Korsika strebt nach mehr Eigenständigkeit

Deutschlandfunk
GESICHTER EUROPAS
Samstag, 6. August 2016 – 11.05 – 12.00 Uhr
KW 31
Recht statt Gewalt –
Korsika strebt nach mehr Eigenständigkeit
Mit Reportagen von Birgit Kaspar
Redaktion und Moderation: Anne Raith
Musik und Regie: Babette Michel
Urheberrechtlicher Hinweis
Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom
Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt
werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige
Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz
geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.
©
- unkorrigiertes Exemplar –
Gesichter Europas
Jean-Guy
Talamoni,
der
nationalistische
Präsident
der
korsischen
Regionalversammlung, in seiner Neujahrsansprache 2016. Natürlich auf
Korsisch.
„Eine neue Ära für Korsika beginnt. Wir werden alle zusammenarbeiten
müssen, solidarisch und geeint. Gemeinsam mit den Alten und den ganz Jungen,
mit allen, die das Korsika von Morgen aufbauen wollen. Die Tore zur Zukunft
stehen uns weit offen.“
Und der französische Premierminister Manuel Valls bei seinem ersten
offiziellen Besuch auf der Insel ein halbes Jahr später. En français, bien sûr.
„Korsika ist Teil der Republik, Korsika ist Teil Frankreichs, die Sprache ist
Französisch und jeder sollte sich diese großen Prinzipien in Erinnerung rufen.“
Recht statt Gewalt – Korsika strebt nach mehr Eigenständigkeit.
„Gesichter Europas“ mit Reportagen von Birgit Kaspar.
Am Mikrophon ist Anne Raith, herzlich willkommen.
Reportage 1 - „Wir kehren immer wieder zurück“ – Was Heimat auf
Korsika bedeutet
Auf Korsika weht seit einigen Monaten politisch ein frischer Wind. Bei den
Regionalwahlen im vergangenen Jahr haben die Inselbewohner zum ersten Mal
mehrheitlich die Liste „Für Korsika“ gewählt.
Seitdem sorgt die neue nationalistische Regierung für Aufsehen: Der neue Chef
der Regionalregierung Gilles Simeoni hat seine Antrittsrede in großen Teilen auf
Korsisch gehalten. Und der eben gehörte Präsident der Regionalversammlung,
Jean-Guy Talamoni, erzürnte die Regierung in Paris mit der Formulierung,
Frankreich sei ein „befreundetes Land“. Anders als Simeoni ist „gemäßigt“ kein
Attribut, das er sich zuschreiben würde.
Der Grad der gewünschten Selbstbestimmung mag variieren, eine französische
Flagge aber hat keiner von beiden im Büro. Die Stoßrichtung ist klar: Unter der
neuen Regierung strebt Korsika nach mehr Autonomie. Nun aber auf
demokratischem Wege. Die letzten militanten Separatisten der „Nationalen
Befreiungsfront“, der FLNC, haben den bewaffneten Kampf für beendet erklärt.
Vorerst zumindest.
Doch schon jetzt ist Korsika eine Welt, die nach eigenen Gesetzen funktioniert.
Das zeigt sich nicht nur, aber vor allem in den Dörfern. Viele von ihnen liegen
recht einsam, hoch oben in den Bergen. Wie Rusio, umgeben vom satten Grün
der Almen, von Obst- und Kastanienbäumen. Die erst Ende der 1950er Jahre
erbaute einspurige Straße endet hier. Ebenso wie der Einfluss vom Festland.
„Tu vois, on boit tranquillement… “
„Man kann hier unbesorgt trinken“, sagt Daniel Vicensini und schlürft das
Wasser aus dem Brunnen in großen Schlucken. In einer der schmalen Gassen
zwischen den sehr alten, ordentlich renovierten Natursteinhäusern zeigt er auf
das Haus seiner Großmutter, das seiner Schwester und auf sein eigenes
Apartment. Rusio, das kleine Bergdorf in der Castagniccia, wo seine Familie seit
Generationen lebt, ist der Mittelpunkt seiner persönlichen Landkarte. Auch
wenn der Sänger der Gruppe „I Mantini“ selbst seit langem an der Ostküste
Korsikas lebt. Der 52jährige in Jeans und schwarzem T-Shirt liebt sein Dorf.
„Wir sind in diesen Dörfern verwurzelt. Wir kehren immer wieder zurück. Es gibt
etwas dort, das uns unwiderstehlich anzieht.“
Diese enge Beziehung zur Familie und zur Heimaterde definiert viele Korsen.
Auf einer Insel mit nur rund 300.000 Einwohnern ist diese Zuordnung von
großer Bedeutung, auch wenn viele wie Daniel ihr Heimatdorf verlassen haben.
Im abgeschiedenen Rusio leben heute nur noch rund 35 Menschen das
gesamte Jahr über. Es waren einmal über 300. Mehr als die Hälfte von ihnen
sind Rentner. Der Bürgermeister ist seit 21 Jahren derselbe, der Clan bestimmt
die Politik. Das bedeutet: Man wählt kein politisches Programm, sondern eine
Familie. Solche Loyalitäten werden anschließend belohnt, wenn man einen Job
sucht oder anderweitig in Bedrängnis gerät.
Daniels Cousin Frédéric Moretti betreibt mit seinem Geschäftspartner Pierre
Pastinelli eine Kastanienmühle und eine Schweinezucht. Die beiden sind
verschwitzt, in abgetragenen Hosen und schmutzigen T-Shirts arbeiten sie auf
ihrem Hof ein paar hundert Meter unterhalb des Ortskerns. Vor 17 Jahren
haben sie ihre gut bezahlten Jobs in der Hafenstadt Bastia aufgegeben, um im
Heimatdorf Landwirtschaft zu betreiben. Inzwischen ziehe es wieder mehr
junge Leute hierher, erzählt Frédéric:
„Es ist vor allem die Lebensqualität, das Miteinander und die
Nachbarschaftshilfe, die so nicht mehr existieren. Hier gibt es sie noch.“
Der 53jährige setzt die Kastanienmühle in Gang. Dies ist der letzte Akt eines
langen Prozesses. Denn bis die Kastanien endlich gemahlen werden können,
vergehen Monate. Erst werden sie im Wald gesammelt, dann sorgsam sortiert,
gereinigt und schließlich getrocknet. Pierre erläutert:
„Sehr rustikale Maschinen entfernen die Außenschale. Aber die zweite Haut, die
schälen wir in Handarbeit mit einem Messer ab. Kein Mensch macht das heute
noch so. Aber wir tun es!“
Weil ihre Priorität die Qualität sei, so Pierre. Sie hätten viele Auszeichnungen
gewonnen und das Mehl trotzdem nicht teurer verkauft als alle anderen.
