Shotokan - mumondo

Die „Flammenwolke“ (Unyou) im Shotokan-Karate
zusammengefasst von Albert Krieter
1. Herkunft und Merkmale
Laut Überlieferung der Schule gilt Togo Shigetaka (1563-1643) als der Begründer der Jigen ryu. Bei
einem Besuch in Kyoto im Jahr 1588 lernte er den Zen-Mönch Wataru Akasaka (Zenkichi) kennen, der
sich auch mit Ken jutsu beschäftigte. Shigetaka fand Interesse an dessen Stil und erlernte ihn durch
gemeinsame Fechtübungen. Togo Shigetaka nannte diesen Stil Jigen ryu (jigen - Offenbarung,
Erleuchtung, ryu - Schule) und etablierte ihn als Hausschule des Shimazu-Clans, dem herrschenden
Adelsgeschlecht in Satsuma auf Kyushu, der südlichsten Insel Japans.
In der Jigen ryu ist das zentrale Prinzip das „Töten mit einem Schlag (Ikken hissatsu)“. Dieses Prinzip
beruht auf eine Technik, genannt „Einziges Schwert“(Ichi no tachi). Mit dieser Technik soll der Gegner
mit einem einzigen Hieb niedergestreckt werden, Waffe und Körper mit einem Schlag. Das gegnerische
Schwert wird mit einer starken Attacke niedergeschlagen bzw. gerade durch dieses hindurch und so
wird die Abwehr durchbrochen (Uchiotoshi). Der Schwertkämpfer soll das kommende Geschehen
beherrschen und die innere Einstellung anstreben, stets mit dem ersten Schlag zu siegen. Denn im
Kampf mit dem wirklichen Schwert entscheidet der Moment des Schwertziehens über Sieg oder
Niederlage, und der erste Schlag entscheidet über Leben oder Tod. Einen zweiten gibt es nicht.
In der Jigen ryu gibt es keine obere, mittlere und untere Schwertposition. Es gibt nur eine einzige,
Hasso genannte Stellung. Die Arme werden dabei hochgehoben, als wolle man in den Himmel stechen.
Dann schnellt man mit einem bis ins Mark gehenden Kampfschrei (Kiai), der in der entscheidenden
Phase einer Technik ausgestoßen wird und der die Einheit von Willen und Handlung zum Ausdruck
bringen soll, nach vorn und lässt das Schwert heruntersausen. Mit dem kiai richtet man seine Energie
(Ki) gegen den Gegner. Ein Kiai kann dabei auch lautlos sein (Kensei). In der Regel handelt es sich
jedoch um einen im Bauch (Hara) gebildeten Laut. Der Kiai ist sowohl eine Geisteshaltung (Shin) als
auch eine Technik (Gi) der Stimme. Er ist die Kunst, all seine physische und mentale Energie mit
unerschütterlicher Entschlossenheit auf ein Objekt zu fokussieren und nach vorn zu gehen.
Ein Angehöriger der Schule erläutert diese spezielle Technik im Folgenden:
„Im Jigen ryu benutzen wir eine Position, welche sich „Libelle“ (Tombo) nennt. Der Stil ähnelt der Art,
wie ein kleines Kind versucht mit einem Stock nach etwas zu schlagen, indem es seine linke Hand zu
Hilfe nimmt. Zuerst bringt man die rechte Hand mit dem Schwert hinter das Ohr, wobei die linke Hand
auf die rechte folgt. Der Ellenbogen sollte dabei vor der linken Körperseite liegen. Dadurch verbirgt man
die Klinge hinter dem Rücken vor den Augen des Feindes. Bei der folgenden Attacke sollte man das
linke Knie nicht mehr bewegen. Um Kraft für den Schlag zu gewinnen drehe man Körper und Hüfte ein.
Dieser Angriff heißt Linkes-Knie-Schnitt (Sakoukou setsudan). Nur mit diesem Schlag erreicht man die
enorme Kraft und Geschwindigkeit, welche „Flammenwolke“ (Unyou) genannt wird. Eine geheime
Technik der Schule trainiert diesen Angriff, indem man 5,5 m in nur 3 Schritten überwindet. Dieses
Verfahren ist einzigartig im Jigen ryu und so effektiv, dass keine Abwehrtechniken vermittelt werden.
