Wie kommt das Neue in die Welt?

LOTHAR WENZL
Wie kommt das Neue in die Welt?
1. Innovation als Prozess
„Innovation ist ein kontinuierlicher
Prozess, der in der Kreation und
Verwendung von Neuem oder
entscheidend weiter entwickelten
Produkten oder Dienstleistungen,
organisationalen Praktiken und Prozessen endet“. Diese und
ähnliche Definitionen hören und lesen wir immer häufiger. Kein
Zufall in einer Zeit voll disruptiver Veränderungen.
Immer noch begreifen viele Innovation als Synonym für
Produktinnovation. Meiner Meinung nach wird jedoch der Aspekt
von fundamentaler Erneuerung organisationaler Praktiken
(Verhaltensmuster, Genetik des Unternehmens) immer wichtiger.
Wir sprechen in diesem Zusammenhang von Innovation zweiter
Ordnung, also der Veränderung der Muster von Organisationen
und damit auch des Innovationsprozesses selbst. Ohne dessen
kontinuierliche Veränderung und Weiterentwicklung bleibt
Innovation nur kontinuierliche Verbesserung. Im Klartext heißt
dies: Wenn wir den Prozess, wie wir zu Innovationen kommen,
nicht ständig zum Thema der Erneuerung machen, wird Innovation
schwierig bleiben. Innovation ist demnach ein immerwährender
Prozess und keine Stelle oder Aufgabe.
Innovation gelingt, wenn klar ist, dass sie ein Resultat vieler
unterstützender Faktoren ist. Oft ist jedoch das Weglassen
behindernder Faktoren noch entscheidender. Man kann Innovation
weder anschaffen, noch anreizen, sie entsteht emergent aus den
besten Teilen der DNA von Organisationen, und sie ist so wenig
planbar wie das Leben selbst. Weit weniger als ein Drittel der
Organisationen sind kontinuierlich innovativ, und selbst dies
scheint noch hochgegriffen zu sein. Machen wir uns nichts vor: es
gab in den letzten 100 Jahren kaum nennenswerte DurchbruchInnovationen im Management. Seit der tayloristischen Wende am
Beginn des 20. Jahrhunderts haben wir viele Mutationen aber keine
Innovation gesehen (Bsp: MbO, Incentives…). Dies wird sich in der
nächsten Dekade zu ändern beginnen, ja es wird sich ändern
müssen, um der Komplexität der Welt begegnen zu können.
Wie geht Innovation nun aber doch?
Die Vorboten zeigen sich bereits in Vorreiterorganisationen.
Gore wird immer wieder als Beispiel dafür herangezogen, dass
heute dynamisches „leading und following“ gefragt ist und
„managen und gemanaged-werden“ immer weniger
funktionieren wird. Bei Gore wählen MitarbeiterInnen für die
Unterstützung ihrer eigenen Entwicklung ihren Sponsor, wie
dies dort heißt, weltweit. Genau so wurde auch der CEO für die
1
Gesamtorganisation von einem weltweiten Gremium gewählt.
Die Frage dafür lautete: Wem würden wir in der Führung des
Gesamtunternehmens am stärksten folgen?
Dies ist gelebte Innovation zweiter Ordnung, ein völlig neues
Denkmuster wird zu einer Idee, die Wert hat und in der Praxis
umsetzbar ist. Ihr Beitrag für das Commitment und den Sinn für
Associates, wie alle MitarbeiterInnen bei Gore heißen, kann gar
nicht hoch genug bewertet werden.
2. Phasen von Innovation1
„Der Zufall geht
Wege, da kommt
die Absicht gar
nicht hin“.
1. Das Wahrnehmen, die Imagination,
das Verwandeln von Eindrücken der
Außenwelt in erste Ideen in unserer
Innenwelt,
2. das Kreieren von Ideen mit Wert für
unser Leben (in unserem Fall für
unsere Organisation) und
3. die Innovation selbst, der kühne
Entwurf, das Experiment, das VerRückte.
