Am Boden zerstört - Deutsche Bodenkundliche Gesellschaft

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Wirtschaft
F R A N K F U RT E R A L LG E M E I N E Z E I T U N G
Am Boden verstört
Erosion, Verdichtung
und Bebauung: Die
Böden, Grundlage
der Ernährung, sind in
Gefahr. Andererseits
sind die landwirtschaftlichen Erträge so hoch
wie noch nie.
Von Johanna Schiele
und Jan Grossarth
FRANKFURT, 17. Juli.
ie Grünen warnen davor, dass die
Landwirtschaft ihre wichtigste
Grundlage zerstört: die Ackerböden. „Zubetoniert, kontaminiert, fortgespült oder ausgetrocknet“ seien sie,
schrieb die Bundestagsfraktion im vergangenen Jahr, das die Vereinten Nationen
zum „Internationalen Jahr des Bodens“
erklärten. Gemeint waren auch die Böden in Deutschland: „Es wäre angemessen, wenn die Bundesregierung endlich
handelt und die ungebremste Zerstörung
von Böden stoppt.“
Tatsächlich steht der Boden nicht weit
oben auf der umweltpolitischen Agenda.
Eine europäische Bodenrahmenrichtlinie
kam nicht zustande – auch weil Deutschland das nicht wollte –, und nicht einmal
für eine unverbindliche Bodenschutzstrategie reichten die europäischen Bemühungen. Wie kann das sein, wenn die Böden,
Grundlage der Landwirtschaft und damit
allen Lebens, doch „zubetoniert, kontaminiert, fortgespült, ausgetrocknet“ sind?
Zunächst muss man wissen, dass gewisser Alarmismus und im Rückblick übertrieben wirkende Sorgen eine lange Geschichte haben. Der Boden als Politikum
– das ist keine Erfindung der Grünen.
Schon im Jahr 1826 lädt die „Ökonomische Gesellschaft im Königreiche Sachsen“ zu Vorträgen über Düngerverbrauch
und Bodenerschöpfung ein. Justus von
Liebig, der mit seiner Forschung über die
Pflanzenernährung die Landwirtschaft revolutioniert, schreibt 1864 von der „Bodenerschöpfung und ihrer geschichtlichen Begründung“. Es ist die Zeit der industriellen Revolution, die Bevölkerung
wächst schnell. Um die wachsenden Städ-
D
te zu ernähren, muss auch die Landwirtschaft umgestellt werden. Industriell hergestellter Dünger macht es möglich, aber
weil die Bauern den nicht immer vernünftig handhaben, gibt es auch Missernten.
Sie lernen durch bessere Schulung, damit
umzugehen. Neue Sorgen um die Böden
kommen Jahrzehnte später hinzu: 1962
prangert Rachel Carson in „Der stumme
Frühling“ die Verseuchung der Böden mit
Pestiziden an, ihr Buch wird zur Bibel der
weltweiten Ökobewegung.
Doch immer noch wächst etwas auf
den Äckern – und zwar mehr denn je.
Trotz und entgegen all den Warnungen
vor toten und brachliegenden Flächen haben sich laut Statistischem Bundesamt
die Hektarerträge von Weizen, Roggen
und Gerste in den vergangenen 50 Jahren
verdoppelt. Immer mehr Leben auf sterbenden Böden – ein Paradox?
Den umweltpolitischen Sprecher der
Grünen Peter Meiwald beeindrucken die
Ernterekorde nicht. „Landwirte fahren
mit Maschinen über ihre Felder, die so
schwer sind, dass sie selbst auf Straßen
nicht zugelassen sind“, sagt er. „Natürlich, riesige Erntemaschinen steigern den
Ertrag. Sie verdichten aber auch den Boden, bis nichts mehr darin lebt.“ Der Boden habe nicht nur eine einzige Funktion,
Nahrung hervorzubringen. Er dient auch
als Baugrund, filtert das Trinkwasser,
speichert Unmengen an CO2, er ist ein eigenes Ökosystem. Meiwalds Sorgen stehen auch gar nicht im Widerspruch zu
den Erntestatistiken der vergangenen Jahre: Die Zuwächse der Getreideernten werden immer geringer. Der Raiffeisenverband hat erst vor wenigen Tagen mitgeteilt, dass die Getreideernte wieder durchschnittlich werde.
Die vielseitigen Funktionen des Bodens hängen zusammen und machen Bodenqualität zu einem komplexen Begriff.
„Funktionen, die Böden neben der Nährstoffversorgung von Nutzpflanzen noch
erfüllen, werden oft übersehen”, sagt
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv
auch Hermann Jungkunst, Professor an
der Universität Landau, der sich auf Geoökologie spezialisiert hat. Die Aufgaben,
die der Boden übernimmt, müssten den
Menschen eigentlich mehr wert sein. Besonders die Speicherung von CO2 und die
Filterung des Grundwassers haben realen
wirtschaftlichen Nutzen. Dieser fließt allerdings nicht in Kosten-Nutzen-Überlegungen der Landwirte ein. Nur die Ernte
bringt ihnen Geld.
