SE IT E 20 · M O N TAG , 1 8 . J U L I 2 0 1 6 · N R . 1 6 5 Wirtschaft F R A N K F U RT E R A L LG E M E I N E Z E I T U N G Am Boden verstört Erosion, Verdichtung und Bebauung: Die Böden, Grundlage der Ernährung, sind in Gefahr. Andererseits sind die landwirtschaftlichen Erträge so hoch wie noch nie. Von Johanna Schiele und Jan Grossarth FRANKFURT, 17. Juli. ie Grünen warnen davor, dass die Landwirtschaft ihre wichtigste Grundlage zerstört: die Ackerböden. „Zubetoniert, kontaminiert, fortgespült oder ausgetrocknet“ seien sie, schrieb die Bundestagsfraktion im vergangenen Jahr, das die Vereinten Nationen zum „Internationalen Jahr des Bodens“ erklärten. Gemeint waren auch die Böden in Deutschland: „Es wäre angemessen, wenn die Bundesregierung endlich handelt und die ungebremste Zerstörung von Böden stoppt.“ Tatsächlich steht der Boden nicht weit oben auf der umweltpolitischen Agenda. Eine europäische Bodenrahmenrichtlinie kam nicht zustande – auch weil Deutschland das nicht wollte –, und nicht einmal für eine unverbindliche Bodenschutzstrategie reichten die europäischen Bemühungen. Wie kann das sein, wenn die Böden, Grundlage der Landwirtschaft und damit allen Lebens, doch „zubetoniert, kontaminiert, fortgespült, ausgetrocknet“ sind? Zunächst muss man wissen, dass gewisser Alarmismus und im Rückblick übertrieben wirkende Sorgen eine lange Geschichte haben. Der Boden als Politikum – das ist keine Erfindung der Grünen. Schon im Jahr 1826 lädt die „Ökonomische Gesellschaft im Königreiche Sachsen“ zu Vorträgen über Düngerverbrauch und Bodenerschöpfung ein. Justus von Liebig, der mit seiner Forschung über die Pflanzenernährung die Landwirtschaft revolutioniert, schreibt 1864 von der „Bodenerschöpfung und ihrer geschichtlichen Begründung“. Es ist die Zeit der industriellen Revolution, die Bevölkerung wächst schnell. Um die wachsenden Städ- D te zu ernähren, muss auch die Landwirtschaft umgestellt werden. Industriell hergestellter Dünger macht es möglich, aber weil die Bauern den nicht immer vernünftig handhaben, gibt es auch Missernten. Sie lernen durch bessere Schulung, damit umzugehen. Neue Sorgen um die Böden kommen Jahrzehnte später hinzu: 1962 prangert Rachel Carson in „Der stumme Frühling“ die Verseuchung der Böden mit Pestiziden an, ihr Buch wird zur Bibel der weltweiten Ökobewegung. Doch immer noch wächst etwas auf den Äckern – und zwar mehr denn je. Trotz und entgegen all den Warnungen vor toten und brachliegenden Flächen haben sich laut Statistischem Bundesamt die Hektarerträge von Weizen, Roggen und Gerste in den vergangenen 50 Jahren verdoppelt. Immer mehr Leben auf sterbenden Böden – ein Paradox? Den umweltpolitischen Sprecher der Grünen Peter Meiwald beeindrucken die Ernterekorde nicht. „Landwirte fahren mit Maschinen über ihre Felder, die so schwer sind, dass sie selbst auf Straßen nicht zugelassen sind“, sagt er. „Natürlich, riesige Erntemaschinen steigern den Ertrag. Sie verdichten aber auch den Boden, bis nichts mehr darin lebt.“ Der Boden habe nicht nur eine einzige Funktion, Nahrung hervorzubringen. Er dient auch als Baugrund, filtert das Trinkwasser, speichert Unmengen an CO2, er ist ein eigenes Ökosystem. Meiwalds Sorgen stehen auch gar nicht im Widerspruch zu den Erntestatistiken der vergangenen Jahre: Die Zuwächse der Getreideernten werden immer geringer. Der Raiffeisenverband hat erst vor wenigen Tagen mitgeteilt, dass die Getreideernte wieder durchschnittlich werde. Die vielseitigen Funktionen des Bodens hängen zusammen und machen Bodenqualität zu einem komplexen Begriff. „Funktionen, die Böden neben der Nährstoffversorgung von Nutzpflanzen noch erfüllen, werden oft übersehen”, sagt © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv auch Hermann Jungkunst, Professor an der Universität Landau, der sich auf Geoökologie spezialisiert hat. Die Aufgaben, die der Boden übernimmt, müssten den Menschen eigentlich mehr wert sein. Besonders die Speicherung von CO2 und die Filterung des Grundwassers haben realen wirtschaftlichen