„Die anderen erklären uns für verrückt. Es stimmt, den meisten geht es ums
Geld, uns aber nicht. Wenn wir einen Stundenlohn von, sagen wir mal, 20 Euro
erwirtschaften wollten, müssten wir unser Mehl für 1.000 Euro per Kilo
verkaufen! Wenn es uns wirklich um den Verdienst ginge, dann würden wir
nicht so arbeiten.“
Das gleiche gilt für die Art und Weise wie sie Schweine züchten und
verarbeiten. Denn seit die Kastanienbäume von einer Krankheit befallen sind,
konzentrieren sie sich auf die Wurstherstellung. Bleibt die Frage, wovon sie
leben? „Von Liebe und frischem Wasser!“ Frédéric präzisiert:
„Wir überleben. Klar, unser Gemüse und Fleisch müssen wir nicht kaufen. Und
wir haben die Lebensqualität. Viele Leute sagen, die sei Geld wert.“
Ändern wollen Frédéric und Pierre ihre Lebensweise keinesfalls. Sie sind
zufrieden.
„Es stimmt. Wir sagen nicht, dass dies die einzig richtige Art zu arbeiten ist.
Aber wir wollen es so machen und wir machen es so. Basta. Alternativen
diskutieren wir nicht.“
Bevor Daniel die Fahrt über das kurvenreiche Sträßchen ins Tal antritt, zieht es
ihn noch einmal zu seinen Eltern. Der Friedhof liegt auf einer kleinen Anhöhe.
Der Blick schweift über das Dorf, die Wälder und die Berge ringsum bis ins Tal.
Die Namen auf den Grabsteinen gleichen sich: Moretti, Rocchi, Vicensini.
Familien, eng miteinander verbunden, seit Generationen. Daniel wird
nachdenklich. Natürlich gebe es auch Streit in solch kleinen Dörfern:
„Manchmal reichen die Gründe Jahrzehnte zurück, der Großvater, der den Esel
nicht verkaufen wollte... Generationen sprechen anschließend nicht
miteinander. Und dann gab es die Vendetta. Du tötest meinen Bruder, drum
töte ich dich. Ganze Familien sind mancherorts ausgelöscht worden. Pasquale
Paoli, der politische Übervater Korsikas, hat die Vendetta deshalb verboten.“
Und heute ist es damit vorbei?
„Oui, oui, on espère!“
Literatur: Prosper Mérimée, Colomba, Erstausgabe 1840
„Diese Novelle klebt uns auf der Haut und egal wieviel Seife wir benutzen,
wir
können
uns
nicht
davon
befreien“,
seufzt
eine
korsische
Literaturprofessorin. Die Rede ist von „Colomba“. Die Novelle erzählt die
Geschichte einer jungen Frau, hübsch und energisch, die nach dem Tod
ihres Vaters auf Rache sinnt. Auf Blutrache, Vendetta.
Zwei Monate hatte der französische Schriftsteller Prosper Mérimée auf
Korsika verbracht, bevor die Novelle, benannt nach der Titelheldin, im
Sommer 1840 erschien. Es ist der Blick eines Festlandbewohners auf die
Insel, ein düsterer Blick, unter dem viele Korsen bis heute leiden. Ganz nach
dem Motto: So ist der Korse eben.
„Um Ajaccio herum ist alles tot und öde. Anstelle der ansehnlichen Gebäude,
die man überall zwischen Castellamare und dem Kap Miseno entdeckt, sieht
man rings um den Golf von Ajaccio nur düstere Buschwälder und dahinter
kahle Berge. Kein Landhaus, keinerlei Ansiedlung. Nur hier und da heben sich
auf den Anhöhen um die Stadt einige vereinzelte weiße Bauwerke vom grünen
Hintergrund ab: Totenkapellen und Familiengräber. Alles in dieser Landschaft
ist von einer ernsten und traurigen Schönheit.
Der Anblick der Stadt verstärkte besonders zu dieser Zeit noch den Eindruck,
den ihre einsame Umgebung hervorrief. Kein Leben auf den Straßen, in denen
man nur wenige – und immer dieselben – Müßiggänger antrifft. Kein einziges
weibliches Wesen außer einigen Bäuerinnen, die ihre Erzeugnisse verkaufen.
Nirgends hört man lautes Reden, Lachen oder Gesang wie in den italienischen
Städten. Bisweilen spielt im Schatten eines Baumes auf der Promenade ein
Dutzend bewaffneter Bauern Karten oder sieht dabei zu. Sie machen kein
Geschrei und streiten nie; kommt Leben ins Spiel, hört man Pistolenschüsse,
die den Drohungen immer vorausgehen. Der Korse ist von Natur aus ernst und
schweigsam.
Abends tauchen ein paar Gestalten auf, um die kühle Abendluft zu genießen,
aber die Spaziergänger auf dem Korso sind fast alles Fremde. Die
Einheimischen bleiben vor ihrer Tür; ein jeder gleichsam auf der Lauer wie
ein Falke auf seinem Nest.
Reportage 2: „Das Ziel ist das Ende der französischen Dominanz auf der
Insel“ – Was Unabhängigkeit auf Korsika bedeutet
Einmal in der Geschichte ist es Korsika bereits geglückt: Von 1755 bis 1769 war
die Insel unabhängig, unter Pascquale Paoli, der bis heute von vielen Korsen als
Freiheitsheld verehrt wird.
Auch die Universität in Corte trägt seinen Namen. Sie ist die einzige Hochschule
auf der Insel, einst durchgesetzt gegen den mächtigen Widerstand aus Paris.
