein Gleichgewicht wiederzufinden. Nun spreizte er seine neuen, dämonischen Flügel, was ihm einen besorgten Blick von Prinz Kael’thas einbrachte. Illidan atmete tief ein und zwang sich zur Ruhe. Der Weg, der ihn bis an diesen Punkt geführt hatte, war lang und bizarr gewesen. Seit Tyrande ihn auf Azeroth befreit hatte, war er Zeuge des Sturzes der Brennenden Legion auf seiner Heimatwelt gewesen, hatte einen Pakt mit einem Dämonenlord geschlossen und war in die Scherbenwelt geflohen, um seinen Feinden zu entgehen – den Nachtelfen ebenso wie den Dämonen. Er war von seiner alten Erzfeindin, Maiev, gefangen genommen und dann von seinen Verbündeten befreit worden: dem jungen Prinzen Kael’thas – seine Loyalität hatte Illidan sich durch das Versprechen gesichert, dass er den Blut elfen helfen würde, ihre Sucht nach Magie zu befriedigen – und Lady Vashj, einer Anführerin der Naga. Nun war er drauf und dran, den Grubenlord zu stürzen, der diese zerstörte Welt im Namen der Brennenden Legion regierte. Kael’thas starrte ihn an; er erwartete wohl eine Reaktion auf sein Treueversprechen. Illidan sagte: „Mir gefällt der Einsatz deiner Leute, junger Kael. Ihr Geist und ihre Kraft wurden in dieser brutalen Wildnis geschärft. Ihr Mut allein könnte ausreichen, um …“ „Fürst Illidan, ein paar Neuankömmlinge sind hier, um Euch zu sehen.“ Lady Vashjs Stimme unterbrach ihn, während 20 sie in Sichtweite schlängelte. Bei jeder Bewegung zogen sich ihre kräftigen Muskeln zusammen, um sich dann wieder zu strecken und ihren sich windenden Unterleib vorwärtszuschieben. Ihr Gesicht erinnerte an eine Nachtelfe, und seine seltsame Schönheit stellte einen bizarren Kontrast zum grausigen Rest ihres Schlangenkörpers dar. Illidan drehte sich um und folgte ihrem ausgestreckten Finger mit seinen Blicken. Mehrere monströse Gestalten stampften auf ihn zu, gebrochen, verdorben und degeneriert. Er erkannte sie sofort: Ehemalige Mitglieder des Volkes, das Draenor bewohnt hatte, bevor es zur verwüsteten Scherbenwelt geworden war. Auch sie gehörten zu Illidans Koalition. Er hatte sie mit dem Versprochen an sich gebunden, dass er sie gegen ihren gemeinsamen Feind Magtheridon unterstützen würde. Die Zerschlagenen waren riesige, plumpe Monster, die primitive Waffen in den Händen hielten. Illidans mystische Sinne erkannten, dass noch weitere in der Nähe waren, mächtige Zauber verbargen sie vor denen, die nicht über seine Spektralsicht verfügten. Allein dank dieser Fähigkeit konnte er sie wahrnehmen. Einer der Zerschlagenen, der sogar noch größer und verkrümmter war als der Rest, humpelte auf seinen Hufen nach vorn. „Wir haben die Orcs und ihre Dämonenmeister seit Generationen bekämpft“, stieß die Gestalt mit krächzender Stimme aus den Tiefen ihrer Brust hervor. Das Sprechen schien ihm große Schmerzen zu bereiten. „Jetzt, endlich, werden wir ihrem Fluch ein Ende setzen. Wir warten auf Eure Befehle, Fürst Illidan.“ Es war Akama, der Anführer der Zerschlagenen. Mit den Fängen, die aus seinem Unterkiefer hervorstachen, und den Tentakeln, die von der unteren Hälfte seines Gesichts herabhingen, bot er keinen besonders beruhigenden Anblick. „Ihr kommt gerade rechtzeitig“, sagte Illidan. „Jemand 21 muss diese Maschinen auf den Mauern zerstören und das Tor öffnen.