Nutzen. Dieser fließt allerdings nicht in Kosten-Nutzen-Überlegungen der Landwirte ein. Nur die Ernte bringt ihnen Geld. Aus wirtschaftlicher Sicht ist es eindeutig, weshalb die Bodenqualität in der Landwirtschaft auf Bodenfruchtbarkeit reduziert wird. Fruchtbarkeit ist die Fähigkeit eines Bodens, den Pflanzen als Standort zu dienen und nachhaltig regelmäßig Pflanzenerträge von hoher Qualität zu erzeugen. Die langfristig steigenden Erträge sprechen nicht gerade für eine dramatische und großflächige Verschlechterung der Bodenfruchtbarkeit. „Was einen Boden fruchtbar macht, sind Pflanzennährstoffe wie Stickstoff, Phosphor und Kalium“, erklärt Marion Senger von der Landwirtschaftskammer Niedersachsen. Bei landwirtschaftlicher Nutzung werden dem Boden mit der Ernte kontinuierlich Nährstoffe entzogen, die dann durch Düngung ersetzt werden müssen. Das sei in Deutschland weder finanziell noch technisch ein Problem. Gerade auf konventionell bewirtschafteten Flächen könne ausreichend gedüngt werden. Aus dieser Perspektive geht es Deutschlands Böden also gut. Doch es gibt eine Einschränkung: „Erschöpfte Böden entstehen dort, wo Pachtzeiträume zu kurz sind“, erklärt Senger. Je kürzer die Pachtverträge, desto größer die Versuchung für den Landwirt, das Letzte aus dem Boden herauszuholen, ohne selbst Nährstoffe auszubringen. Kritiker werfen solches Verhalten Investoren wie der nun insolventen KTG Agrar SE vor, die innerhalb weniger Jahre Güter von 45 000 Hektar in Ostdeutschland pachtete und nun womöglich wieder abstoßen muss. Dafür zahlte sie Investoren rund 7 Prozent Rendite im Jahr. In landwirtschaftlichen Familienbetrieben hingegen werden die Böden oft über viele Generationen selbst bewirtschaftet. Den Boden wie ein geliehenes Auto mit leerem Tank zurückgeben: Solche Metaphern verbildlichen eine extrem vereinfachte Auffassung vom Boden als reinem Trägermedium: Gießt man genügend Nährstoffe hinein und sorgt durch Umpflügen für Durchlüftung, wachsen die Kartoffeln, der Weizen, der Mais. Für Professor Jungkunst ist das ein falsches und irreführendes Bild. Der Boden sei eben kein chemisches System, sondern ein biologisches. Es sind die Mikroorganismen, Tiere und Pflanzen, nicht nur die stoffliche Zusammensetzung, die die Funktionen des Bodens aufrechterhalten. Ob als Wasser-, Nährstoff- oder CO2Speicher: das Wichtigste ist die Pufferfunktion. Das Ökosystem Boden fängt externe Umwelteinflüsse ab. Wenn es intakt ist, haben die Pflanzen gleichbleibende Bedingungen. Regnet es zum Beispiel eine Woche lang, muss nicht die Pflanze das Wasser für zukünftige Trockenheit speichern; das tut der Boden. So verschlechtert sich oft die Bodenqualität erst über viele Jahre, ehe es auffällt. Schleichend verliert der Boden dann seine Pufferfunktionen. Schäden könnten lange vollständig ausgeglichen werden, sagt Jungkunst, sobald aber ein gewisser Schwellenwert erreicht werde, könne das ganze System kippen. Im Gegensatz zur langsam fortschreitenden Verschlechterung ist die Bodenerosion sofort sichtbar. Wasser und Wind tragen immer mehr Erde fort, infolge des Klimawandels nimmt das Problem neue Dimensionen an. In den vergangenen dreißig Jahren haben Erosionsgefährdung und Humusschwund zugenommen, teilt das Umweltbundesamt mit. Ein Bild dafür, wie das aussehen kann, ist noch von den Unwettern in Bayern aus dem Frühsommer in Erinnerung: Die starken Niederschläge überforderten die Böden. Das Wasser stand auf den Feldern, wo es nicht aufgenommen werden konnte, oder schwemmte Erde in die Flüsse. Die Erosion wurde auch durch den hohen Anteil des Maisanbaus befördert. Denn der wächst später und zunächst langsamer als andere Pflanzen, so dass der Ackerboden Wind und Wasser in dieser Jahreszeit stärker ausgesetzt ist. Das Umweltbundesamt nennt auch „Grünland-Verluste, die in diese Richtung wirken“, als Gründe für die vermehrte Erosion. Der Strukturwandel mit Flurbereinigungen, die dazu führten, dass die Bauern immer mehr Hecken entfernten, machten es auch dem Wind leichter, Erde abzutragen. „Die derzeitig hohen Erträge werden sich nur halten lassen, wenn die Böden auch bei Extremwetterlagen fit sind“, sagt Marion Senger, die für die Landwirtschaftskammer ein Praxistraining für Landwirte anbietet. Während sich im Nordosten Trockengebiete bilden, mehren sich überall im Land einzelne Starkregenereignisse, die zu Wassererosion führen. 