Täglich nur Angriff auf Angriff üben - mit dem „Schwert des Unyou“ (Unyou no ken) braucht man
letztendlich keinen Schutz!“
Wie die Anwendung dieser Technik im Ernstfall auszusehen hat, beschreibt eine andere Übersetzung:
„Die Schule favorisiert eine Philosophie, welche man am ehesten mit „schnell im Töten und schnell
wieder heraus“ beschreiben könnte. Die primäre Technik bestand darin, im vollen Lauf das Schwert zu
ziehen, dabei die Schwertscheide (Saya) abzuwerfen, mit einem Sprung und einem Kiai auf einen
Gegner einzustürmen und ihm dabei mit einem einzigen Abwärtsschnitt den Schädel zu spalten. Ohne
zu verweilen wendet sich der Samurai seinem nächsten Feind in der gleichen Weise zu...“.
In der Jigen ryu sieht man in dieser starken Attacke Abwehr und Angriff zugleich - der eigene Hieb
kontrolliert und beherrscht den gegnerischen Angriff, während er zur selben Zeit die feindliche Abwehr
durchbricht oder niederschlägt und den Feind so trifft. So kann einem unvorbereiteten, feindlichen
Schwertkämpfer leicht die eigene Klinge mit zum Verhängnis werden.
Von 1609 bis 1875 befand sich Okinawa als Kolonie komplett unter der Herrschaft der Provinz
Satsuma, womit die Eroberer auch die Jigen ryu importierten. In dieser Zeit gab es mit Sicherheit
Begegnungen zwischen Samurai, welche in der Jigen ryu ausgebildet waren, und Studenten der
Karate-Stilrichtungen. Sicher wurden auch privilegierte Einheimische in Satsuma ausgebildet und
könnten dort Kontakt zu diesem Fechtsystem gefunden haben. Als Beispiele können Sokon Matsumura
(1797-1889) und Yasutsune (Anko) Azato (1828-1906) genannt werden, die sich beide unter Ishuin
Yashichiro in der Jigen ryu übten und großen Einfluss auf die Entwicklung des Karate (damals noch als
Shuri-te, „Hand aus Shuri“, bezeichnet) auf Okinawa hatten. Nagamine Shoshin, ein bedeutender
Karateka, berichtet in „Tales of Okinawan Great Masters“, dass Sokon Matsumura nicht nur ein Experte
im okinawanischen Te und chinesischem Quanfa, sondern auch in der Jigen ryu war. Obwohl in der
Genealogie der Jigen ryu die Namen Matsumura und Azato nicht erwähnt werden, fand er 1942 eine
Widmung des Jigen ryu-Meisters Ishuin Yashichiro und eine Bildrolle (Makimono) des Jigen ryu bei den
Nachfahren Matsumuras vor. Und Gichin Funkoshi berichtete 1934 von seinem Lehrer Yasutsune
Azato, dass dieser ebenfalls unter Ishuin Yashichiro gelernt hatte. Unter anderem bemerkt er: "Nach
meiner Ansicht war Azato sensei unvergleichlich im Karate, betrachtet man jedoch seine Vorliebe für
das Jigen ryu, war Schwertkampf seine wahre Leidenschaft." Diese Vorliebe kommt auch in der
Aussage Azatos "Wenn du Karate übst, so betrachte deine Arme und Beine als Schwerter" zum
Ausdruck. Von Hiromichi Nakayama (1869-1958), der auch als der „letzte Heilige des Schwertes“
bezeichnet wurde, stammen, ähnlich wie Azatos Vorstellung vom Karate, die folgenden Worte: „Karate
macht die bloße Hand zum Schwert. Und das ist mehr als nur eine Metapher. Die Karate-Faust ist ein
Schwert.“
Es ist also möglich, dass die Jigen ryu einen Einfluss auf das Shuri-te über Matsumura und Azato
gehabt haben könnte. Das elfte Oberhaupt der Jigen ryu, Togo Shigemasa, antwortete 1993 auf die
Frage, ob es eine Verbindung zwischen den okinawanischen Stilen und der Jigen ryu gäbe: "Es steht