Aus wirtschaftlicher Sicht ist es eindeutig, weshalb die Bodenqualität in der
Landwirtschaft auf Bodenfruchtbarkeit
reduziert wird. Fruchtbarkeit ist die Fähigkeit eines Bodens, den Pflanzen als
Standort zu dienen und nachhaltig regelmäßig Pflanzenerträge von hoher Qualität zu erzeugen. Die langfristig steigenden Erträge sprechen nicht gerade für
eine dramatische und großflächige Verschlechterung der Bodenfruchtbarkeit.
„Was einen Boden fruchtbar macht, sind
Pflanzennährstoffe wie Stickstoff, Phosphor und Kalium“, erklärt Marion Senger
von der Landwirtschaftskammer Niedersachsen. Bei landwirtschaftlicher Nutzung werden dem Boden mit der Ernte
kontinuierlich Nährstoffe entzogen, die
dann durch Düngung ersetzt werden müssen. Das sei in Deutschland weder finanziell noch technisch ein Problem. Gerade
auf konventionell bewirtschafteten Flächen könne ausreichend gedüngt werden.
Aus dieser Perspektive geht es Deutschlands Böden also gut.
Doch es gibt eine Einschränkung: „Erschöpfte Böden entstehen dort, wo Pachtzeiträume zu kurz sind“, erklärt Senger.
Je kürzer die Pachtverträge, desto größer
die Versuchung für den Landwirt, das
Letzte aus dem Boden herauszuholen,
ohne selbst Nährstoffe auszubringen. Kritiker werfen solches Verhalten Investoren
wie der nun insolventen KTG Agrar SE
vor, die innerhalb weniger Jahre Güter
von 45 000 Hektar in Ostdeutschland
pachtete und nun womöglich wieder abstoßen muss. Dafür zahlte sie Investoren
rund 7 Prozent Rendite im Jahr. In landwirtschaftlichen Familienbetrieben hingegen werden die Böden oft über viele Generationen selbst bewirtschaftet.
Den Boden wie ein geliehenes Auto
mit leerem Tank zurückgeben: Solche
Metaphern verbildlichen eine extrem vereinfachte Auffassung vom Boden als reinem Trägermedium: Gießt man genügend Nährstoffe hinein und sorgt durch
Umpflügen für Durchlüftung, wachsen
die Kartoffeln, der Weizen, der Mais.
Für Professor Jungkunst ist das ein falsches und irreführendes Bild. Der Boden
sei eben kein chemisches System, sondern ein biologisches. Es sind die Mikroorganismen, Tiere und Pflanzen, nicht
nur die stoffliche Zusammensetzung, die
die Funktionen des Bodens aufrechterhalten. Ob als Wasser-, Nährstoff- oder CO2Speicher: das Wichtigste ist die Pufferfunktion. Das Ökosystem Boden fängt externe Umwelteinflüsse ab. Wenn es intakt
ist, haben die Pflanzen gleichbleibende
Bedingungen. Regnet es zum Beispiel
eine Woche lang, muss nicht die Pflanze
das Wasser für zukünftige Trockenheit
speichern; das tut der Boden. So verschlechtert sich oft die Bodenqualität erst
über viele Jahre, ehe es auffällt. Schleichend verliert der Boden dann seine Pufferfunktionen. Schäden könnten lange
vollständig ausgeglichen werden, sagt
Jungkunst, sobald aber ein gewisser
Schwellenwert erreicht werde, könne das
ganze System kippen.
Im Gegensatz zur langsam fortschreitenden Verschlechterung ist die Bodenerosion sofort sichtbar. Wasser und Wind
tragen immer mehr Erde fort, infolge des
Klimawandels nimmt das Problem neue
Dimensionen an. In den vergangenen
dreißig Jahren haben Erosionsgefährdung und Humusschwund zugenommen,
teilt das Umweltbundesamt mit. Ein Bild
dafür, wie das aussehen kann, ist noch
von den Unwettern in Bayern aus dem
Frühsommer in Erinnerung: Die starken
Niederschläge überforderten die Böden.
Das Wasser stand auf den Feldern, wo es
nicht aufgenommen werden konnte, oder
schwemmte Erde in die Flüsse. Die Erosion wurde auch durch den hohen Anteil
des Maisanbaus befördert. Denn der
wächst später und zunächst langsamer als
andere Pflanzen, so dass der Ackerboden
Wind und Wasser in dieser Jahreszeit stärker ausgesetzt ist. Das Umweltbundesamt
nennt auch „Grünland-Verluste, die in diese Richtung wirken“, als Gründe für die
vermehrte Erosion. Der Strukturwandel
mit Flurbereinigungen, die dazu führten,
dass die Bauern immer mehr Hecken entfernten, machten es auch dem Wind leichter, Erde abzutragen.
