Körperfremder Gewebsersatz in der Rekonstruktion

Körperfremder Gewebsersatz in der Rekonstruktion
Erkennbar an der Tatsache, dass schon seit vielen Jahren an der Anwendung alloplastischer
Verfahren gearbeitet wird, ist, dass mit den autologen Rekonstruktionen im Bereich des
Beckenbodens oft keine dauerhaften Erfolge erzielt werden konnten. Wahren et al.
publizierten z.B. 1988 Ergebnisse von 125 nachuntersuchten Patientinnen nach vorderer
Levatorplastik. In der Schlussfolgerung schreiben die Autoren: „Aufgrund vorliegender
Ergebnisse und anatomischer Überlegungen wird der Schluß gezogen, dass die vordere
Levatorplastik als Routinemethode zur Behandlung von Senkungszuständen abzulehnen ist.“
Der mediane Defekt unter der Blase, der sich als Pulsionszystozele mit verstrichenen Rugae
und erhaltenen lateralen Scheidensulci darstellt, muss deszensuschirurgisch anders behandelt
werden als der laterale Defekt, der mit einer Traktionszystocele einhergeht. Hier sind die sulci
laterales verstrichen und die Rugae bei der nicht voroperierten Patientin erhalten.
Die Rekonstruktion im Bereich des Spatium rectovaginale mit der defekten Faszie und dem
ohnehin kaum vorhandenen Bindegewebe wirft gleiche Probleme auf. Die Levatorplastik, wie
sie von Lahodny hinsichtlich der Durchführung empfohlen wird, führt, überschreitet man eine
gewisse Tiefe, unweigerlich zu Schmerzen, nicht nur bei der Kohabitation. Zudem kommt es
infolge der Muskeldeviation und Skarifizierung zu einer functio laesa in diesem Bereich. Die
Raffung des subvesikalen Bindegewebes aus dem Spatium vesicovaginale unter der Blase hat
seine Berechtigung nur im Falle des Vorliegens einer Pulsionszystocele (sog. midline-defect).
Hier kommt es an den Seiten zu einer Zugbelastung des Gewebes. Das Rezidiv äußert sich
nach vorderen Kolporrhaphien in der Regel als Traktionszystocele (lateral defect) (De
Lancey).
Alloplastische Materialien
Seit dem Beginn der 60er Jahre finden sich in der gynäkologischen Literatur Beiträge, die
sich mit den Ergebnissen alloplastischer Rekonstruktionsmethoden bei Inkontinenz und
Deszensus befassen (Übersicht bei Iglesia et al. 1997). Neben Polypropylen (Prolene®,
Marlex®) fanden und finden Polytetrafluorethylen (Teflon® und Gore-Tex®), Polyethylen
(Mersilene®), Polyglycolsäure (Dexon®) und Polyglaktin 910 (Vicryl®) sowie Kombinationen
(Vypro®) Anwendung. Sie unterscheiden sich vor allem im Hinblick auf das
Resorptionsverhalten, die Faserstruktur und die Porenstruktur (Tabelle 5a).
Amid publizierte 1997 eine Klassifikation von Netzimplantaten, die das Infektionsrisiko
anhand seiner Eigenschaften Porengröße und Fadenform abschätzen lässt (s. Tab. 5b). Bei
Typ I ist es am geringsten, bei Typ II am größten. Bei den beiden anderen hängt das
Infektionsrisiko u.a. davon ab, ob sich der Infektionsherd im Bereich des mikro- oder
makroporösen Anteils befindet. Auch der Applikationsweg (vaginal oder abdominal) scheint
eine gewisse Rolle zu spielen, v.a. bei den Implantaten des Typs II — IV. Bedeutsam
erscheinen auch die Zusatzeingriffe (z.B. simultane Hysterektomie).