außer Frage, dass Jigen ryu mit den nichtmilitärischen Kampfkunsttraditionen Okinawas verbunden ist;
es ist aber fraglich, wer wen beeinflusst hat!" Einige Karate-Experten vermuten, dass der Einfluss der
Jigen ryu auf die Matsumura-Schule über eine geheime, „innere Linie“ (Uchi-Deshi-Linie)
weitergegeben wurde. Diese innere Linie des Shuri-te verlief dann von Sokon Matsumura über
Yasutsune Azato zu Gichin Funakoshi (1868-1957) und von ihm vermutlich auf seinen Sohn Yoshitaka
(Gigo) (1901-1945). Und diese von Sokon Matsumura begründete und von Yasutsune Azato weiter
perfektionierte, jetzt genannte Shorin ryu (übersetzt bedeutet es "Junge Waldschule" und ist die
okinawanische Aussprache für Shaolin) und die darauf aufbauende, von Yoshitaka Funakoshi weiter
entwickelte Shotokan ryu (Schule des „Hauses des Pinienrauschens“) unterscheiden sich technisch
und bioenergetisch erheblich von den meisten waffenlosen Kampfstilen Okinawas.
Bereits im 10. Jahrhundert begannen sich auf Okinawa eigenständige Formen der Selbstverteidigung
zu entwickeln. Man nannte sie einfach Te (japanisch für „Hand“) oder Ti (okinawanisch für „Technik“).
Im 14. Jahrhundert brachten dann chinesische Einwanderer aus der südöstlichen Provinz Fujian den
Baihequan („Weißer Kranich Stil“, jap. Hakutsuru ken) nach Okinawa mit, wo er als Tode („Hand aus
China“) bezeichnet wurde. Dieser südliche Kranichstil beeinflusste alle usprünglichen Kampfstile
Okinawas (Naha-te, Shuri-te und Tomari-te, zusammengefasst zu Okinawa-te). Aus ihm stammt die
Lehre der Stimulation von Vitalpunkten (Kyusho jutsu) bzw. der Angriff auf Vitalpunkte (Atemi-te), die
Techniken der „klebenden Hände“ (Tuite oder Kakie) und der Wiederbelebung (Kuatsu). So entstanden
auf Okinawa Stile, bei denen die Regel „Hände und Beine suchen“ (Tanshu tantai) galt. Der Kampf
beginnt damit, dass die Gegner sich gegenseitig auf ihre technischen Fähigkeiten hin „abtasten“,
einander studieren. Man beginnt mit hohen Kamae (Haltungen), verringert schrittweise die Distanz und
geht über zu niedrigeren Kamae, und nach einem Schlagabtausch zieht man sich wieder zurück. Dann
nähert man sich einander wieder, und es kommt zu einem erneuten Schlagabtausch. So entwickelt sich
ein relativ spektakulärer oder theatralischer Kampf. Dabei werden oft offene Handtechniken verwendet,
denn ein großer Teil des Curriculums besteht, neben dem Angriff auf Vitalpunkte, auch aus Greifen und
Werfen bzw. Hebeln. Schlagtechniken mit der Faust werden oft nur zur Vorbereitung verwendet.
Die Shotokan ryu (und damit wohl auch die Shorin ryu der Uchi-Deshi-Linie) greift hier auf ein ganz
anderes Bewegungsmuster zurück. So treten Nahkampftechniken, Hebel und Würfe sowie Angriffe mit
der offenen Hand auf die Vitalpunkte in den Hintergrund. Charakteristisch sind hohe und tiefe
Stellungen im Wechsel und harte, schockartige, schnelle Bewegungen, die einen deutlichen effektivkämpferischen Aspekt erkennen lassen und auf die Ausprägung äußerer Stärke abzielen. Dabei sind
eine Besonderheit die „Explosivkraft“ (Hakkei) oder „Kraft des Moments“ (Sunkei) genannten
Techniken. Der genannte Ausdruck „Explosivkraft“ bzw. „Kraft des Moments“ bezeichnet die Harmonie
von Atmung und Aktion, um die inneren Energien zu akkumulieren, den gesamten Körper in einem
Augenblick bei starker Ausatmung explosionsartig einzusetzen und dann wieder zu entspannen (Kime).
