Leseprobe Rettung für die Liebe - Band 4 der Sieben Sommersünden

Über das Buch:
Amalies Großvater ist ein hartherziger Geizkragen, der seine Enkelin völlig unverhofft auf
eine Kreuzfahrt im Mittelmeer einlädt. Die junge Studentin willigt ein, weil sie sich ein
besseres Verhältnis zu ihrem Opa wünscht. Außerdem kann sie ein bisschen Abwechslung
zu ihrem tristen Studentenalltag gut gebrauchen. Doch Eberhard Wilke verfolgt nur seine
eigenen Pläne und verdirbt Amalie mit seiner ewigen Meckerei schon bald die Laune. Als
Amalie auf Vincent trifft, rückt ihr familiäres Problem in den Hintergrund. Die
smaragdgrünen Augen und sein ganz eigener Charme ziehen Amalie in ihren Bann. Dank
ihres angeborenen Tollpatsch-Gens und Scheich Abdullah lässt das Happy End allerdings
ganz schön lange auf sich warten.
Die ›Sieben Sommersünden‹ im Überblick:
1. Band Neid: ›SOS! Versenkt den Milliardär‹ von Mira Morton
2. Band Hochmut: ›Seesterne küssen nicht‹ von Martina Gercke
3. Band Zorn: ›Wirf die Braut über Bord!‹ von Rose Snow
4. Band Geiz: ›Rettung für die Liebe‹ von Mila Summers
5. Band Faulheit: ›Ein Rettungsboot für mein Herz‹ von Annie Stone
6. Band Völlerei: ›Ein Schokoholic will Meer‹ von Karin Lindberg
7. Band Wollust: ›Die Versuchung und das Meer‹ von Wendt & Hünnebeck
Über die Autorin:
Mila Summers, geboren 1984, lebt mit ihrem Mann und der kleinen Tochter in
Würzburg. Sie studierte Europäische Ethnologie, Geschichte und Öffentliches Recht.
Nach einer plötzlichen Eingebung in der Schwangerschaft schreibt sie nun humorvolle
Liebesromane mit Happy End und erfreut sich am regen Austausch mit ihren Lesern und
Leserinnen.
Bisher von der Autorin erschienen:
»Tales of Chicago«–Reihe
Küss mich wach (Band 1)
Vom Glück geküsst (Band 2)
Ein Frosch zum Küssen (Band 3)
Küsse in luftiger Höhe (Band 4)
MILA
SUMMERS
Rettung für die Liebe
Roman
Band 4
Sieben Sommersünden
Kapitel 1
»Wo bleibst du denn?«
»Ich komme schon, Opa. Geh du ruhig vor. Ich muss noch schnell für kleine
Mädchen.«
Als mein Großvater am Gate Platz nimmt und mich endlich nicht mehr mit diesem
prüfenden Blick mustert, werfe ich hastig die abgezählten Münzen in den Schlitz des
Getränkeautomaten vor mir. Gleich ist es geschafft.
Meine nassgeschwitzten Hände versuche ich unbeholfen an meiner Jeans zu trocknen.
Seit 5:30 Uhr bin ich auf den Beinen und habe weder gefrühstückt, noch meine tägliche
Dosis Koffein zu mir genommen.
Mein Magen rebelliert ob der schlechten Behandlung, aber ich wollte nicht gleich zu
Beginn des Urlaubs einen Streit provozieren. Denn dieser wäre ganz sicher auf dem Fuße
gefolgt, wenn ich es gewagt hätte, mir auf der Hinfahrt zum Flughafen etwas Essbares zu
besorgen.
Opa Eberhard hält nichts davon, wenn man sich an einer Raststätte einen Kaffee zu
überhöhten Preisen kauft und womöglich sogar noch eine Brezel beilegt. Er kann es nicht
leiden, wenn man in seinen Augen unnötig Geld verschwendet und Dinge des täglichen
Bedarfs überteuert bezieht.
Das ist auch der Grund, weshalb keiner in unserer Familie etwas mit ihm zu tun haben
will. Wobei das noch beschönigend ausgedrückt ist. Der Rest der Familie meidet ihn wie
der Teufel das Weihwasser. Ja, diese Formulierung trifft den Nagel wirklich auf den Kopf.