Und dieser Kampfgeist hat sich gehalten, in Form der Studentengewerkschaft
Ghjuventu indipendentista. Die Zahl der aktiven Mitglieder ist mit etwa 150
eher überschaubar, aber die GI hat zahlreiche Sympathisanten und Unterstützer.
Als im Januar dieses Jahres ein neues Studentenparlament gewählt wurde,
bekam sie mehr als 41 Prozent der Stimmen. Politisch steht die
Studentengewerkschaft den Separatisten nahe. Jenen, die sich nicht als
„gemäßigt“ bezeichnen würden.
Das Büro von Ghjuventu Indipendentista liegt am Ende eines düsteren, engen
Gangs des Studentenwohnheims von Corte. Das große Zimmer hingegen ist
hell. Auf einer weißen Wand prangt in schwarzer Farbe das Konterfei des
Ribellu, eines korsischen Widerstandskämpfers mit Kapuzenmütze und Gewehr.
Darunter stehen dutzende Flaschen auf einem Tisch: Bier, Pastis, Wein,
Limonade... Paul Salort entschuldigt sich:
„Hier steht viel Alkohol herum, weil wir gerade eine Party ausgerichtet haben.
So bessern wir unsere Finanzen auf. Es ist verboten hier im Büro Alkohol zu
trinken.“
Der schmale 18jährige Jurastudent in blauem Pullover und Jeans ist Präsident
und Sprecher der nationalistischen Studentengewerkschaft an der Universität
Corte. Die ist gleichzeitig landesweit als politische Jugendbewegung aktiv, will
heißen: auf ganz Korsika. Denn dass Korsika ein eigenständiges Land sein sollte,
daran lassen die jungen Leute keinen Zweifel.
„Das Ziel der GI ist die nationale Unabhängigkeit Korsikas, das heißt das Ende
der französischen Dominanz auf der Insel. Um dies zu erreichen demonstrieren
wir, wir besetzen die Präfektur, wir treten in den Hungerstreik, um Gespräche
mit den Staatsvertretern zu erzwingen.“
Langsam trudeln mehrere GI-Anhänger zu einer Sitzung ein, um die nächsten
Aktivitäten zu planen. Junge Leute zwischen 18 und 22, in Jeans und
Turnschuhen, die meisten fingern ständig an ihren Smartphones herum. Sie
setzen sich an einen langen Tisch, direkt unterhalb des wandfüllenden
Emblems der GI. Feuerzeuge klicken, die meisten rauchen. Paul präsentiert die
Tagesordnung:
„Bon, l'ordre du jour: Je suis désolé mais il va falloir afficher…“
Es ist keine beliebte Aktivität, aber Plakate für das Freundschaftsspiel der
korsischen gegen die baskische Fußballmannschaft müssen aufgehängt werden.
In den Augen der GI ein wichtiges nationales Ereignis, denn Fußball ist auf der
Insel populär.
„Ensuite, conférence de presse…“
Pauls Gesicht wirkt klar und offen. Mit entschlossener Stimme verlangt er, sich
in diesem Sommer in einer Kampagne für die Amnestie der 23 korsischen
Gefangenen in Haftanstalten auf dem französischen Festland einzusetzen.
Unter den Häftlingen sind auch einige Mitglieder der GI. Paul nennt sie
„politische Gefangene“. Die Amnestie jener Korsen, die wegen Straftaten im
Zusammenhang mit dem Unabhängigkeitskampf einsitzen, ist eine der
zentralen
Forderungen
von
Ghjuventu
Indipendentista
sowie
der
nationalistischen korsischen Regionalregierung.
„40 Jahre lang hatten wir einen bewaffneten Konflikt auf Korsika, diese
Dimension muss man sich klarmachen. Der FLNC stand gegen den französischen
Staat und seine Besatzungsmacht, also die nationale Polizei, die Gendarmerie,
die Armee, die Luftwaffe auf dem korsischen Stützpunkt Solenzara. Dieser
Konflikt hat Tote gefordert, Verletzte, er hat das Leben derer zerstört, die im
Gefängnis
landeten.
Heute
beobachten
wir
ein
Aufflammen
der
nationalistischen Ideen, die Nationalisten haben die Regionalwahlen gewonnen.
Der FLNC hat ein Ende des bewaffneten Konfliktes erklärt und auf die Weise den
öffentlichen Raum demilitarisiert.“
Und in seiner Erklärung hatte auch der FLNC nachdrücklich eine Amnestie der
nationalistischen Gefangenen gefordert. Die Regierung in Paris bleibe aber
hart, obwohl eine Honorierung solch einseitig beendeter Gewalt nicht unüblich
sei. Es gebe keine „politischen Gefangenen“, heißt es. Das sei genauso
unverständlich wie die Ablehnung, Korsisch zur zweiten Amtssprache zu
erheben, beklagt Paul:
„Wir gehen unseren Teil des Weges Richtung Frieden, aber wir erwarten auch
endlich Gesten der Regierung.Da kommt nichts. Ihre Gesten sind Provokationen.
Denn die Repressionen gehen weiter in Form von vorläufigen Festnahmen und
Verhören.“
Paul ist sich sicher: Solche Einschüchterungsversuche gegen Mitglieder der GI
rufen nur mehr Entschlossenheit hervor.
Anna-Maria öffnet das Fenster. Donner hallt von den Bergen um Corte wider.