Die Reduktion der Rezidivrate, der Hernienbildung im Bereich der Entnahmestellen von
Schlingenmaterial und eine Vereinfachung des Eingriffs (keine Entnahme von Donorgewebe)
sind wesentliche Vorteile. Anerkannte Einsatzgebiete alloplastischer
Rekonstruktionsverfahren sind die abdominale Sakrokolpopexie und die suburethrale
Schlinge. Bei der Wahl des Materials und der Porengröße ist die Amid-Klassifikation zu
beachten (Poren unter 10 μm lassen kleine Bakterien passieren, während Makrophagen und
polymorphkernige Leukozyten hier nicht penetrieren können). Ferner ist die Porengröße
korreliert mit der Gewebsbindung des Implantats. Weder Teflon noch Goretex wachsen in
ihre Umgebung gut ein, Biomesh tut es nur, wenn es streng einlagig implantiert wird. Auch
korreliert die Rigidität des Materials mit der Gesamtrate an Implantatverlusten und der
Bildung von „Fisteln“ (= Umscheidung des Gewebes mit Verbindung zur Oberfläche).
Tabelle 1a: Implantate
Chemische
Komponente
Typ
resorbierbar?
Poren
Polypropylen
(Marlex, Prolene)
monofilamentär
nein
irregulär (Marlex)
polygonal (Prolene)
Polypropylen
(Surgipro, IVS)
multifilamentär
nein
mikroporös irregulär
Polytetrafluorethylen
(Teflon)
multifilamentär
nein
zirkulär
ePTFE
(Gore-Tex)
multifilamentär
nein
Fasern und Knoten
Polyethylen
(Mersilene)
multifilamentär
nein
hexagonal
Polyglykolsäure
(Dexon)
multifilamentär
ja
polygonal
Polyglaktin 910
(Vicryl)
multifilamentär
ja
polygonal
Polypropylen
(Biomesh, Cousin, F)
multifilamentär gevliest
thermogepresst
nein
irregulär
Porcine Kollagenimplantate (Pelvicol)
Dermale Kollagenpräparation
nein
irregulär
Tabelle 1b: Die Amid-Klassifikation
AMID-Klasse
Typ I
Typ II
Typ III
Typ IV
Porengröße/Fadenform
makroporös (> 75µm)
monofil
mikroporös (< 10µm)
multifil
makroporös mit
mikroporösem oder
multifilamentem Kompartiment
submikroporös
Kombination mit III
Produktbeispiele
TVT, Seraprenband, Monarc,
SerATOM, Gynemesh PS
PTFE (Goretex)
IVS
Mersilene,
Surgipro,
L.I.F.T.
Silastic
Silikonisiertes Polyester-Mesh
Multifiles
gevliestes Polypropylen
Seitens der Wahl des Materials für die alloplastische Deszensuschirurgie schien nach den von
Flood 1998 publizierten Langzeitergebnissen mit Polypropylenimplantaten subvesikal (12
Jahre) und den Erfahrungen von Hardiman 1998 Polypropylen das Material der Wahl (Abb.
1a) zu sein.
Aufgrund der Neigung zu Erosionen v.a. im Bereich des Perineums (Abb. 1b) und aufgrund
von Wundheilungsstörungen im Bereich der Kolpotomienaht sowie nach dem Bericht von
Klinge (1999) zum Einfluss einer Polyglaktin-Ummantelung des Prolene schien zunächst die
Anwendung eines Vicryl-Prolene-Komposit (Vypro®, Fa. Ethicon) vorteilhaft und geboten
(Abb. 1c). Prolenekerne sind stabil und hochelastisch, mit praktisch fehlender Allergenität.
Das Material hat sich z.B. in der Klappenchirurgie sehr bewährt. Selbst bei Infektionen bleibt
es inert. Prolene wirkt als Matrix für das Durchwachsen des Bindegewebes, der
Polyglaktinmantel führt im Tierversuch eher zur Ummantelung des Implantates, die
Durchwanderung ist weniger intensiv. Im Gewebe führt es über eine entzündliche
Umgebungsreaktion zu dieser Bindegewebsreaktion. Das Narbengewebe, durch Prolene
induziert, soll hinsichtlich der Qualität des Kollagens bessere Bio-Eigenschaften haben (Abb.
1d).