Gehetzt blicke ich mich abermals zu Opa um. Sein Rücken ist mir zugewandt. Er kann
mich nicht sehen. So habe ich hoffentlich eine reelle Chance, nicht von ihm entdeckt zu
werden.
Teilweise kann ich ihn sogar verstehen. Warum soll er den kostspieligen chirurgischen
Eingriff von Tante Gertrud bezahlen? Die OP ist nicht notwendig. Schließlich leben viele
Frauen ihr ganzes Leben mit Körbchengröße A, ohne dass sie je auf den Gedanken
kommen, daran etwas zu ändern.
Dennoch hätte Opa Gnade vor Recht ergehen lassen können, als Rüdiger, der Vater
ihrer Kinder, sich aus heiterem Himmel entschied, seine Frau durch eine junge,
studentische Praktikantin in seinem Unternehmen zu ersetzen.
Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie sie sich gefühlt haben muss, als sie mit seinen
Absichten konfrontiert wurde.
Bei Papas Insolvenz hätten seine Millionen sicher die ein oder andere unschöne Szene
verhindert. Mit Schaudern erinnere ich mich an die morgendliche Razzia, bei der ohne
Vorwarnung auch mein Zimmer gestürmt und mein Laptop beschlagnahmt wurde.
Das alles hätte ich auch ohne großes Murren ertragen, wenn der Beamte nicht, ohne
anzuklopfen, in mein Zimmer gekommen wäre, obwohl ich noch nicht fertig angezogen
war.
Allein der Gedanke an die lüsternen Blicke des Mannes lassen mich würgen. Aber im
Grunde ist Opa auch dabei kein Vorwurf zu machen. Schließlich ist er nicht für die Pleite
seines Sohnes verantwortlich.
In Anbetracht der Schwächen seiner Kinder hat Eberhard Wilke die Leitung seiner
Firma noch immer inne. Daran wird sich so schnell sicher auch nichts ändern. Wie ich
Opa einschätze, würde er eher alles verkaufen, als seinen unfähigen Sprösslingen die
Führung seines Lebenswerkes anzuvertrauen. Und auch hier kann ich ihn irgendwie
verstehen.
Spätestens seit dem Tag, an dem Opa meiner älteren Schwester Sigrun eine finanzielle
Unterstützung verweigert hat, obwohl sie mit ihrem kleinen Sohn Tom wegen einer
schweren chronischen Erkrankung dringend Spezialisten in den USA aufsuchen musste,
hat er sich den allerletzten Funken Sympathie in der Familie verspielt.
Keiner spricht mehr mit ihm. Keiner kümmert sich um ihn. Keiner interessiert sich
dafür, was aus dem alten, verwitweten Mann wird. Auf dem Sterbebett musste ich Oma
versprechen, ein Auge auf ihn zu haben. Ich tat es und bereue es jetzt.
Während ich genüsslich den ersten Schluck der eisgekühlten Coke trinke – einen
Kaffeeautomaten konnte ich auf die Schnelle leider nicht ausfindig machen – und spüre,
wie das Koffein meine Blutbahnen flutet, höre ich hinter mir Opa laut und deutlich sagen:
»Was machst du denn da, Amalie?«
Ich zucke erschrocken zusammen, spucke, dem ersten Impuls folgend, den Inhalt
meines Mundes aus, wie in der Hoffnung, damit noch irgendetwas retten zu können.
Eigentlich müsste ich es besser wissen.
»Ähm … also … Opa, ich hatte Durst und …« Vorsichtig drehe ich mich zu ihm um.
Doch das müsste ich gar nicht. Ich bräuchte mich ihm nicht zuzuwenden, weil ich ganz
genau weiß, wie sein Blick mich fixiert und seine Backenzähne ungeduldig zu mahlen
beginnen.
Sein ausgemergeltes Gesicht fällt noch eine Spur weiter zusammen, während sich seine
Haut wie Pergamentpapier fest über seine Wangenknochen spannt und sein linkes,
wässriges Auge nervös zu zucken beginnt.