Die Luft im GI-Büro ist zum Schneiden dick. Pascal zündet sich eine weitere
Zigarette an, bevor es das Wort ergreift. Die Anhänger von Ghjuventu
Indipendentista wollten sich nicht wie andere Korsen auf Autonomie
beschränken. Pascal ist überzeugt, dass das dem Wunsch vieler Korsen
entspricht:
„Die korsische Jugend wird zunehmend nationalistischer. Die gesamte
Bevölkerung wird nationalistischer, weil ihr klar wird, dass diese politischen
Projekte machbar sind. Dass wir uns selbst genügen können, ob nun
wirtschaftlich oder in jeder anderen Hinsicht.“
In diesem verrauchten Zimmer der Universität Corte gewinnt man den
Eindruck, die Korsen wären schon fast am Ziel. Mitbürger, die eine
wirtschaftliche Unabhängigkeit mit Sorge betrachten oder solche, die eine
starke Zugehörigkeit zu Frankreich empfinden, werden als Minderheit
angesehen. Man müsse sie eben überzeugen. Paul räumt ein, dass tatsächlich
eine Mehrheit der Korsen Bedenken habe:
„Die Angst vor der Unabhängigkeit ist wirtschaftlich motiviert. Das sind Leute,
die denken, Korsika sei nicht lebensfähig. Sie haben ihre persönlichen
Wirtschaftsinteressen im Sinn.“
Deshalb gehe es jetzt um den Aufbau der Nation, politisch wie wirtschaftlich,
auf demokratischem Wege. Sollte Paris sich sperren, dann werde die
nationalistische Regierung entsprechende Konsequenzen ziehen.
„Wir werden Entscheidungen treffen und Frankreich muss sich dann dem
internationalen Recht stellen, sich vor der Welt verantworten. Ich sage nicht,
dass wir uns auf einem Boulevard Richtung Unabhängigkeit bewegen, es ist
eher eine enge Gasse. Aber wir werden sie nehmen und am Ende ankommen.“
Die Studenten werden langsam unruhig. Es ist Zeit, sich wieder hinter die
Examensvorbereitungen zu klemmen. Paul erklärt die Sitzung für beendet und
schließt das Büro für heute ab.
Reportage 3. „Ich muss versuchen, unsere Weinkultur wiederzubeleben“ –
Was Widerstand auf Korsika bedeuten kann
Lange hat Korsika mit Gewalt gegen den Einfluss vom französischen Festland
gekämpft. Gegen Immobilienspekulanten. Für eine eigene Universität, einen
Sonderstatus, mehr politischen Einfluss.
Und weder Gilles Simeoni, Chef der Regionalregierung, noch Jean-Guy
Talamoni, der der Regionalversammlung vorsitzt, bedauern diese Zeit. Mit dem
bewaffneten Kampf haben wir viel erreicht, sagen sie. Auch wenn jetzt eine
andere Zeit anbreche.
Und doch ist die Geschichte beider Männer eng mit dieser Phase des
gewaltsamen Widerstandes verbunden. Gilles Simeoni war noch ein Kind, als
sein Vater im Sommer 1975 mit anderen Unterstützern ein Weingut besetzte,
aus Protest gegen die Politik des Festlands. Die französische Regierung
antwortete mit einem Großaufgebot ihrer Sicherheitskräfte. Am Ende der
Auseinandersetzung waren zwei Menschen tot, viele verletzt.
Es war die Geburtsstunde der Nationalen Befreiungsfront FLNC, die zum
bewaffneten Kampf aufrief. Für die Selbstbestimmung Korsikas und die
Anerkennung der Korsen als Volk. Dieser Sommer veränderte das Leben vieler
Korsen.
Hüfthohes Gras wiegt sich im Wind. Eine dicke, teilweise zersplitterte
Glasplatte steht aufrecht nahe der Route Nationale 198. In die Platte
eingelassen und noch erkennbar: Das Foto des ehemaligen Weingutes Depeille.
Auf seinen weißen Mauern steht in schwarzer Schrift: „Colons Escrocs Fora“
und „Tarra Corsa a i Corsi“. „Kriminelle Siedler raus“. „Das korsische Land den
Korsen“. Früher stand an dieser Stelle kurz vor Aléria, die Ruine des Weingutes.
Sie wurde abgerissen. Doch jeder Korse weiß, was 1975 hier geschah.
Rund 80 Kilometer nordöstlich, in Patrimonio, blickt der Winzer Antoine Arena
stolz auf seine Weinberge. Sie erstrecken sich bis dicht unter die Felsen der
nahe gelegenen Berge. Auf der Terrasse seines schlichten Hauses erinnert er
sich: 1975 war er 21 Jahre, er studierte Jura an der Universität von Nizza. Die
Ereignisse von Aléria veränderten sein Leben:
„Ich sagte mir und meinen Freunden: Mein Platz ist nicht an der Uni, sondern in
Patrimonio. Ich muss versuchen, dort den Staffelstab zu übernehmen, um
unsere Tradition, unsere Weinkultur wiederzubeleben.“
Der heute 63jährige reagierte damit auf die unverhältnismäßig brutale Antwort
der französischen Staatsgewalt. Wie viele Korsen.
„Da waren diese jungen Leute, die einen Weinkeller besetzten. Heute räumt
jeder ein, dass sie mit ein paar Jagdgewehren gekommen waren. Paris aber hat
gleich eine Armee geschickt, um sie zu bezwingen. Die Korsen, selbst
diejenigen, die die Ideologie der Regionalisten nicht teilten, sagten sich:
Moment mal, Edmond Simeoni ist doch kein Mörder.“
Die Anhänger der „Action pour la Renaissance de la Corse“ wollten 1975 auf
Weinpanschskandale sowie die Benachteiligung korsischer Winzer aufmerksam
machen, unter denen die traditionellen Familienbetriebe litten. Der
französische Staat hatte nach der Unabhängigkeit der Kolonie Algerien 1962
rund 17.000 Algerienfranzosen auf Korsika angesiedelt. Viele von ihnen waren
im Weinanbau tätig gewesen, hatten in Algerien alles verloren und erhielten
nun eine Vorzugsbehandlung. Paris teilte ihnen Land und günstige Kredite zu,
damit sie sich in der neuen Heimat eine Existenz aufbauen konnten. Die
Algerienfranzosen industrialisierten den Weinanbau in der Plaine Orientale, es
kam zu Panschereien.
„A l'époque ils faisaient du vin même sans raisins! Ils faisaient du vin avec des
mélanges d'eau, d'acide …“
Sie hätten Wein sogar ohne Trauben hergestellt, empört sich Antoine. Viele
Kredite seien zudem nie zurückgezahlt worden. Die französische Verwaltung
habe lange beide Augen zugedrückt. Der Ruf des korsischen Weins war ruiniert
und mit ihm zahlreiche traditionelle Weingüter. Die Ereignisse von Aléria
stießen den Beginn einer neuen Bewegung an, meint Antoine.