„Die derzeitig hohen Erträge werden
sich nur halten lassen, wenn die Böden
auch bei Extremwetterlagen fit sind“, sagt
Marion Senger, die für die Landwirtschaftskammer ein Praxistraining für
Landwirte anbietet. Während sich im
Nordosten Trockengebiete bilden, mehren sich überall im Land einzelne Starkregenereignisse, die zu Wassererosion führen. 15 Prozent der Ackerflächen sind
laut Umweltbundesamt erosionsgefährdet, hier trägt Wasser jedes Jahr mehr als
drei Tonnen fruchtbaren Bodenbelag pro
Hektar ab. Die Erosionsgefahr steigt
noch zusätzlich durch Flächenversiegelung. Gerade in ländlichen Neubaugebieten werden oft unbedacht Entwässerungsgräben zugeschüttet und Flächen zubetoniert. Weniger Wasser sickert gefiltert in
die Grundwasserspeicher, während der
starke oberflächliche Abfluss Boden mitnimmt. Überhaupt geht Tag für Tag landwirtschaftlich nutzbarer Boden verloren:
73 Hektar am Tag oder mehr als die durchschnittliche Größe eines bäuerlichen Betriebs am Tag sind es derzeit, die durch
Bauen und Verkehr „verlorengehen“. Der
Bauernverband protestiert dagegen seit
Jahren ohne großen Erfolg.
Wie fast alle Bodenbelastungen ist
auch Erosion im Grunde vermeidbar. Die
Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft
gibt Landwirten seit Jahren Informationen, wie mit den Böden umzugehen ist.
„Wer bei Nässe mit seinem 40-Tonner
über den Acker fährt, ist selbst schuld,
wenn der Boden stirbt. Das ist einfach keine gute fachliche Praxis“, sagt Albrecht
von Wilamowitz, der in Brandenburg
2000 Hektar Land bewirtschaftet. Die
„gute fachliche Praxis“ ist ein geflügeltes
Wort unter Landwirten und wird im Bodengesetz von den Bauern eingefordert –
rechtliche Verbindlichkeiten ergeben sich
aus ihr aber nicht. So entscheidet jeder
Bauer selbst, wie viel Aufwand sich in Sachen Bodenschutz für ihn ökonomisch
lohnt.
In einem Punkt haben die Grünen deutlich unrecht. „Kontaminiert“ sind die Böden weitaus weniger als in früheren Jahrzehnten. Rückstände von Pestiziden im
Grundwasser haben sich in den vergangenen 20 Jahren deutlich verringert. Der
Stickstoffüberschuss – das ist der Stickstoff, der auf die Felder ausgebracht, aber
nicht von den Pflanzen aufgenommen
wird, mithin im Boden verbleibt und langsam ins Grundwasser versickert – ging
von rund 150 Kilogramm pro Hektar vor
25 Jahren laut dem staatlichen JuliusKühn-Institut auf rund 80 Kilogramm zurück. Dioxin- und Schwermetallbelastung
der Böden werden tendenziell geringer.
Als kritisch angesehene Schwellenwerte
für eutrophierend und versauernd wirkende Stoffe seien nur noch auf der Hälfte
des Bundesgebiets überschritten, in den
achtziger Jahren seien das bis zu 90 Prozent gewesen, gibt das Umweltbundesamt
Entwarnung. Nur langsam sinkt aber die
Zahl der Messstellen, an denen die Nitratbelastung viel zu hoch ist. Deswegen geht
die EU mit einem Vertragsverletzungverfahren gegen Deutschland vor.
Die Frage nach dem Zustand der Böden in Deutschland lässt sich aus vielen
Gründen nicht einfach beantworten: Es
gibt keinen einheitlichen Begriff der Bodenqualität, Umwelt- und menschgemachte Einflüsse variieren von Region zu Region. Auch gibt es kaum flächendeckende
Daten oder Langzeitstudien, die Vergleiche erlauben würden. Der deutsche Landwirtschaftshistoriker Frank Uekötter von
der britischen Universität Birmingham
bringt das Dilemma auf den Punkt: „Er ist
in den vergangenen beiden Jahrhunderten intensiv erforscht worden – und doch
bleibt der fruchtbare Boden letztlich ein
Mysterium.“ Dabei klingt sein Urteil angesichts der teils apokalyptischen Warnungen der vergangenen 150 Jahre unaufgeregt, doch es ist gleichwohl mit einem Fragezeichen versehen: „Dass am Ende der
agrarindustriellen Revolution ein hochproduktiver Boden stehen würde und
nicht etwa ein devastierter, war bis weit
ins 20. Jahrhundert hinein nicht klar, und
selbst heute bleibt ungewiss, ob dieser
Produktivitätssprung auf lange Sicht zu
stabilisieren sein wird.“