Und dennoch drehe ich mich um. Denn wenn ich es nicht tue, beschwöre ich den
nächsten Streit über die ungehobelte Jugend von heute herauf. Ein weiterer Punkt, der
Opa Eberhard die Schweißperlen auf die Stirn treiben würde.
Vorsichtig blicke ich ihm in die Augen. Auch wenn ich meinen Opa gut zu kennen
glaube, überrascht mich der aufziehende Sturm darin. Noch immer starre ich in sein
Gesicht, bemerke die glatte Haut an der Stelle, an der andere Menschen ihre Lachfältchen
haben.
Ich ertappe mich bei dem Gedanken, was Tante Gertrud wohl dafür gäbe, wenn sie die
faltenfreie Haut ihres Vaters geerbt hätte, und fahre schließlich erschrocken zusammen, als
Eberhard Wilke sich vor mir aufbäumt.
»Amalie, habe ich dir denn nichts beigebracht? Wie kannst du nur dieses überteuerte
Modegesöff trinken?« Ich bin mir ziemlich sicher, dass die nächsten vierzehn Tage nicht
zu den schönsten meines Lebens gehören, wenn ich ihm jetzt antworte, dass Coca Cola
wohl kaum als ein solches bezeichnet werden kann, da es um einiges älter als er selbst ist.
Opa hat ja auch gut reden. Er ist bestimmt schon um vier Uhr in der Früh aufgestanden,
hat sein Frühstück gerichtet – ein Ei, eine Scheibe Toast und eine Gewürzgurke, wie jeden
Morgen – und die Tageszeitung dabei gelesen.
Um die Stimmung nicht gänzlich kippen zu lassen, ringe ich mir ein entschuldigendes
Lächeln ab und ernte sogleich den nächsten verbalen Hieb: »Die Jugend von heute kennt
den Hunger und den Durst nicht mehr, den meine Generation über Tage hinweg erleiden
musste. Mit deinen zweiundzwanzig Jahren hast du noch immer nicht gelernt, auf eigenen
Füßen zu stehen. Bei einem Pädagogikstudium kann ich es mir auch schwerlich
vorstellen, dass du je dazu in der Lage sein wirst. Mir ist es egal, was du vor diesen zwei
Wochen getan hast, und ich interessiere mich auch nicht mehr dafür, was du danach
machst. Aber solange du mit mir auf dem Schiff sein wirst, erwarte ich von dir, dass du
dich an meine Regeln hältst. Hast du das verstanden?«
Die Blitze in seinen Augen lassen mich einen Moment länger innehalten, als es in der
Situation angebracht ist. Innerlich bekämpfe ich den aufkeimenden Trotz und das
Bedürfnis, mich gegen seine Äußerungen zu wehren.
Eine leise Stimme ganz tief in mir behält allerdings die Oberhand und rät mir dringend
davon ab, mich wegen einer solchen Belanglosigkeit mit Opa zu streiten. Mit dem Opa,
der einsam und allein in seiner Bogenhausener Villa ein trostloses Leben fristet. Mit dem
Opa, den weder Freunde noch Verwandte besuchen kommen. Und mit dem Opa, der mich
zu dieser Reise eingeladen hat.
Als er mich vor ungefähr einem Monat fragte, ob ich denn Lust hätte, mit ihm eine
Kreuzfahrt im Mittelmeer zu machen, war mir als erste Reaktion darauf die Kinnlade
heruntergeklappt. Sekundenlang war ich nicht in der Lage gewesen, auf sein Angebot zu
reagieren, weil in meinem Kopf ein heilloses Durcheinander aus umherfliegenden
Fragezeichen herrschte.
Völlig aus dem Nichts und ohne jedwede Vorwarnung lud mich der Mann, der sonst
jeden Cent zweimal umdreht, zu einer Kreuzfahrt ein, die so viel mehr kosten würde als
alle Urlaube, die ich bisher gemacht hatte.