Wahrnehmung nach außen richten
Neues entwickelt sich vor allem aus der Beobachtung menschlicher
Interaktion und des Raums, in dem diese stattfindet. Inspiration
entsteht dafür fast immer in der Außenwelt, in der wir Phänomene
an der Nahtstelle zwischen Organisationen und ihren Umwelten im
wahrsten Sinne des Wortes erleben, erspüren können.
Eines der besten Beispiele dafür ist Hilti, ein Unternehmen, das
seit vielen Jahrzehnten für seine Innovationskraft bekannt ist.
„Was brauchen unsere Kunden wirklich“, ist die meistgestellte
Frage dort. Man könnte meinen, dass dies im Fall von
Bohrmaschinen, das genaue, saubere Bohren von Löchern in die
Wand ist. Weit gefehlt: In der Beobachtung der Praxis der Kunden
lernte Hilti, dass das Anzeichnen der Löcher im richtigen Abstand
und Höhe, das größte Problem für Heimwerker ist. Dafür hat Hilti
dann eine Lösung entwickelt, die die Löcher an die Wand
projizieren lässt.
Innovation entsteht, wie in diesem Beispiel sichtbar, in der
Beobachtung von Lebenswelten. Und zwar geplant und ungeplant.
Das Entscheidende ist, worauf sich unser Fokus richtet – und bei
Hilti eben immer auf das Problem der Kunden.
1 Nach Sir Ken Robinson
2
Neue Kontexte schaffen
Wir stützen uns, wenn wir wahrnehmen, immer auf Erfahrungen,
die wir bis dato mit vermeintlich ähnlichen Phänomenen gemacht
haben. Wir verbinden diese mit Bekanntem und formen so lange
um, bis wir diese in unseren bereits bekannten Mustern verstehen
können. Dies bringt Vorurteile, vorschnelle Bewertungen,
Überblendungen und auch Projektionen mit sich. Echte Resonanz,
sich einlassen auf und integrieren der Welt um uns herum entsteht
anders. Wenn wir unsere Art der Wahrnehmung so frei und
unverstellt wie möglich fließen lassen. Wenn wir „wirklich“ Neues
entwickeln wollen, tun wir gut daran, aus unserer Art zu
beobachten, zu interpretieren und daraus schnelle Schlüsse zu
ziehen, auszubrechen. Wenn Innovation entstehen soll, dürfen wir
Umsetzbarkeitsfragen (Könnten wir das bei uns auch umsetzen?)
erst viel später stellen, niemals schon beim Wahrnehmen. Wir
brauchen dafür neue „Brillen“, unverbrauchte Kanäle und Räume.
Job Rotations in der eigenen Organisation sollen hier nur als erstes,
einfaches Beispiel dienen. Schaffen wir uns Rahmenbedingungen
und Kontexte, in denen wir möglichst unverstellt sehen können.
Lernen wir „Wundern und Staunen“2 als Grundprinzip der
Beobachtung statt in die Nützlichkeitsfalle zu tappen.
2
Danke an Ulrich Clement für dieses Gedankenkonstrukt
3. Innovation als Funktion der Kultur
3
Innovation ist demnach eine Funktion
der Unternehmenskultur, eine Folge der
kulturellen Bedingungen in
Organisationen. Ein paar davon will ich
hier erläutern.
Diversität im Innen leben
Diversität meint das konsequente Berücksichtigen aller relevanten
Unterschiede und Perspektiven der Gesellschaft in der DNA und
Struktur eines Unternehmens. Zu allererst Kunden, zu deren
Nutzen sich ja Organisationen eigentlich aufstellen (sollten),
Partner, oder Lieferanten. Nicht zuletzt die Gesellschaft selbst, für
die Organisationen ja Mitverantwortung übernehmen (sollten) und
aus der sie sich das wichtigste zu ihrer ständigen Erneuerung holen
können. Indem gesellschaftliche Prozesse und Perspektiven quasi in
die Organisation geholt und verankert werden (Inklusion) haben
wir eine wichtige Grundvoraussetzung für die Erneuerung von
Organisationen gelegt. In einer sich so schnell und drastisch
ändernden Welt kann diesem ständigen fließenden Stoffwechsel
3
Sämtliche Zitate sind mir aus dem unerschöpflichen Fundus der
virtuellen Welt zugefallen
3
gar nicht genug Bedeutung zugemessen werden. Funktioniert dieser
Austausch, kann Innovation freier und gesünder fließen. Fehlt
dieser, verkrusten Systeme immer mehr, wie wir an Bürokratien,
nicht zuletzt auch am Schulsystem sehen können. Der Schluss für
Innovationsprozesse heißt: Integrieren der Gesellschaft und
anderer Umwelten in all ihren Kommunikations- und
Entscheidungsprozessen.