„In diesem Moment begann die Autonomiebewegung sich zu strukturieren.
Damit einher ging die Riaquistu-Bewegung, die Wiederaneignung der
korsischen Kultur. Viele junge Korsen kehrten vom Kontinent nach Hause
zurück.“
Der kräftig gebaute Landwirt mit dickem grauem Haar nippt nachdenklich an
seinem Wasserglas. Er gehört heute zu den erfolgreichen prämierten Winzern
Korsikas, exportiert seine Weine bis nach Japan und in die USA.
„Ich hatte Freunde, die dem FLNC angehörten. Ich traf sie ab und zu und sagte
ihnen: Es gibt zwei Formen von Aktivismus. Es gibt eure, die wir zweifelsohne
brauchen, und es gibt unsere. Sie besteht darin, die Ärmel hochzukrempeln, in
die Weinberge zu gehen und zu beweisen, dass man hierzulande erfolgreich
produzieren und von seiner Arbeit leben kann. Das muss man auch erstmal
machen!“
Man hat ihn damals als Autonomisten bezeichnet, aber Gewalt habe er immer
abgelehnt:
„Ich war immer für eine Form der Selbstverwaltung Korsikas als Teil der
französischen Republik. Ich war und bin davon überzeugt, dass die
Entscheidungen, die Korsika betreffen, in erster Linie auf Korsika getroffen
werden sollten, nicht in Paris.“
Die Politik aber habe er anderen überlassen und sich auf die Reben der
Domaine Arena konzentriert.
Antoine macht sich auf den Weg in die Weinberge, die heute in erster Linie von
seinen beiden Söhnen bewirtschaftet werden.
„Ich möchte Ihnen zeigen, welche Arbeit wir dort ganz oben geleistet haben.
Als ich hier angefangen habe, galt ich als Sonderling, heute nennt man meine
Arbeit vorbildlich.“
Antoine zeigt auf die Parzellen, auf die er besonders stolz ist. Als sie Ende der
70er Jahre begannen, neue Reben zu pflanzen, sei Patrimonio nahezu verlassen
gewesen.
„Weil die korsischen Rebsorten fast ausgestorben waren, haben wir ein
Zentrum aufgebaut, das die alten Weinreben wieder kultiviert. So konnten wir
die ausgeprägte Eigenart des korsischen Weins zurückbringen.“
Heute leben 40 Winzer in der alten Weinregion Patrimonio, die überwiegend
Bio-Weine produzieren. Antoine Arena sieht darin den Erfolg seiner
Generation. Er nimmt ein wenig Erde in die Hand.
„Wissen Sie, der Reichtum zeigt sich nicht an der Dicke des Portemonnaies.
Entscheidend ist, dass man abends zufrieden schlafen gehen kann, dass man
sich sagen kann, man hat gute Arbeit geleistet und dass man seinen Kindern ein
intaktes Land hinterlassen kann. Denn diese Erde gehört uns nicht, sie gehört
der nachfolgenden Generation. Man muss sie sauber hinterlassen.“
Literatur: Jacques Fusina, Korsisches Mufflon, 1970
Inselbewohner mögen die französische Literatur über Korsika als stereotyp
empfinden. Die Motive aber, die Schriftsteller wie Prosper Mérimée
wählten, gleichen jenen in der korsischen Literatur. Es geht um Eigensinn,
um Selbstbestimmung, um Unabhängigkeit. Nur hört sich das aus
korsischer Feder etwas lyrischer an. Etwa in der Ode an das korsische
Wildschaf von Ghjacumu Fusina.
Über Felsen und Bergesgipfel
Gehüllt in zauberhaften Schnee
Und die Schwindel erregenden Wipfel
Der Cintu und Rotondu-Höhen
Wo Klee und wilde Minze blühen
Und die Winde von allen Seiten ziehen
Schnell flüchtest du, behände und agil
Sobald man sich dir nähern will
Korsisches Mufflon, wie die Märchen dich loben
Dein Name ist Freiheit
Korsisches Mufflon, in der Sonne hoch oben
Welches Vorbild bist du für uns!
Weder Römer noch Genuesen
Konnten dich legen ans Gängelband
Weder Sarazenen noch Franzosen
Denn du frisst nicht aus der Hand
Drum bleibe droben auf den Höhen
Wo niemand dich ergreifen kann
Weh dem, der folgt dem Geläut deiner Herde
Weh dem, der sich dazu verleiten lässt?
Korsisches Mufflon, wie die Märchen dich loben
Dein Name ist Freiheit
Über den Renosu, das Valduniellu
springt dein Junges auf immer umher
Korsisches Mufflon, in der Sonne hoch oben
Welches Vorbild bist du für uns!
Reportage 4: „Wir sind zwar hier geboren, aber für die Korsen sind wir
hier nicht zu Hause“ – Was Identität auf Korsika bedeutet
Nicht nur Korsen streben zurück in ihre Heimat. Die Insel zieht auch viele
Einwanderer an. Italiener und Portugiesen, nach dem Ende der französischen
Kolonialherrschaft auch viele Algerier, Marokkaner und Tunesier. Bis heute
kommen Menschen aus den Maghrebstaaten nach Korsika. Manche nur als
Saisonarbeiter, andere, um hier zu leben.
Nicht ohne Gegenwehr.
Immer wieder hat es in den vergangenen Jahren rassistische Übergriffe gegeben.
Ende vergangenen Jahres zum Beispiel, im „Jardin de l'Empereur“, einem
Einwandererviertel von Ajaccio. Vermummte Randalierer hatten die Feuerwehr
dort in einen Hinterhalt gelockt, um mit Baseballschlägern und Eisenstangen auf
sie loszugehen. An den darauf folgenden Tagen marschierten wütende
Demonstranten in das Viertel und skandierten „Araber raus“ und „Wir sind hier
zu Hause“, und verwüsteten dabei unter anderem einen muslimischen
Gebetssaal.