Nicht nur die Insolvenz meines Vaters war daran schuld, dass wir in den letzten Jahren
nicht weiter als in die Alpen zum Wandern oder an die Ostsee zum Baden gefahren waren.
Finanziell hatten sich meine Eltern mit einem Neubau und ohne das nötige Startkapital
ganz schön übernommen.
Um zurück zu dem Telefonat zu kommen, das mich, gelinde gesagt, vom Glauben
abfallen ließ: Jedes einzelne von Opas Worten war für mich so abwegig, wie wenn man
mir gesagt hätte, dass es im Juli schneit. Verrückt! Nicht möglich! Vollkommen hirnrissig
und absolut nicht von dieser Welt!
Ich war so perplex gewesen, dass ich ihn bis heute nicht gefragt habe, wie er denn auf
diese Idee gekommen ist. Im Grunde sprechen wir selten bis nie miteinander. Als Oma so
krank wurde, habe ich die beiden sehr oft besucht und mich um sie gekümmert.
Opa saß dann meist nur in seinem Ohrensessel, starrte in den Garten und verlor nie
mehr Worte an mich als unbedingt nötig. Über ein »Hallo« oder »Sieht ziemlich teuer aus,
was du da anhast« kamen wir meist nicht hinaus.
Diese plötzliche Vertrautheit, mit der er mich regelrecht überschüttet, behagt mir nicht.
Und dennoch mache ich gute Miene zum bösen Spiel.
Eigentlich bin ich mir auch ziemlich sicher, dass Opa nicht der griesgrämige alte Sack
ist, den er seit Jahren mimt. Irgendetwas hat ihn zu dem gemacht, der er heute ist. Ich
würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass es mich nicht interessiert.
Nein, vielmehr brenne ich darauf, der Sache auf den Grund zu gehen, auch wenn er
scheinbar nicht gewillt ist, über sein bisheriges Leben und seine Erfahrungen zu plaudern.
Die Tage auf hoher See werden das Großvater-Enkelin-Verhältnis sicher um einiges
verbessern. In Gedanken schweife ich zu meiner Lieblingskinderserie Heidi ab. Wenn sie
es geschafft hat, ihren Opa aus dem Eremitendasein zu locken, dann dürfte es mir doch
nicht so schwer fallen, in der heiteren Urlaubsatmosphäre einen Weg zu ihm zu finden.
»Nachdem heute wohl nicht mehr mit einer Antwort von dir zu rechnen ist, möchte ich
eines klarstellen: Dieser Urlaub ist nicht zu deinem Vergnügen gebucht worden,
sondern … Ach, was rechtfertige ich mich eigentlich vor einem Kind. Schmeiß das Zeug
da in deiner Hand in den Müll. Wir verpassen noch den Flieger, wenn du hier so weiter
rumtrödelst. Na, was ist? Worauf wartest du?«
Ja, genau. Was ist eigentlich mit mir los, dass ich ernsthaft glauben konnte, dass mich
diese vierzehn Tage meinem Opa näher bringen würden? Das Ganze wird in
Nullkommanichts zum Höllentrip mutieren und ich dumme Nuss habe es nicht mal
kommen sehen.
Kapitel 2
»Willkommen an Bord der Sonnenglück. Möchten Sie ein Erfrischungsgetränk?«
»Junger Mann, von an Bord kann ja wohl noch keine Rede sein. Egal, wie Sie die
maroden, dreckigen Fischhallen hier nennen wollen, ich hoffe nur, dass es auf dem Schiff
um Längen besser aussieht. Schließlich habe ich eine horrende Summe für diesen Kutter
bezahlt.«
Mir stockt der Atem für einen kurzen Moment. Opa hat seit dem Vorfall am
Flughafenterminal schlechte Laune. Er hat kaum ein Wort mit mir gewechselt. Nun
scheint er seinen Unmut auch noch an der Schiffsbesatzung auslassen zu müssen.