Lego löst diese Herausforderungen unter anderem dadurch, dass
sie ihre Spieldesigner wochenlang mit Kunden (=Familien) in
deren Alltag mitleben lässt.
Schnelle Entscheidungen auf Augenhöhe
Je steiler die Hierarchie, desto schwerer fällt es Unternehmen,
Kundenfeedback schnell und adäquat in das Unternehmen zu
integrieren. Positiv formuliert: Je mehr das Beobachten der Kunden
(dies geschieht kaum an der Spitze sondern massenhaft an der Basis
des Unternehmens, an der die MitarbeiterInnen im täglichen
Kontakt mit Kunden stehen) und das Entscheiden über die
notwendigen Veränderungen für die Organisation zusammen
fallen, desto leichter wird schnelles Innovieren. Eine wichtige
Rahmenbedingung für die Kreation von neuen Produkten und
Prozessen, da diese Prozesse immer schneller laufen müssen, damit
Organisationen mit der sich beschleunigenden Veränderungen der
Welt mithalten können.
Gore hat deswegen eine Open-Space-artige Organisationsform für
Innovationsprozesse und zwei klare Regeln entwickelt: Wenn
Menschen dort Ideen haben und es schaffen, sich und ein Team
dafür zu verpflichten, daran konsequent zu arbeiten, können sie
sich das nötige Budget abholen, ohne dass jemand etwas dagegen
unternehmen könnte, so lange die 30% Budget, die dafür im
Gesamtbudget jedes Jahr eingestellt werden, noch nicht
aufgebraucht sind.
Kooperation
Noch einmal eine strukturelle Replik zur Diversität:
Bereichsübergreifende Zusammenarbeit in dezentralen Strukturen
hilft enorm, Beobachtungen aus der Außenwelt zu Inspiration im
Inneren machen zu können. Wo einzelne Menschen scheitern, aus
eigenen Denkbahnen auszusteigen, helfen Teams. Diverse Teams,
klug zusammengestellt oder sich selbst organisieren zu lassen, hilft,
neue Sichtweisen einzunehmen und daraus kreative Schlüsse zu
ziehen. Je mehr dies noch mit Entscheidungsspielraum unterstützt
wird, desto eher die Chance auf innovative Leistungen. Gore, wie
oben beschrieben, aber auch Anton Paar machen dies vor.
Bei Anton Paar, einem österreichischen Meßinstrumentehersteller
arbeiten interne Teams mit Kunden direkt an den Produkten
zusammen, um zu sehen, wie Kunden mit diesen Produkten
hantieren, und entwickeln neue Ideen, Verbesserungen, die direkt
4
in den Produktionsprozess übernommen werden können. Dialog
mit Kunden in der Live-Produktentwicklung.
Positive Lernkultur und Freiheit
Innovation entsteht, wenn eine positive
Lern- und eine angstfreie Fehlerkultur
herrschen. Wie umgehen mit den
vielen nicht erfolgreichen
(=marktgängigen) Versuchen für neue
Produkte oder Verfahren? Diese sind ja
unumgänglich, wenn wir Neues
denken und ausprobieren wollen.
Zotter Schokolade soll uns hier als Vorbild dienen. Wer schon mal
die Schokoladenmanufaktur in der Steiermark besucht hat, wird
auch den Produktefriedhof entdeckt haben. Auf diesem Areal sind
grabsteinartig alle nicht erfolgreich gelaunchten (Schoko-) Tafeln
zu bewundern, voller Freude und Stolz ausgestellt. Kunden mögen
sehen, was alles nicht „funktioniert“ hat. Ein unglaublich starkes
Signal nach innen: Experimentiert liebe MitarbeiterInnen und ihr
werdet ein Denkmal erhalten.