Hinzu kommt, dass nach Nizza auch auf Korsika die Angst vor islamistischen
Anschlägen wächst. Nach längerem Schweigen hat sich auch eine Splittergruppe
der Nationalen Befreiungsfront wieder zu Wort gemeldet und radikalen
Islamisten mit einer entschiedenen Antwort gedroht. Muslime auf Korsika riefen
die militanten Separatisten auf, Verdächtige zu melden und selbst auf „auffällige
religiöse Zeichen“ zu verzichten. Was die Lage der Muslime auf Korsika nicht
einfacher machen dürfte…
Ein enger dunkler Durchgang zwischen zwei Wohnhäusern, unmittelbar
gegenüber der Saint-Joseph-Kirche in Bastia. Einer nach dem anderen
schlüpfen junge und alte Männer möglichst unauffällig in die Gasse. Manche
tragen eine kleine Plastiktüte in der Hand. Ein junger bärtiger Mann in T-Shirt
und Jeans zieht eine Djelabbah, ein langes, traditionelles Gewand, aus seiner
Tüte, wirft sie sich hastig über den Kopf und verschwindet zwischen den
Häusern. Als würde er sich schämen. Es ist die Zeit des muslimischen
Freitagsgebets. Einen Gebetsruf gibt es hier nicht.
Nach einiger Zeit kommen die Männer wieder heraus, unter ihnen der
73jährige Maurice. Er ist vor 45 Jahren aus Marokko gekommen. Der kleine
Mann hat freundliche, aber traurige Augen. Er macht eine wegwerfende Geste.
Nein, eine richtige Moschee sei dies nicht.
„Es ist ein Keller. Früher war es ein Müllabladeplatz. Wir haben ihn gereinigt
und ein paar Arbeiter haben daraus eine Art Moschee gemacht.“
Habib, der algerische Vorfahren hat, fällt ihm ins Wort:
„Das ist doch keine Moschee! Es ist ein Gebetshaus, ein kleines Ding, das
niemanden stört. Es hat ein paar Probleme gegeben. Einmal haben sie „Araber
raus“ auf die Wand geschrieben. Wir haben es abgewaschen. Dann haben sie
zwei blutige Wildschweine vor die Tür geworfen.“
Maurice wirft ein, dass die „echten“ Korsen keine Rassisten seien. Trotzdem sei
es manchmal schwer.
Rund 500 Meter von dem muslimischen Gebetshaus entfernt hat das Café „A
Tramendera“ seine Türen geöffnet. Es gehört zum Büro des anti-rassistischen
Kollektivs Ava Basta. Jetzt reicht's.
Ein älterer Herr maghrebinischer Herkunft sitzt an einem viereckigen Tisch. An
einem anderen Tisch sitzen Lahbib und Mohamed. Lahbib ist Elektriker. Der
34jährige trägt eine dunkle Jeans und ein schwarzes Hemd.
„Ich habe mich immer als Korsen marokkanischer Herkunft gesehen und mich
hier zu Hause gefühlt. Denn ich arbeite, ich war dabei ein Haus für meine
Familie zu bauen. Aber am 31. Dezember 2014 gab es leider ein
Bombenattentat auf mein Haus. Da wurde mir klar, dass ich in Wirklichkeit hier
nicht zu Hause bin.“
Sein Haus wurde komplett zerstört und mit ihm Lahbibs bisheriges Leben. Er
wisse nun, wo er stehe. Als Marokkaner der dritten Generation interessiere er
sich seither zunehmend für seine Kultur und das Land seiner Vorfahren.
Den Verdacht, dass korsische Nationalisten dahinter gesteckt haben könnten,
weisen Lahbib und sein Freund Mohamed entschieden zurück.
„Ich glaube, dass rechtsextreme Kriminelle hinter all diesen Übergriffen
stecken.“
Mounir Ghazali rührt seinen Kaffee um. Der 39jährige Unternehmer und VizePräsident von Ava Basta ist praktizierender Muslim und stolz auf seine
marokkanischen Wurzeln. Er ist überzeugt, dass es in Korsika nicht mehr
Rassismus gibt als anderswo.
„An manche Dinge habe ich mich gewöhnt, mit anderen habe ich mich
ausgesöhnt. Ich bin wirklich glücklich auf der Insel und habe nicht vor sie zu
verlassen.“
Mounir lächelt. Dann äußert er den Verdacht, einige Leute ritten seit dem Sieg
der korsischen Nationalisten bei den Regionalwahlen im Dezember 2015 ganz
bewusst auf der vermeintlichen Rassismus-Welle herum. Ihr Ziel: Die
korsischen Nationalisten in Verruf zu bringen.
„Das sind Vorurteile, die man uns suggerieren will. Ich denke, die Regierung in
Paris sitzt hier am Hebel. Sie will uns eine enge Verbindung zwischen diesem
Rassismus und dem Nationalismus einreden. Ich sage Ihnen, das stimmt nicht!
Es hat mehrere solch rassistischer Zwischenfälle gegeben und die ersten, die sie
entschieden verurteilt haben, waren die korsischen nationalistischen Politiker.
Man hätte das eigentlich von anderen erwartet.“
Hélène Savelli bringt mehr Kaffee. Die Verwaltungsdirektorin von Ava Basta
mischt sich ein.
„Beim korsischen Nationalismus ging es von Anfang an um die Anerkennung der
korsischen Nation. Einer Nation mit einem Volk, aber im umfassenden Sinn. Es
geht nicht um ein Volk mit korsischem Blut oder so. Und jetzt erleben wir die
Vermischung des korsischen Nationalismus mit dem rechten Front National und
dessen Formel „Frankreich den Franzosen“. Bei uns heißt es aber nicht „Korsika
den Korsen“. Es geht hier nur um die Anerkennung einer korsischen Nation.“
Auch Hélène denkt, dass es nicht zuletzt in einigen französischen Medien Leute
gibt, die ein politisches Interesse an einer solchen Vermischung hätten. Was
nicht heißen solle, dass es auf Korsika keinen Rassismus gebe.