Die Induration und unvorhersehbare Schrumpfung der Vicryl-Prolene-Kombinate bei der
urogynäkologischen vaginalen Anwendung mit den daraus resultierenden Konsequenzen
(Dyspareunie und „Frührezidiv“) zeigte deutlich den Weg, der beschritten werden musste: ein
Polypropylene-Implantat, dessen Schrupfungsrate im Gewebe minimal ist (< 10%).
Zunächst schien das durch thermische Einflüsse aus Polypropylenfasern gevlieste Implantat
(z.B. Biomesh, Fa. Cousin, F) (Abb. 1e). einen Lösungsansatz zu bieten, wie es von den
suburethralen Bändern her als Material bereits im Einsatz war (Uratape®, Porgès,
Frankreich). Es zeigte sich in der Daueranwendungsbeobachtung aber, dass Patientinnen, bei
denen es zu einer „Plikatur“ (Faltenbildung) gekommen war, zu erosiven Veränderungen
neigen. Das zur Klasse III nach Amid gehörige Produkt verhält sich dann wie ein Klasse-IIImplantat. Die Dichte zur Durchbauung ist in solchen Fällen offensichtlich zu groß.
Auch die Webart hat einen Einfluss auf Stabilität und Gewebsverträglichkeit [z.B. Surgipro
(Tyco), Serapren-Mesh, (Abb. 1f) und SerATOM (Serag-Wiessner, D) sowie Gynemesh PS
(Ethicon)].
Insgesamt ist nach den Daten der Literatur in ca. 10% der Fälle mit Erosionen über dem
Implantat zu rechnen bei einer Verlustrate von 2,7% im Verlauf von fast 600 Eingriffen mit
unterschiedlichen Materialien (vgl. Iglesia 1997) sowie eigenen Daten aus 600
Implantationen. Über diese Fakten wird die Patientin aufgeklärt.
Jacquetin et al. veröffentlichten 2004 (IUGA-Tagung, Paris) sogar Daten über 16,7%
Erosionen unter Verwendung von konfektionierten Implantaten, die Gynemesh PS als Basis
verwenden. Diese hohe Rate an Erosionen wird in Verbindung gebracht mit gleichzeitig
durchgeführten Hysterektomien bei Sanierung von komplexen Senkungszuständen.
Interessanterweise ist bei vergleichbaren Eingriffen unter Verwendung eines
kollagenbeschichteten Polypropylennetzes die Erosionsrate fast 10% niedriger. Dies leitet
über zur Frage nach der Verwendung xenogener Materialien.
Die Gründe für die Anwendung alloplastischer Verfahren sind u.a. folgende
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Netzinterponate bei Hernien minimieren Rezidivrate deutlich.
die spannungsfreie Operationstechnik mindert postoperative Beschwerden (Schmerzen,
Störung von Miktion/Defäkation).
die posteriore Levatorinterposition nach Lahodny ist nur bis zu einer bestimmten Höhe
möglich (Stenose/Schmerzen/Kohabitation).
monofilamente, makroporöse Polypropylenimplantate und xenogenes Material sind im
gynäkologischen Bereich gut verträglich.

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autologe Interpositionslappen (sog. Brückenplastiken nach Petros) bringen ohne
Alteration der Anatomie keine gute Stabilität, deformieren die Scheide (Länge!) und
rezidivieren zum Teil früh.
Nicht-spannungsfreie Techniken bergen ein hohes Risiko der anatomischen Deformierung
des Beckenbodens mit resultierender Funktionsstörung, Dyspareunie und Schmerzen.
Spannungsfreie, der funktionellen Anatomie angepasste Techniken bringen auch in der
Inkontinenzchirurgie den besten Effekt.
Abb. 1a: Polypropylenmesh
Abb. 1c: Vypro®-Mesh
Abb. 1e: Polypropylenthermopressat Biomesh®
(Cousin, Frankreich)
Abb. 1b: Erosion von Gynemesh® und Explantat
Abb. 1d: Polypropylenmesh unter dem Mikroskop
Abb. 1f: Serapren®-Mesh, Fa. Serag-Wiessner, Naila,
Deutschland
nach: Armin Fischer: Praktische Urogynäkologie – spannungsfrei; Verlag Haag & Herchen,
Frankfurt 2006; ISBN 3-89846-371-0