Und dieses Kime ermöglicht erst die zentrale Idee des „tödlichen ersten Schlags“ zu realisieren, die
dieser Stil mit der Jigen ryu gemeinsam zu haben scheint. Und viele der Bewegungen erinnern an die
beschriebene Schwerttechnik des Unyou no ken: Das schnelle Überbrücken einer weiteren Distanz,
bevorzugt wird die mittlere Kampfdistanz, mit dem Ziel, den Gegner mit einem Schlag zu besiegen
(Ikken hissatsu). Außerdem gleichen sich die Beschreibungen der Schwerttechniken erheblich mit dem
Bewegungsmuster – eine tiefe Stellung und ein unbewegliches vorderes Knie beim Schlag und die
Entwicklung der Kraft (Kime) durch die Rotationsbewegung der Hüfte (Jin kaiten) während des Angriffs.
Auch hier wird besonderer Wert auf die Stärke der Technik als Entscheidungskriterium im Kampf
gelegt. Dazu kommen auch die vielen diagonal seitlichen Ausweichbewegungen vom Gegner weg und
schnelle Wechsel zwischen oder die Gleichzeitigkeit von Angriff und Verteidigung, die durch Yasutsune
Azato perfektioniert wurden und die wie bei der Jigen ryu auf die Kontrolle der Situation abzielen.
Obwohl Gichin Funakoshi von Yasutsune Azato, seinem ersten Lehrer, diesen Stil, der dem
Schwertkampfstil der Jigen ryu zu ähneln scheint, wahrscheinlich erlernt haben muss, zeigte und
unterrichtete er nur ein Karate nach dem Verständnis seines zweiten Lehrers Yasutsune Itosu (18321916). Und dieser Stil war kämpferisch entschärft. Er kannte nur hohe Stellungen, kurze Bewegungen
und hatte mehr einen sportlich-gymnastischen Charakter. Die an die Jigen ryu erinnernden Merkmale
gab es nicht. Das verleitete Masutatsu Oyama, einen ehemaligen Schüler Gichin Funakoshis, dazu,
öffentlich zu spotten: "Funakoshi ist nicht in der Lage, etwas anderes als Gymnastik zu unterrichten."
Auch das Urteil anderer zeitgenössischer Karate-Experten ist wenig schmeichelhaft. Einige
Zeitgenossen Funakoshis bezichtigten ihn sogar des Verrats am traditionellen Okinawa-Karate - was
angesichts der tief greifenden inhaltlichen Veränderungen (nach Yasutsune Itosu) nicht ganz von der
Hand zu weisen ist. Moderne Autoren gehen daher zunehmend davon aus, dass die eigentlichen
Impulse für die Entwicklung der Shotokan ryu von Funakoshis drittem Sohn Yoshitaka ausgingen.
Zwischen 1938 und 1943 wurde unter Yoshitaka Funakoshi die Shotokan ryu grundsätzlich
aggressiver. Der Schwerpunkt wurde mehr auf Angriffstechniken gelegt, die Stellungen wurden tiefer,
länger und kraftbetonter (Fudo-dachi wurde die Hauptstellung), die Kampfdistanz verlängerte sich,
wobei die mittlere Kampfdistanz bevorzugt wurde und vor allem ein starkes Kime in der Trefferphase
von Techniken wurden eingeübt. Dies könnte eine Wiederaufnahme von Ideen und Technik-Elementen
aus der Matsumura- bzw. Azato-Schule in das Shotokan-Karate des 20. Jahrhunderts gewesen sein,
jedenfalls änderte Yoshitaka die von seinem Vater Gichin Funakoshi vorgegebene Stilrichtung. Taiji
Kase, ein ehemaliger Schüler Yoshitakas, beschrieb bei einem Interview Folgendes: "Shotokan ryu
entwickelt die innere Kraft des Körpers. Die Idee war immer, dass bei der Ausführung der Technik der
Körper in einer Position zum Weitermachen sein soll. Angenommen man greift mit einer Fußtechnik an,
dann kann man das nicht machen, ehe nicht die Stellung und die Hüfte absolut unter Kontrolle sind.