„Es gibt Rassismus auf Korsika. Aber die Korsen sind nicht rassistischer als
andere. Es gibt keinen speziellen korsischen Rassismus. Das ist sehr wichtig.“
Ghjiseppu Maestracci, der Direktor von Ava Basta, hat der Diskussion
nachdenklich zugehört. Der feingliedrige 76jährige trägt einen eleganten
schwarzen Anzug und ein weißes Hemd. Er spricht leise, aber bestimmt. Der
ehemalige Lehrer hat selbst lange in Algerien gelebt. Er erinnert an die
Geschichte:
„Das korsische Volk ist tief gezeichnet von seiner Geschichte. Die Ankunft der
Algerienfranzosen in den 60er Jahren kam einer Beraubung der korsischen
Landwirte gleich. Denn sie warteten auf Ländereien, die den anderen gegeben
wurden. Diese anderen haben dann Arbeitskräfte aus dem Maghreb importiert.
Sie sind nun seit 30 bis 40 Jahren hier und plötzlich sagt man ihnen: Wir sind
hier zu Hause, ihr haut ab! - Aber warte mal, ihr habt mich doch geholt.
Übrigens nachdem ihr mein Land jahrelang kolonialisiert habt. Ihr habt mich
geholt, weil ihr mich brauchtet. Und eines Tages sagt ihr, nein, wir haben jetzt
eine Krise, also gehst du... Nein, man kann Menschen nicht wegwerfen wie eine
Tube Zahnpasta.“
Die Besucher des Cafés sind inzwischen nach Hause gegangen. Nach Hause?
Wer darf also Korsika sein Zuhause nennen? Ghjuseppu ist überzeugt, dass alle
diejenigen, die den anderen respektieren, hier einen Platz haben.
„Korsika ist ein Land, in dem Menschen aus vielen Teilen der Welt irgendwann
eine Heimat gefunden haben. Wir sind also ein Volk der Vielfalt,
zusammengesetzt aus all denen, die hier Wurzeln geschlagen haben und uns zu
dem gemacht haben, was wir heute sind. Ein Volk, keine Rasse.“
Literatur: Mounir Ghazali: „Bonjour, je me présente... “
Ein Volk der Vielfalt…diese Vielfalt bringt jedoch auch jede Menge
Verwirrung mit sich. Wenn man sich vorstellen möchte etwa. Mounir
Ghazali von Ava Basta wagt einen Versuch:
„Ich heiße Mounir, da bin ich mir sicher, denn das hat man mir zu Hause so oft
nachgeschrien...
Eigentlich hätte ich Benoit heißen sollen...ja, ja, Benoit. Es war Schwester
Odette, die meinen Schwestern bei den Hausaufgaben half, sie wollte
unbedingt, dass man mich Benoit nennt. Meine Mutter hatte nichts dagegen,
dass meine Schwestern im Pfarrhaus ihre Hausaufgaben machten. Aber diese
seit je her tolerante Muslimin war dann doch nicht bereit, mich nach dem
Schutzheiligen des Christentums zu benennen.
Ich kam am 2. Mai 1977 auf Korsika an, nackt wie ein Wurm, ohne Koffer,
ohne Karton. In der Klinik von Porto Vecchio. Ich wog nicht mehr als das
kleine Bündel, das mein Vater bei sich trug, als er in den 60er Jahren in Bastia
landete. Ja, ich benutze bewusst den Ausdruck ‚ich bin angekommen‘, nicht
‚geboren‘ - um denen zu gefallen, die mich weiterhin als Einwanderer der
zweiten Generation bezeichnen.
Sie haben richtig verstanden, ich bin...also ich stamme aus...oder besser: meine
Eltern sind... Es ist schwer, also überlasse ich es den anderen, mich
vorzustellen. Im Grunde habe ich gar keine Wahl.
Ihnen zufolge bin ich Araber...oh nein, Entschuldigung, zu abwertend...ich bin
Marokkaner und im Zweifelsfall, oder selbst ohne Zweifel, bin ich Maghrebiner
- mit einem Zittern in der Stimme. Aber scheinbar ist es besser maghrebinisch
zu zittern als arabisch zu wispern.
Für die einen bin ich wirklich zu muslimisch, für die anderen wirklich nicht
muslimisch genug, beim besten Willen nicht.
In Casablanca nennen sie mich den Franzosen.
In Paris bin ich der Korse.
Für fast alle bin ich mediterran...Uff!
Ich bin auch Berber, genauer gesagt Amazigh, und deshalb nicht arabisch.
Aber ich höre jetzt auf, denn es wird nun ein wenig zu kompliziert, für Sie und
für mich.“
Reportage 5: „Meine Idee von Korsika ist von einer intelligenten Öffnung
geprägt.“ – Was Zukunft auf Korsika bedeuten kann
Die Infrastruktur auf Korsika lässt zu wünschen übrig. Das liegt auch an der
zerklüfteten, gebirgigen Landschaft, ein Bergmassiv, dass die Insel in mehrere
Teile spaltet. Viele Straßen, die diese Teile miteinander verbinden, sind in
ziemlich schlechtem Zustand. Die Korsen machen dafür die französische
Regierung verantwortlich. Zunehmend aber auch die Misswirtschaft der alten
politischen Klasse mit ihren Clanstrukturen. Einige Hauptachsen sind zwar
inzwischen relativ gut ausgebaut, aber überlastet.
Ein traditionelles öffentliches Fortbewegungsmittel aber gibt es, das die ganze
Insel durchquert und Bastia im Norden mit Ajaccio im Süden verbindet: Einen
Schmalspurzug, der einmal quer durchs Gebirge fährt.
1959 wollte Paris den Bahnverkehr einstellen, er lohne sich nicht mehr. Wie zu
erwarten löste das heftige Proteste aus. Schließlich ist die Bahn für manche
Dörfer eine der wenigen Verbindungen mit der Außenwelt. Auch wenn sie zu
den langsamsten Bahnstrecken der Welt gehört…so bleibt immerhin Zeit für
Kontemplation.
Trinnighellu nennen die Korsen ihn liebevoll. Der Name ist ein korsisches
Wortspiel, eine Verbindung aus Zug und schütteln. Pünktlich um 8:12 setzt sich
die voll besetzte Schmalspurbahn in Bewegung.