Ich blicke zwischen Opa und dem Crewmitglied, das etwas älter als ich sein dürfte, hin
und her, überlege fieberhaft, ob ich eingreifen soll, als unser Gegenüber weiterhin
freundlich erwidert: »Ich verspreche Ihnen, dass Sie und Ihre Frau eine wundervolle Zeit
bei uns haben werden.« Er zwinkert mir verstohlen zu, ehe er weiterspricht: »Nehmen Sie
sich ein Gläschen Champagner und gehen Sie dann gleich weiter zum exklusiven Checkin auf der rechten Seite, damit Ihr Urlaubsvergnügen baldmöglichst beginnen kann.« Ganz
ruhig und gelassen weist uns Vincent Fischbeck den Weg. Auf seinem Namensschild steht,
dass er auf dem Schiff als Barkeeper tätig ist.
Ich verharre noch einen weiteren Augenblick und starre Vincent ungeniert an. Opa setzt
sich ächzend und fluchend in Bewegung. Vincents smaragdgrüne Augen funkeln mich
interessiert an, während zarte Lachfältchen das Schauspiel umrahmen.
»Kann ich Ihnen behilflich sein? Brauchen Sie und Ihr Mann noch etwas? Vielleicht
feiert er seinen Geburtstag bei uns an Bord und Sie möchten ihn überraschen? Da würde
ich Sie gerne an meine Kollegin Lena Kruger, unsere Chefhostess, verweisen. Sie hat ein
ausgesprochen glückliches Händchen, was derlei Arrangements betrifft.«
»Was? … Wie? … Ach so. Sie meinen Opa Eberhard und ich … Nein, er ist mein
Großvater. Also, ja, das sagte ich ja bereits. Ähm, ich muss jetzt wohl gehen.« Ich spüre,
wie mir die Schamesröte ins Gesicht schießt. Die dreißig Grad Außentemperatur in
Neapel tun ihr Übriges und ich spüre förmlich, wie mir die Schweißmassen sintflutartig
aus allen Poren schießen.
Wie kann er nur denken, dass ich eine Liaison mit einem Mann eingehe, der fünfzig
Jahre älter ist als ich? Wie um Halt zu erlangen, richtet sich mein Blick nun verschämt auf
meine ausgetretenen Sneakers.
Noch immer halte ich meinen Rucksack in Händen, weil ich die Papiere für den Checkin heraussuchen wollte. Dummerweise stehe ich auf einem der Riemen, an denen man die
Gurte enger stellen kann, bemerke es nicht, als ich den Rucksack wieder schultern
möchte, und stolpere dabei über meine eigenen Füße und stürze. Wie peinlich!
Für eine unglaublich lange Schrecksekunde presse ich meine Lider ganz fest
zusammen. Wenn ich nicht sehe, wie ich da am Boden liege, dann ist es bestimmt auch
nicht passiert.
Der flauschige rote Teppich unter mir ist lediglich ein Konstrukt meiner Fantasie und
der beißende Reinigungsmittelgeruch, der mir in die Nase schießt und meinen Augen
einzelne Tränen entlockt, ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine Wunschvorstellung.
Genau.
Ich liege nämlich gar nicht flach wie eine Flunder auf dem Boden vor diesem
unglaublich heißen Typen, der sich sicher bereits einen Ast ablacht und sich fragt, wie
doof man eigentlich sein muss, um über seine eigenen Füße zu fallen.
Nein, das Malheur ist mir ganz sicher an der Uni auf dem Korridor passiert, weil die
Putzkolonne eben den PVC-Boden nass gewischt hat. Außer mir ist keiner mehr da. Ich
sitze oft bis weit nach Mitternacht in der Bibliothek, weil ich sehr gerne von all meinen
Freunden umgeben bin. Genau: den Büchern.
Das ist sicher auch einer der Gründe, warum ich mit Opa auf diese Reise gegangen bin.
Auch wenn ich mich sehr wohl in der staubigen Bibliothek fühle, könnte mir ein wenig
Abwechslung nicht schaden.
Seit Opa mich eingeladen hat und ich den ersten Schock überwunden habe, freue ich
mich darauf, auf dem Schiff meinem tristen Alltag zu entkommen. Vielleicht ist sogar ein
kleines Abenteuer drin? Wer weiß.
»Meinst du, du kannst aufstehen?«, höre ich eine Stimme behutsam fragen.
