Rettet den Maerchenschatz - Anleitung de

Ein Märchen von Kai Haferkamp
s war einmal ein kleines Königreich, in dem lebten
die Menschen unter der weisen Herrschaft eines
alten Königs glücklich und zufrieden: Sie waren
zwar nicht reich an Geld und Gut, nannten aber
einen viel wertvolleren Schatz ihr eigen:
Denn wann immer sie Zeit dazu fanden, erzählten sie sich die
schönsten Märchen und Geschichten. Mit jedem Märchen aber,
das die Menschen einander erzählten, wurde das kleine Königreich prächtiger und schöner und erblühte in den wundervollsten
Farben. Da es mit der Zeit so viele Märchen gab, dass ein Mensch
sie unmöglich alle im Kopf behalten konnte, begann man, die Geschichten in Büchern auf-zuschreiben. Bald hatte jede Familie ein
solches Märchenbuch, aus dem man am Abend vorlas und das von
Generation zu Generation weiter gegeben wurde.
Eines Tages aber bestieg ein junger König den Thron. Dieser neue
König war eitel, herrschsüchtig und gierig nach Geld und Besitz.
Deshalb ärgerte es ihn, dass seine Untertanen ihre Zeit mit dem
Erzählen von Märchen verbrachten, anstatt den ganzen Tag lang
für ihn zu arbeiten.
Zunächst wollte er das Märchenerzählen bei Strafe verbieten. Da
er aber fürchtete, die Untertanen könnten darüber in Zorn geraten
und ihn vom Thron stürzen, dachte er sich eine List aus, um sein
Ziel zu erreichen: So ließ er überall im Lande verkünden, jeder Untertan, der ihm ein Märchenbuch in sein Schloss bringe, solle dafür
das Gewicht des Buches in Gold aufgewogen bekommen.
Diese Kunde verbreitete sich wie ein Lauffeuer im ganzen Königreich, und es dauerte nicht lange, da kamen die Menschen von
überall her und schleppten all ihre Märchenbücher auf das Schloss
des Königs. Der entlohnte sie gut und gab tatsächlich einem jeden
das Gewicht des Buches in Gold. Die Untertanen aber lachten insgeheim und flüsterten sich zu, der junge König müsse wohl nicht
recht bei Sinnen sein, dass er für die alten, oft schon arg zerschlissenen Märchenbücher so viel Gold gebe.
Der listige König aber ruhte nicht eher, bis er schließlich auch das
letzte Märchenbuch sein eigen nannte. In dem Moment aber, da er
auch das letzte Märchenbuch auf seinem Schloss wusste, ließ er die
Tore fest verschließen, türmte die Bücher zu einem großen Haufen
auf und verbrannte alle. Nur ein einziges, dickes Märchenbuch behielt er in seinen Händen. Dieses letzte Märchenbuch zerriss er, da
er sich am Ziel seines Planes glaubte, genüsslich Seite für Seite in
zwei Hälften. Die warf er , höhnisch lachend über die Dummheit
seiner Untertanen, in den Schlossgarten. Im Nu verteilte der Wind
sie dort überall, so dass es beinahe unmöglich erschien, die entzwei
gerissenen Seiten des Märchenbuchs jemals wieder richtig zusammenzufügen.
Die Menschen vermissten ihre Bücher zunächst nicht. Denn weil
sie nun glaubten, reich zu sein, verbrachten sie ihre Zeit von nun an
vornehmlich damit, diesen neuen Reichtum zu vermehren.
Darüber vergaßen sie das Märchenerzählen, bis sich schließlich
niemand mehr an ein Märchen erinnern konnte. Märchenbücher
aber, in denen man hätte nachlesen können, gab es ja nicht mehr.
So verstummte das Märchenerzählen allmählich ganz.
Von dem Tag an, da die Märchen im Königreich verstummten,
verdunkelte sich der Himmel mehr und mehr. Den prächtigen Blumen im Land fehlte dadurch das Licht, und sie wurden welk und
grau. Das ganze Land und auch der einst so wunderschöne königliche Garten wuchsen mit dornigem, kahlem, undurchdringlichem
Gestrüpp zu und kein Vogel war mehr zu hören.
Die Menschen wurden zwar immer reicher, aber trotz des vielen
Geldes, das sie nun verdienten, wurden sie doch immer trauriger.
Den Grund dafür konnte jedoch keiner nennen, da die Menschen
die Märchen bereits völlig vergessen hatten.
So wäre das kleine Königreich wohl für immer in Dunkelheit und
Trauer verfallen, wenn es nicht einige mutige Kinder gegeben hätte. Die hatten nämlich beobachtet, wie der König das letzte Märchenbuch zerrissen und die Seitenteile aus dem Fenster geworfen hatte. Eines Tages, als der König den Schlossgarten durch das
große Tor verließ, um seinen morgendlichen Spaziergang um die
Schlossmauer herum zu machen, fassten sie sich ein Herz: Mutig
kletterten sie auf der anderen Seite des Gartens auf einen großen
Apfelbaum, dessen mächtige Äste über die hohe Mauer weit hinein
in den königlichen Garten ragten. Von dort sprangen sie in den
Garten hinunter und begannen, nach den Märchenbuchseiten zu
suchen.
Und mit jedem Märchen, das die Kinder wieder zusammenfügten,
erhellte sich der Himmel auf wunderbare Weise ein wenig mehr,
die Farbenpracht kehrte langsam in den Garten und das ganze Königreich zurück, die Vögel begannen wieder zu singen, die Blumen
im Garten richteten sich auf, und die Dornen zerfielen zu Staub.
Die Kinder sammelten, so schnell sie konnten, denn sie mussten
den Garten durch das Tor auf jeden Fall vor der Rückkehr des bösen Königs wieder verlassen haben. Weil sie aber einander bei der
Suche halfen, war auch die letzte Seite des Märchenbuches bald geborgen.
Als wenig später der böse König grimmig um die Ecke der
Schloss-mauer bog, schlüpfte auch das letzte Kind noch gerade
rechtzeitig durch das Tor in der Mauer hinaus in die Freiheit.
Und zusammen mit den Kindern kehrte der Märchenschatz in das
ganze Königreich zurück und war gerettet.
Ende
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