Meister Yoshitaka hat…seinen Stil entwickelt, der es erlaubte, unmittelbar von einer Technik zur
nächsten überzugehen…Wir können uns mit Gleichgewicht und Stabilität überall hin bewegen."
Diese Stiländerungen Yoshitakas müssen allerdings nicht unbedingt aus der Jigen ryu stammen. Ihr
Einfluss auf das Shotokan-Karate kann nach wie vor nicht genau geklärt werden. Trotzdem gibt es die
beschriebenen Ähnlichkeiten und Hinweise: Die Bevorzugung der mittleren Kampfdistanz mit einer ggf.
schnellen Distanz-Überbrückung, das möglichst gleichzeitige Angreifen und Verteidigen, einkalkulierte
Ausweichbewegungen oder Positionen zum Weitermachen, die Kontrolle über das Geschehen der
ganzen Aktion und, es soll möglichst mit einer entscheidenden Technik kampfunfähig gemacht werden
- Ikken hissatsu.
Dieses zentrale Prinzip basiert vor allem auf das Kime, das schockartige, harte Auftreffen eines
Schlags oder Tritts, zusätzlich kombiniert mit dem Jin kaiten, dem Ein- bzw. Ausdrehen der Hüfte als
Verstärker. Dafür werden die Hände, Ellenbogen, Füße, Knie usw. für Stöße, Schläge und Tritte
eingesetzt; Griffe, Hebel und Würfe stehen nicht so im Vordergrund. Das Grundprinzip ist der kraftvolle
"finishing blow", d.h. man versucht den Angreifer möglichst mit einer entscheidenden Technik schon
gleich zu Beginn einer Konfrontation kampfunfähig zu machen. Oder in diesem Zusammenhang auch
ein Zitat von Geoff Thompson, einem ehemaligen Diskotheken-Türsteher aus London: „Ich kann
dir…eine Menge an Schmerzen ersparen, indem ich dir mein Versucht-und-ausprobiert-auf-der-Straßegelerntes System zur körperlichen Selbstverteidigung mitgebe. Es ist lediglich fünf Wörter lang (und
eins von ihnen ist ein Kraftausdruck) - LERNE VERDAMMT HART ZU SCHLAGEN.“
2. Die Konzentration der Kräfte (Kime)
Die ursprüngliche Idee des Ki (jap. für Energie, Lebenskraft oder innerer Atem; ein Begriff aus der
asiatischen Philosophie, identisch mit dem chinesischen Qi oder Chi) entwickelte sich als zentrales
Prinzip in einigen chinesischen Geistesschulen mit daoistischen Wurzeln. Dort war Ki die Quelle der
Aktivitäten, die vitale Fülle des Lebens oder die „göttliche“ Kraft aller Dinge. Unter Ki verstand man die
Wirkkraft der Natur, die den Rhythmus der natürlichen Veränderungen bestimmt und dennoch nicht
erkennbar ist. Eine Kraft, die für den zyklischen Prozess des Werdens, des Wachsens, des Blühens
und des Sterbens in der Natur verantwortlich gemacht wurde. Vom heutigen naturwissenschaftlich
geprägten Menschen wird Ki mehr als ein Konzept gesehen, dass keine physikalische Realität hat,
sondern es handelt sich eher um ein phänomenologisches Konstrukt der Realität.
Der Begriff Kime kann zusammengefasst als "Konzentration der Kräfte" definiert werden und
bezeichnet das Zusammenwirken von geistiger und körperlicher Kraft in einer Aktion. Es ist die
Verwendung des inneren Ki in der äußeren Technik und wird mit Brennpunkt, Kraftkonzentration oder
Zentrum der Kraft übersetzt. Im Shotokan-Karate ist das Kime in erster Linie das richtige Verhältnis
zwischen entspannten und angespannten Muskelpartien; maßgeblich ist die korrekte Körpermechanik.
