Einführung in die Partiellen Differentialgleichungen 195 Beispiel 11.6 Die partielle DGL für das Strömungspotential u = u(x, y) einer stationären, rotations- und reibungsfreien (usw.) Strömung eines idealen Gases lautet (in 2 Dimensionen): uxx + uyy − 1 (u2 uxx + 2ux uy uxy + u2y uyy ) = 0 C2 x mit C = C(ux , uy ) ↑ lokale Schallgeschwindigkeit (C ferner von der speziellen physikalischen Situation abhängig, zum Beispiel von den spezifischen Wärmen des Gases.) Die Gleichung ist elliptisch hyperbolisch ⇐⇒ ⇐⇒ C>q C<q (Unterschallgereich) (Überschallbereich) wobei q = (u2x + u2y )1/2 der Betrag der Strömungsgeschwindigkeit ist. Das unterschiedliche Verhalten der Lösungen im elliptischen bzw. hyperbolischen Bereich ist akustisch wahrnehmbar: Überschallknall. Obige Gleichung ist ein besonders simpler Spezialfall der allgemeinen Navier–Stokes-Gleichungen der Strömungsmechanik. Im inkompressiblen Fall (Flüssigkeiten) entfällt der nichtlineare Anteil. Die Gleichung lautet dann (unter geeigneten Annahmen) nur uxx + uyy = 0 (Laplace-Gleichung). 4 11.3 Sachgemäß gestellte Aufgaben, Satz von CauchyKowalewski, Beispiele für AWA, ARWA, RWA 11.3.1 Sprachgebrauch (keine präzise Definition) Betrachte Differentialgleichung wie in (11.1): auxx + 2buxy + cuyy = r(. . .) auf Ω mit einer zugehörigen Anfangsbedingung auf der Anfangskurve Γ: Γ; u; ux , uy mit Streifenbedingung. Einführung in die Partiellen Differentialgleichungen 196 Eine solche Aufgabe wird sachgemäß“ ( well-posed“) genannt, wenn ” ” (1) eine (klassische) Lösung existiert, (2) diese lokal eindeutig bestimmt ist (global viel schwieriger) und (3) stetig von den Daten“ (das heißt von r und den Anfangsdaten) abhängt. ” Die Bedeutung dieser Bedingungen (bei Beschreibung eines physikalischen Sachverhaltes) ist: (1) : widerspruchsfreie Beschreibung, (2) : vollständige Beschreibung, (3) : Stabilität des Systems. Heute werden auch nichtsachgemäße ( ill-posed“) Aufgaben untersucht, da” bei verzichtet man insbesondere auf (3). (3) ist z. B. bei Bifurkationsaufgaben (Klimasimulationen, Crashtests) i. a. nicht erfüllt. Bemerkung 11.8 Nach Abschnitt 11.2 ist die Sachgemäßheit nicht gewährleistet, wenn obige AWA auf einer Charakteristik aufgestellt wird, bzw. die Anfangskurve stellenweise charakteristisch ist, dort sind (1) oder (2) verletzt. In diesem Fall sind Zusatzbedingungen erforderlich bzw. andere Aufgabenstellungen, siehe unten. Ist die Sachgemäßheit im nichtcharakteristischen Fall gewährleistet? Antwort: Im hyperbolischen Fall ja; im elliptischen Fall nein! Beispiel 11.7 Wir betrachten das Beispiel uxx + uyy = 0. Es gilt: (1) u Lösung ⇒ u analytisch (also insbesondere ∈ C∞ ) (hier kein Beweis). Also kann die AWA nur lösbar sein, wenn auch die Anfangsbedingungen analytisch sind, das heißt die Existenz ist nur unter speziellen Bedingungen gewährleistet. (2) Das Hauptproblem bei elliptischen DGLs ist aber, daß die stetige Abhängigkeit verletzt ist (Hadamardsches Beispiel): Einführung in die Partiellen Differentialgleichungen 197 Differentialgleichung: uxx + uyy = 0 Anfangsbedingungen: Γ : x-Achse (0) : u(x, 0) ≡ 0(⇒ ux (x, 0) ≡ 0), uy (x, 0) ≡ 0 Gestörte Aufgabe“: ” (ε) : uε : uε (x, 0) ≡ 0, uεy (x, 0) = ε sin x ε (Die Streifenbedingung ist trivialerweise erfüllt: uy ist die Normalenableitung.) Lösung: (0) : ϕ(x, y)) ≡ 0 y x sinh (ε) : ϕε (x, y) = ε2 sin ε ε ε Daß ϕ Lösung der gestörten AWA ist, kann man nachrechnen. Die Eindeutigkeit folgt aus dem Satz von Cauchy-Kowalewsky (s.u.). Für ε → 0 gilt uε ≡ 0 für Anfangsbedingungen uεy → uy 1 aber ϕε divergiert wie ε2 e ε . 