Ich habe schon weiter oben die Verkrustung und Bürokratie
angesprochen, Feind jeder Innovationskultur. Diese Bürokratien
entstehen, in dem Regel um Regel gemacht wird, um Fehler
abzustellen, Vorgaben zu machen, damit alles in den zu
kontrollierenden Bahnen läuft. Verstehen Sie mich nicht falsch,
Regeln sind wichtig und es ist prinzipiell auch nichts gegen Bahnen
einzuwenden. Für freies Denken und Experimentieren jedoch, die
Grundpfeiler von Innovation, sind sie Gift. Wir können von den
innovativsten Unternehmen lernen, dass es nur wenige Regeln
braucht, basierend auf wenigen, klaren Prinzipien.
Semco, ein brasilianischer Zentrifugenhersteller, macht es vor.
Im Zentrum steht das Prinzip, „Menschen als Erwachsene“ zu
behandeln, also Eigenverantwortung, wo es nur geht zuzulassen.
In eine Regel gegossen heißt dies: „Es ist 1000 mal besser nachher
um Vergebung zu bitten als vorher um Erlaubnis zu fragen.“ Ich
zitiere dieses Beispiel immer wieder, weil es so plakativ (und in
der Praxis erfolgreich) zeigt, wie viel man mit einfachen
Prinzipien bewegen kann.
Semco ist eines der innovativsten Unternehmen, verzichtet auf
Produktdivisionen und setzt auf konsequente
Eigenverantwortung bei gleichzeitiger Konsequenz in all seinen
Prozessen. Ein fruchtbarer Nährboden für Innovation.
5
Shared Space – Aufmerksamkeit statt Regeln
Ein paar Leitfragen noch zum Schluss für Ihre tägliche Praxis:
Zuletzt sei ein kleiner Exkurs zu einem Konzept erlaubt, das seit
einiger Zeit auch die Verkehrsplanung zu revolutionieren beginnt.
Shared Space ist ein Konzept, das in seiner radikalsten Form alles
weglässt, was die Aufmerksamkeit der VerkehrsteilnehmerInnen
behindert -Verkehrszeichen, Zebrastreifen, Ampeln,
Niveauunterschiede und vieles mehr. Dadurch werden Menschen
fast wie von Zauberhand dazu gebracht, ihre Aufmerksamkeit nicht
auf Verkehrszeichen und Ampeln zu richten sondern auf die
anderen und sich selbst. Die Folgen sind verblüffend, Unfälle
nehmen ab, schwere Verletzungen kommen kaum mehr vor.
Eigentlich ist die Wirksamkeit dieses Konzepts nicht überraschend,
denn fast alle von uns sind schon auf Eislaufplätzen Schlittschuh
gelaufen und haben dabei noch kein Verkehrsschild gesehen. Was
heißt dies für Organisationen: Je weniger Regeln, je mehr
Eigenverantwortung, desto mehr sind wir auf unsere
Wahrnehmung angewiesen, also genau das, was wir für Innovation
brauchen. Je weniger vorgefertigtes Skript, desto mehr Dialog. Je
weniger Aufmerksamkeit auf Prozesse und Vorgaben, desto mehr
Wachsamkeit für Kunden und deren Lebenswelt.




Wie bewegen sich unsere Kunden?
Was sagt er oder sie uns genau über unser Produkt oder unsere
Dienstleistungen?
Wie genau setzen unsere Kunden unser Produkt und Dienste
im Alltag ein?
An welchen Stellen entstehen Freude und Begeisterung bei
MitarbeiterInnen und unseren KundInnen?
Mehr Gedanken und Ideen dazu in unserem nächsten Newsletter.
Lothar Wenzl ist geschäftsführender Gesellschafter von
trainconsulting. Nach langjähriger Führungserfahrung in
internationalen Konzernen ist er als systemischer
Organisationsberater vor allem in den Bereichen
Strategieentwicklung, Führung und Organisationsdesign tätig.
6