Ghjacumu oder Jacques Fusina ist Schriftsteller und Mitbegründer des
Réaquistu – also der Bewegung, die seit den 70er Jahren eine Wiederbelebung
der korsischen Kultur vorangetrieben hat. Der heute 76jährige trägt ein
dunkelblaues Hemd. Er hat weißes schütteres Haar und einen grauen
Schnäuzer. Ghjacumu lächelt. Er erinnert sich gut an das Vorgängermodell des
Zuges:
„Dieses ist schon eine modernisierte Version. Er bewegt sich immer noch sehr
stark, aber man sitzt etwas bequemer und er ist etwas leiser, obwohl er immer
noch ziemlich viel Krach macht. Doch die Anzahl der Passagiere beweist, dass er
sehr beliebt ist.“
Die Fahrt von Bastia nach Ajaccio führt quer durch das gebirgige Herz Korsikas.
Rund 900 Höhenmeter werden dabei überwunden, mit einer Durchschnitts-
geschwindigkeit von 45 Stundenkilometern. Immer noch ziehe es die Korsen in
ihre Dörfer in den Bergen. Aber das Leben habe sich verändert.
„Der Korse von heute ist ein Zwitter. Man kann ihn nicht eindeutig definieren.
Wir sind zugleich Dörfler und Städter, Bergbewohner und Flachländer. Wir
haben etwas Archaisches in der Art und Weise, wie wir unser Leben begreifen,
aber auch etwas Modernes. Wir müssen uns neu definieren. Irgendwo
dazwischen, eine kombinierte Identität. Dabei spielt auch die Sprache eine
Rolle, denn sie ist Teil der Identität.“
Die Korsen verlangen seit 1989, Korsisch als zweite Amtssprache zuzulassen.
„Paris blockiert das. Die französische Verwaltung zeigt keinerlei Beweglichkeit
bei dem Thema. “
Die Regierung berufe sich dabei auf die Verfassung, aber Verfassungen könnten
auch angepasst werden, sagt Ghjacumu ernst. Der ehemalige Lehrer und
Professor für Korsisch redet sich in Rage. Er war es, der Anfang der 80er Jahre
damit beauftragt war, Korsisch als Wahlfach in den Schulen einzuführen.
Inzwischen gibt es sogar einige zweisprachige Schulen.
„Die offizielle Anerkennung des Korsischen bedeutet doch nicht gleichzeitig die
Zurückweisung
des
Französischen.
Es
geht
darum,
beide
Sprachen
gleichberechtigt zu behandeln. Das ist doch nicht die Welt!“
Der Trinnighellu hat die Ebene verlassen und schlängelt sich langsam bergauf.
Wir nähern uns Corte, der alten symbolträchtigen Hauptstadt des für nur 16
Jahre unabhängigen Korsikas.
Für Ghjacumu Fusina ist klar: Es ist die Angst vor zu viel Autonomie, die hinter
der Pariser Blockadehaltung steht. Weil sie zur Unabhängigkeit führen könnte.
„Jeder Korse ist in der Tiefe seiner Seele ein bisschen nationalistisch. Er fühlt sich
vor allem anderen als Korse. Es mag Ausnahmen geben, aber überwiegend gilt
dies, in der Stadt wie auf dem Dorf.“
In der Universitätsstadt Corte wechseln die Fahrgäste. Studenten steigen aus,
Touristen steigen zu. Die Berglandschaft wird nun immer zerklüfteter. Der Zug
windet sich unmittelbar an Felsen vorbei.
Dass die Regionalwahlen 2015 erstmals eine Koalition von Separatisten und
Autonomisten in die politische Verantwortung gebracht haben, hält der
Schriftsteller für einen Verdienst auch der korsischen Befreiungsfront und ihrer
Entscheidung, den bewaffneten Kampf einzustellen.
„Das war eine wohlerwogene Entscheidung, um die Lage zu beruhigen. Es war
aber auch eine klare Aufforderung an die französische Regierung. Sie besagt:
Seht her, wir machen einen Anfang. Wäre da nicht der Zeitpunkt gekommen,
sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen und zu diskutieren wie wohlerzogene
Leute?“
Ghjacumu blickt versonnen aus dem Fenster auf die grüne, hügelige Landschaft
mit den schroffen Felsen im Hintergrund.
„Mir scheint, als verstünde man in Paris die tiefe Bedeutung dieser Krise nicht.
Die Blockaden sind keine Vorboten einer besonders erfreulichen Zukunft. Ich
befürchte, die Lage könnte später wieder gewaltsam eskalieren.“
Eine hoffnungsvolle Zukunft könne nur in Verhandlungen mit neuen Ideen
liegen. Unabhängigkeit sei doch ein relativer Begriff, betont Ghjacumu. Im
Grunde handele es sich immer um gegenseitige Abhängigkeiten. Nichts sei
schwarz oder weiß. Deshalb stelle er sich das Korsika von morgen so vor:
„Nicht ein Korsika des letzten Mohikaners, der sich mit seinem Gewehr in der
Hand in seinem Dorf oder in den Bergen verschanzt, um es gegen die zu
verteidigen, die sich von außen nähern. Das ist lächerlich! Meine Idee vom
Korsika der Zukunft ist von einer intelligenten Öffnung geprägt. Zu sagen:
Kommt, wir werden euch beibringen, was es bedeutet Korse zu sein und wir
werden von euch lernen, welche Qualitäten ihr habt.“
Der Weg dorthin erscheint noch weit. Der Zug hingegen nähert sich seinem
Ziel: Ajaccio. Gut durchgerüttelt ist es nun Zeit, den Trinnighellu zu verlassen.
Abmoderation
„Recht statt Gewalt – Korsika strebt nach mehr Eigenständigkeit.“ Das waren
„Gesichter Europas“ mit Reportagen von Birgit Kaspar.
Die Literatur entnahmen wir Prosper Mérimées Novelle „Colomba“ aus dem
Jahr 1840, das Gedicht „Muvra corsa“ stammt von Ghjacumu Fusina und der
letzte Literaturauszug aus der Feder von Mounir Ghazali.
Musik und Regie: Babette Michel.
Ton und Technik: Michael Morawietz und Thomas Widdig
Am Mikrofon war Anne Raith.