Erst dann kann das volle Potential an Kraft ausgeschöpft werden und dann ist diese Technik auch
wirkungsvoll, also entscheidend im Sinne von beendend. Hat eine Bewegung Kime, so soll dies
verdeutlichen, dass diese Bewegung kampfentscheidend ist und dass möglichst jede Bewegung mit
Kime ausgeführt wird, womit sich hier das Ikken hissatsu-Prinzip widerspiegelt.
Kime ist das Geheimnis jeder Technik; ohne Kime wird nur ein Teil der Bewegungsenergie umgesetzt.
Um aber effektiv arbeiten zu können, muss der Karateka seine gesamte Energie umsetzten können,
was aber nur über das Kime funktionieren kann. Die bei der Umsetzung auftretenden verschiedenen
Spannungszustände des Körpers können in drei Phasen unterteilt werden:
1. Der Körper ist entspannt. Der Karateka wartet auf den geeigneten Zeitpunkt um seine Technik zu
starten. Tritt dieser Moment ein, so beschleunigt er den Teil seines Körpers, z.B. den Arm oder das
Bein, mit dem er die Technik ausführen will, auf das Ziel hin. In dieser Bewegung muss seine
Muskulatur relativ locker bleiben, um eine hohe Geschwindigkeit erreichen zu können.
2. Hat der Karateka mit seiner Technik das gewünschte Ziel erreicht, so werden schlagartig nur die
Muskeln des Körpers eingesetzt, die für den Einsatz des gesamten Körpers hinter einer Technik
notwendig sind - vom Boden ausgehend über die Hüfte bis hin zum auftreffenden Körperende. So
wird seine kinetische Energie auf einen Punkt gerichtet (ggf. mit einem kiai verstärkt) und seine
beschleunigte Energie wird im Ziel explosionsartig freigesetzt.
3. Der Körper ist wieder entspannt und die Muskulatur gelöst, um sich so eine gewisse
Bewegungsflexibilität für eine Position zum Weitermachen zu erhalten.
Diese Fähigkeit zum Kime ist nicht allein durch Wollen oder Streben zu erreichen, sondern bedeutet
das Einüben einer Haltung (Shisei). Ein durch Selbsterkenntnis erreichtes Gleichgewicht in der inneren
Verfassung: Eine „rechte Haltung“, um eine Kontrolle des inneren Ki zu erreichen, ohne die eine
Projektion nach außen (Kime) in der Technik nicht möglich ist. Diese „rechte Haltung“ hat ihren
Ursprung in der Verwirklichung der psycho-physischen Gleichgewichtsmitte (Hara), die mehr durch
„Zulassen“ als durch „Machen“ erreicht wird. Als Ausdrucksform von Hara bezieht sich Shisei auf eine
Haltung des Körpers, dessen Bewegungen aus dem physischen Mittelpunkt (jap. Tanden, etwas
unterhalb des Bauchnabels) erfolgen. Vom Tanden streckt sich der Oberkörper auf seiner vertikalen
Achse in vollkommenem Gleichgewicht nach oben, der Nacken ist gerade, die Schultern entspannt und
entsprechend folgt der Unterkörper mit Hüfte und Beinen aus dem Tanden heraus der Schwerkraft und
„mit beiden Beinen auf dem Boden stehend“ wird der Körper von den Fußsohlen her nach oben
gedrückt. Der Tanden ist das Spannungszentrum dieser Haltung, ohne angespannt zu sein.