15 Prozent der Ackerflächen sind laut Umweltbundesamt erosionsgefährdet, hier trägt Wasser jedes Jahr mehr als drei Tonnen fruchtbaren Bodenbelag pro Hektar ab. Die Erosionsgefahr steigt noch zusätzlich durch Flächenversiegelung. Gerade in ländlichen Neubaugebieten werden oft unbedacht Entwässerungsgräben zugeschüttet und Flächen zubetoniert. Weniger Wasser sickert gefiltert in die Grundwasserspeicher, während der starke oberflächliche Abfluss Boden mitnimmt. Überhaupt geht Tag für Tag landwirtschaftlich nutzbarer Boden verloren: 73 Hektar am Tag oder mehr als die durchschnittliche Größe eines bäuerlichen Betriebs am Tag sind es derzeit, die durch Bauen und Verkehr „verlorengehen“. Der Bauernverband protestiert dagegen seit Jahren ohne großen Erfolg. Wie fast alle Bodenbelastungen ist auch Erosion im Grunde vermeidbar. Die Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft gibt Landwirten seit Jahren Informationen, wie mit den Böden umzugehen ist. „Wer bei Nässe mit seinem 40-Tonner über den Acker fährt, ist selbst schuld, wenn der Boden stirbt. Das ist einfach keine gute fachliche Praxis“, sagt Albrecht von Wilamowitz, der in Brandenburg 2000 Hektar Land bewirtschaftet. Die „gute fachliche Praxis“ ist ein geflügeltes Wort unter Landwirten und wird im Bodengesetz von den Bauern eingefordert – rechtliche Verbindlichkeiten ergeben sich aus ihr aber nicht. So entscheidet jeder Bauer selbst, wie viel Aufwand sich in Sachen Bodenschutz für ihn ökonomisch lohnt. In einem Punkt haben die Grünen deutlich unrecht. „Kontaminiert“ sind die Böden weitaus weniger als in früheren Jahrzehnten. Rückstände von Pestiziden im Grundwasser haben sich in den vergangenen 20 Jahren deutlich verringert. Der Stickstoffüberschuss – das ist der Stickstoff, der auf die Felder ausgebracht, aber nicht von den Pflanzen aufgenommen wird, mithin im Boden verbleibt und langsam ins Grundwasser versickert – ging von rund 150 Kilogramm pro Hektar vor 25 Jahren laut dem staatlichen JuliusKühn-Institut auf rund 80 Kilogramm zurück. Dioxin- und Schwermetallbelastung der Böden werden tendenziell geringer. Als kritisch angesehene Schwellenwerte für eutrophierend und versauernd wirkende Stoffe seien nur noch auf der Hälfte des Bundesgebiets überschritten, in den achtziger Jahren seien das bis zu 90 Prozent gewesen, gibt das Umweltbundesamt Entwarnung. Nur langsam sinkt aber die Zahl der Messstellen, an denen die Nitratbelastung viel zu hoch ist. Deswegen geht die EU mit einem Vertragsverletzungverfahren gegen Deutschland vor. Die Frage nach dem Zustand der Böden in Deutschland lässt sich aus vielen Gründen nicht einfach beantworten: Es gibt keinen einheitlichen Begriff der Bodenqualität, Umwelt- und menschgemachte Einflüsse variieren von Region zu Region. Auch gibt es kaum flächendeckende Daten oder Langzeitstudien, die Vergleiche erlauben würden. Der deutsche Landwirtschaftshistoriker Frank Uekötter von der britischen Universität Birmingham bringt das Dilemma auf den Punkt: „Er ist in den vergangenen beiden Jahrhunderten intensiv erforscht worden – und doch bleibt der fruchtbare Boden letztlich ein Mysterium.“ Dabei klingt sein Urteil angesichts der teils apokalyptischen Warnungen der vergangenen 150 Jahre unaufgeregt, doch es ist gleichwohl mit einem Fragezeichen versehen: „Dass am Ende der agrarindustriellen Revolution ein hochproduktiver Boden stehen würde und nicht etwa ein devastierter, war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nicht klar, und selbst heute bleibt ungewiss, ob dieser Produktivitätssprung auf lange Sicht zu stabilisieren sein wird.“
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