“ Akama nickte und gestikulierte, woraufhin seine bislang beinahe unsichtbaren Zerschlagenen über die freie Fläche nach vorne strömten und die Mauern des Schwarzen Tempels emporkletterten. Eine kleine Gruppe von Blutelfen und Naga ging direkt unter den titanischen Verteidigungsanlagen und den Wurfbahnen der dämonischen Maschinen in Deckung, und Illidan, Kael’thas und Lady Vashj gesellten sich zu ihnen, gemeinsam mit Akama und seinen Leibwächtern. Einmal mehr zeigte sich die Überheblichkeit des sogenannten Lords der Scherbenwelt. Eine effektiv geschützte Festung hätte Fässer bereitstehen gehabt, aus denen man siedendes Öl oder alchemistisches Feuer auf die Angreifer hätte herabschütten können. Doch so konnten die Verteidiger nichts tun. So dicht an der Mauer konnte Illidan das Summen der magischen Generatoren hören, mit denen die dämonischen Kriegsmaschinen mit Energie versorgt wurden. Plötzlich wurde dieses Summen von Kampfgeräuschen von innerhalb des Schwarzen Tempels übertönt, und dann schwangen die gewaltigen Tore auf. Akama und seine Wächter rannten los, um sich in die Schlacht zu stürzen. Explosionen dröhnten, als die Zerschlagenen die Generatoren zerstörten, woraufhin die Kriegsmaschinen auf den Mauern verstummten. Der Großteil der Naga- und Blutelfentruppen rückte erneut in Richtung des Tors vor. Akama kehrte zurück, sein grässliches Gesicht leuchtete triumphierend. Er hatte lange auf diesen Tag gewartet. Illidan lächelte. „Wie versprochen soll dein Volk seine Rache bekommen, Akama. Wenn morgen die Sonne aufgeht, werden wir alle den Sieg gekostet haben. Vashj, Kael, gebt die Befehle für den letzten Angriff. Die Stunde des Zorns ist gekommen!“ Durch die offenen Tore konnte er einen gewaltigen Hof sehen, auf dem sich Knochen türmten. Rothäutige Höllenorcs 22 rannten verwirrt durcheinander, während ihre Anführer Befehle brüllten und versuchten, so etwas wie Ordnung wiederherzustellen, um die Eindringlinge zurückzuschlagen. Innerhalb der Tempelanlage kamen auf jeden von Illidans Kriegern ungefähr zehn Höllenorcs, alle durch üble Magie zu etwas verzerrt, das weit stärker und wilder war als ein normaler Orc. Jetzt nützte ihnen auch das nichts mehr. Illidans Truppen strömten auf den Hof, ein dicht geschlossener Keil, der so mühelos durch die chaotischen Reihen pflügte wie ihre Klingen durch Orcfleisch schnitten. Illidan stieß seine Klauen in einen Gegner. Knochen zerbarsten, als er die Hand schloss und ein Loch in seinen Brustkorb riss, aus dem er das Herz hervorzerrte. Der Höllenorc brüllte und schnellte mit schnappenden Kiefern vor, um zu versuchen, ihm noch im Moment seines Todes die Kehle zu zerfleischen. Illidan hob die Leiche hoch über seinen Kopf und warf sie einer herbeieilenden Einheit der rothäutigen Verteidiger entgegen. Nachdem sie unter dem Gewicht des Toten zu Boden gestürzt waren, sprang er in ihre Mitte und zog die Kriegsgleven aus der Hülle. Er schlug zu, nach links und nach rechts und mit unwiderstehlicher Wucht. Seine Feinde fielen enthauptet, mit abgehackten Gliedmaßen. Ihr Blut bedeckte Illidan, und er leckte es sich von den Lippen und stürmte schlagend und hackend weiter. Rings um ihn schrien die Sterbenden, und Magie donnerte, als Prinz Kael’thas und Lady Vashj ihre Zauber entfachten. Illidan war versucht, es ihnen gleichzutun, aber er wollte seine Kräfte für die finale Konfrontation mit Magtheridon aufsparen. Seine Klingen mit den Höllenorcs zu kreuzen, erfüllte einen Teil von ihm mit Freude – nichts kam an das Gefühl heran, mit eigenen Händen das Blut seiner Feinde zu vergießen. Besonders der dämonische Teil, der tief in seinem Inneren gefesselt war, genoss es, sich auf diese Weise zu nähren. 23
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