Sowohl im Stand als auch in der Bewegung geht es darum, dieses körperliche Gefüge zu erhalten,
Gleichgewicht und Standfestigkeit (Heiko) zu erreichen, um die Kraft der Mitte voll zur Geltung kommen
zu lassen. Nur ein einwandfreies Gleichgewicht des Körpers in der Bewegung und im Stand macht es
möglich, sich sicher zu bewegen und wenn nötig sofort eine feste Stellung einzunehmen und durch den
Einsatz der Hüfte (Jin kaiten) diese Kraft effektiv zur Geltung zu bringen. Dieser Umgang mit der
Schwerkraft des Körpers muss einwandfrei beherrscht werden, denn er ist der ausschlaggebende
Punkt für die Entwicklung der Ganzkörperbewegung. Die Extremitätenbewegung ist schnell, jedoch
vergleichsweise schwach. Durch den richtigen Umgang mit dem Schwerkraftzentrum (Jushin) kann
man es lernen, eine Bewegungsform zu verstehen, in der die Vorteile der Rumpf- und
Extremitätenbewegung miteinander verbunden werden und so eine große Kraft in der Technik
ermöglichen. Dafür ist die korrekte Körperhaltung Voraussetzung, sie gewährleistet die Kontrolle des
Schwerezentrums, wodurch es möglich wird, die enorme Kraft zu lenken und zu steuern.
Die Anwendung von Kime, die Projektion des inneren Ki nach außen, in den Techniken der
Kampfkünste hat also nichts mit roher Körperkraft zu tun, sondern durch das Erreichen dieser inneren
Verfassung (Shisei) wird eine „wahre, absolute Handlung“ - Ikken hissatsu - nach dem Beispiel des
Wirkens der Natur (ähnlich zur antik-griechischen Physis - φύσις) ermöglicht. Das Ikken hissatsu
bekommt damit einen tieferen Bedeutungsinhalt als nur den des „mit einem Schlag töten“. So
bezeichnet Ikken hissatsu nicht nur das Töten selbst, sondern die Fähigkeit zur „absoluten Handlung“,
die aus der „rechten Haltung“ entsteht. Ikken hissatsu meint die Fähigkeit zur Überwindung von
physischen und psychischen Grenzen mit denen der Karateka in einer realen Kampfsituation
konfrontiert sein kann. Denn eine solche Situation ist immer eine Ausnahmesituation und eine mögliche
Verletzungs- oder sogar Todesfolge muss einkalkuliert werden und erfordert eine gewisse konsequente
Haltung. Mitsusuke Harada, ein ehemaliger Schüler von Yoshitaka Funakoshi, drückt es
folgendermaßen aus: „Man muss es so zu sagen wirklich wollen, also eine Art “Killerinstinkt”
entwickeln. Dies konditioniert auch für den Notfall, da ein normaler Mensch Hemmungen hat, einen
anderen Menschen wirklich schwer zu verletzen. Es muss in einem Notfall eine entsprechende
Entschlossenheit an den Tag gelegt werden, um nicht zu zögern und somit nicht die vielleicht einzige
Chance, die man vielleicht hatte, verstreichen zu lassen.“ Und auch erneut mit Geoff Thompsons
Worten: „Auch hier wird die Schlacht eher mit deinem eigenen Ego als mit deinem Widersacher
stattfinden. Scheue dich nicht zuzugeben, dass du keinen Ärger möchtest und trete schnell den
Rückzug an…und laufe mit Vertrauen weg, als in einer Auseinandersetzung zu enden, die den Verlauf
deines Lebens zum Schlimmsten hin verändern könnte…Bei der Selbstverteidigung geht es darum,
dass Minimum zu tun, was die Situation erlaubt, um dein Überleben zu sichern. Es geht nicht darum,
ein korpulentes Ego oder eine irregeleitete Ehre zu verteidigen.“ Und: „Wenn…nichts [es] bringt und du
wirklich glaubst, das du angegriffen wirst, bleiben dir zwei Möglichkeiten: Schlagen oder geschlagen
werden.“ Ikken hissatsu dient dann zuallerletzt zur Kontrolle der Situation, anstatt durch diese
kontrolliert zu werden.
Anfang 2010 verstarb Shuichi Tsuchiya, ein ehemaliger Schüler Hirokazu Kanazawas, der mir sein
Verständnis von Shotokan-Karate - „Ippon-Karate“ (Ein-Punkt-Karate) - vermittelte. Die obige
Erörterung ist ein kleiner Versuch, dieses „Ippon-Karate“ als sportliche Variante des Ikken hissatsu
theoretisch zu untermauern.