Zaghaft öffne ich meine Lider. Meine imaginäre Wunschvorstellung à la Manuel Neuer
aus der Fernsehwerbung hat leider nicht funktioniert. Verlegen wische ich mir ein paar
rote Teppichfussel vom Mund, ehe ich auf Augenhöhe eine ausgestreckte Hand erblicke.
Vincent ist vor mir in die Hocke gegangen und sieht besorgt drein. »Soll ich einen Arzt
rufen? Dr. Sievers wäre gleich zur Stelle, wenn du ihn brauchst.«
Ich starre wie gebannt auf die schwungvollen Lippen und das markante Kinn. Gott,
Amalie, reiß dich mal am Riemen!, ermahnt mich meine innere Stimme. Du führst dich
auf wie ein pubertierender Teenie. Glotz ihn nicht so verzweifelt und ausgehungert an!
Was soll er denn nur von dir denken?
Was wird er schon von mir denken? Wieder eine dieser Tussis, der ich die nächsten
Tage auf dem Schiff einen Cocktail nach dem anderen mixen werde, bis sie nach vierzehn
Tagen das Schiff verlässt und auf Nimmerwiedersehen verschwindet.
Jetzt schalte mal den Jammermodus wieder off!, höre ich die Stimme in meinem
Inneren keifen. Du hast leicht reden, erwidere ich gedanklich. Ja, das habe ich. Übrigens,
dir läuft ein dünner Sabberfilm aus dem rechten Mundwinkel. Over and out.
Meine Reaktion folgt auf dem Fuße. Ich spüre, wie mir erneut die Hitze ins Gesicht
fährt und meine Wangen in dieses tiefe Rot taucht, das mit keinem Rouge der Welt
vergleichbar wäre. Die Signalfarbe Leuchtendrot war, soweit ich weiß, noch von keiner
Kosmetikfirma in ihr Sortiment aufgenommen worden.
Nicht, dass ich davon besonders viel Ahnung habe. Ich schminke mich kaum. Belasse
es meist bei etwas Puder und Wimperntusche. Meinen Freund stört das nicht. Richtig: Ich
habe gar keinen.
Für wen sollte ich mich aufbrezeln? Die Bücher in der Unibib verzeihen mir mein
saloppes Aussehen sicher. Auf Männersuche bin ich nicht, nachdem mich Philipp
dermaßen verletzt hat. Ich brauche überhaupt keinen Freund. Es ist viel leichter und
unkomplizierter ohne.
»Es ist alles in bester Ordnung. Ich brauche keinen Arzt.«
»Schön. Magst du dann wieder aufstehen oder noch eine Runde mit dem Teppich
kuscheln?«
»Hahaha. Du, Witzbold!« War ja klar. Auch nur wieder so ein Komiker, der sich seinen
Spaß auf Kosten anderer macht. Ohne Rücksicht auf Verluste.
Aber mir ist das vollkommen egal. Galant beende ich die Kurzzeitbeziehung zu dem
roten Läufer unter mir und entwinde mich seinen Klauen. Apropos Klaue: Vincents
helfende Hand schlage ich übermütig aus.
Als mir der Triumph bereits zu Kopf steigt, merke ich, wie ich das Straucheln beginne
und vornüber ins Wanken komme. Was ist denn nun wieder los? Zu spät verstehe ich, dass
meine Füße noch immer in den Schlaufen meiner Tasche festhängen.
Während ich mein Gleichgewicht verliere und mich darauf gefasst mache, ein weiteres
Mal den Boden zu küssen – so sehr habe ich mich nun auch wieder nicht auf Neapel
gefreut –, wird mein Gesicht abrupt von einer stählernen Brust gebremst.
»Du kennst den Spruch, oder? Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort.«
Ein angenehmer Duft aus herbem Männerschweiß und frischer Meeresbrise umspielt
meine Sinne. Mein Gesicht prickelt an den Stellen, die mit Vincents Brust gleichsam
verschmolzen scheinen.
Ich versuche mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, schaffe es aber nicht, mich
diesem magischen Moment zu entziehen. Seine Nähe fühlt sich einfach zu gut an. So
vertraut.
Am liebsten würde ich mich an seinem Shirt reiben und ... Wie ein Rehkitz, das sich
den nahenden Lichtern eines Vierzigtonners gegenüberstehen sieht und nicht ausweichen
kann, verharre ich einen weiteren furchtbar langen Augenblick an seiner Brust.
Was um alles in der Welt ist nur in mich gefahren, dass ich mich diesem Kerl wie eine
räudige Hündin an den Hals werfe? Wo ist mein Selbstwertgefühl geblieben? Das macht
mit deiner guten Figur auf Mallorca Urlaub, höre ich meine innere Stimme erneut
aufbrausen.
»Amalie, bist du denn jetzt von allen guten Geistern verlassen? Was machst du denn
da?« Opa Eberhard ist der allerletzte Mensch, den ich jetzt sehen will. Mit den
umstehenden Gästen, die sich an der kleinen Theke hinter mir einen Champagner gönnen,
komme ich klar. Es ist schließlich nicht das erste Mal, dass ich mich zum Gespött der
Leute mache. Das Tollpatsch-Gen ist mir angeboren und verhilft mir des Öfteren dazu, die
gesamte Aufmerksamkeit gänzlich unfreiwillig auf mich zu ziehen.
Wie damals, als ich in der zweiten Klasse mit meinem Stuhl kippelte und nach hinten
fiel. Was nicht weiter spektakulär gewesen wäre, da es schon das ein oder andere Mal der
Fall gewesen war.
Nur doof, dass hinter mir in einem kleinen Pappkarton Elfchen, mein kleiner Hamster,
auf den Gong wartete, der endlich das Schulende einläuten sollte. Nun, lange Rede, kurzer
Sinn: Elfchen hörte sicher die ein oder andere Glocke im Himmel läuten, nur eben nicht
mehr hier auf Erden.
Eine weitere äußerst pikante Situation drohte sich vor mein geistiges Auge zu schieben
und begann schon meinen Geist mit unangenehmen Erinnerungen zu durchfluten, als ich
die Brust, also besser gesagt Vincents Stimme, Opa Eberhard beschwichtigen höre: »Ihre
Enkelin ist ausgerutscht und ich habe sie lediglich vor Schlimmerem bewahrt.« Zu mir
raunt er etwas heiser: »Es wäre schön, wenn du langsam wieder in die Senkrechte
kommen könntest.«
Ich tue, wie mir befohlen, löse mich von ihm und blicke in das abermals funkelnde
Antlitz meines Großvaters.
Der sieht nicht nur nicht begeistert, sondern regelrecht fuchsteufelswild aus. Wie er
mich da mit den nervös hin und her zuckenden Augen ansieht, macht mir Angst. Was habe
ich denn schon Schlimmes verbrochen?
Schließlich habe ich mit Vincent keine unzüchtigen Dinge in der Öffentlichkeit
getrieben. Auch wenn mir eben einige Szenarien durch den Kopf geschossen sind, die ich
gerne mal versucht hätte.
Ich erröte, als ich mir meiner Gedanken bewusst werde, entferne mich gleichzeitig
noch einen Schritt weiter von Vincent, um möglichst viel Abstand zwischen uns zu
bringen. Was um alles in der Welt ist bloß in mich gefahren?
Opa Eberhard hat schon recht. Ich erkenne mich gerade selbst nicht wieder. Ein
hübsches Augenpaar, ein süßes Lächeln und diese verwuschelte Justin-Bieber-Frisur
bringen mich ohne Vorwarnung dazu, über meinen Vorsatz, den Männern abzuschwören,
noch mal nachzudenken.
Neben dem Umgang mit einem cholerischen und besitzergreifenden Großvater muss
ich in den nächsten vierzehn Tagen auf dem Schiff unbedingt darauf achten, Vincent, dem
Barkeeper, aus dem Weg zu gehen. Mit Erholung hat das Ganze hier wirklich nichts mehr
zu tun. Hoffentlich bleibt es mir wenigstens erspart, mit Opa Eberhard ein Bett zu teilen.