4 11.3.2 Allgemeine Aussage Vergleiche Überlegung in Abschnitt 11.2.4 in IR1 : Analytische Daten“ =⇒ analytische Lösung, lokale Existenz und Eindeu” tigkeit. Entsprechende Aussage im IRN (IR2 ): Satz von Cauchy-Kowaleski (für Aufgabenstellung wie am Anfang von Abschnitt 11.3.1): Aussage (qualitativ): Für eine derartige Aufgabenstellung seien die Da” ten“ (r; Γ, Anfangsbedingungen) hinreichend glatt“, (x0 , y0 ) ∈ Γ ⊂ Ω0 . ” Dann gilt: Falls Γ in (x0 , y0 ) nicht charakteristisch ist, dann ist die AWA lokal eindeutig lösbar. Bemerkung 11.9 (1) Lokal heißt: Es existiert eine Umgebung U von (x0 , y0 ), so daß auf U ∩Ω0 die Differentialgleichung und auf U ∩Γ die Anfangsbedingungen erfüllt sind. Einführung in die Partiellen Differentialgleichungen 198 (2) Die Voraussetzung Daten hinreichend glatt“ hat für die verschiedenen ” Typen von Differentialgleichungen unterschiedliche Bedeutung; zum Beispiel: Im hyperbolischen Fall: Daten“ ∈ C3 (auch schwächere Vorausset” zungen möglich) Im elliptischen Fall: Im allgemeinen: Daten“ analytisch ” (3) Die Aussage besagt nichts über die Forderung (3) in 11.3.1 (stetige Abhängigkeit von den Ausgangsdaten). Bezeichnung: Eine nicht charakteristische AWA heißt Cauchysche AWA. 11.3.3 Satz von Cauchy-Kowalewski (Spezialfall AW-Kurve parallel zu x-Achse) Satz 11.1 Gegeben sei die Differentialgleichung uyy = φ(x, y; u; ux , uy ; uxx , uxy ) mit Anfangsbedingungen u(x, y0 ) ≡ u0 (x) uy (x, y0 ) ≡ u1 (x) . e von u0 , u1 seien in einer Umgebung U von x0 analytisch, φ sei in einer Umgebung U (x0 , y0 ; u0 (x0 ); u00 (x0 ), u1 (x0 ); u000 (x0 ), u01 (x0 )) analytisch (bezüglich sämtlicher Komponenten). Dann besitzt die AWA in U eine eindeutig bestimmte analytische Lösung. Bemerkung 11.10 Dieser Satz setzt eine spezielle Cauchysche AWA voraus: Die Anfangskurve ist eine Parallele zur x-Achse (durch y0 ), die Anfangswerte sind u und uy . Hierbei ist uy gerade die Normalableitung, die Streifenbedingung ist also erfüllt. Falls die Situation wie zu Beginn des Abschnitts 11.3.1 gegeben ist (mit analytischen Daten), dann läßt sich Γ mittels einer Koordinatentransformation (x, y) 7−→ (ξ, η) (x0 , y0 ) 7−→ (ξ0 , η0 ) lokal (in einer Umgebung von (ξ0 , η0 )) in die ξ-Achse transformieren mit Einführung in die Partiellen Differentialgleichungen 199 dem Übergang u − 7 → u e , φ − 7 → φe . Der Koeffizient von u eyy in der transformierten Differentialgleichung verschwindet genau dann (bei (ξ0 , η0 )), falls Γ in (x0 , y0 ) charakteristisch ist. Die Differentialgleichung kann also (nur) in die im Satz von CauchyKowaleski benötigte Gestalt transformiert werden (Auflösung nach uyy ), falls Γ in (x0 , y0 ) nicht charakteristisch ist. Beispiel 11.8 (Trivialer Fall) auxx + 2buxy + cuyy = r Γ : x-Achse Falls c = 1 (bzw. c 6= 0), ist Γ an keiner Stelle charakteristisch: Γ : x(t) ≡ t, y(t) ≡ 0 · · ⇒ x(t) = 1, y (t) = 0 · · · · · ⇒ ∆(t) = a y 2 (t) − 2bx(t)y (t) + x2 (t) ≡ x2 (t) ≡ 1 6= 0. 4 Zum Beweis des Satzes von Cauchy-Kowalewski (hier nur Beweisidee; Details siehe Courant-Hilbert II, Seite 39-44): Durch die Anfangsbedingungen und die Differentialgleichung in (x0 , y0 ) sind wegen der Analytizität der Daten alle Ableitungen von u festgelegt: (i) (ii) (iii) (vi) u = u0 uy = u1 Differentialgleichung (Differentialgleichung)y =⇒ =⇒ =⇒ =⇒ u, ux , uxx , . . . uy , uyx , uyxx , . . . uyy , uyyx , uyyxx , . . . uyyy , uyyyx , . . . (in (x0 , y0 )) usw. Die Eindeutigkeit folgt, weil die Lösung analytisch ist. Existenzbeweis: Potenzreihenentwicklung für u0 , u1 und φ liefert die Taylorkoeffizienten der Lösung u durch Koeffizientenvergleich. Die Hauptschwierigkeit hierbei ist der Konvergenzbeweis (Majorantenmethode). 2 Bemerkung 11.11 Der Satz ist verallgemeinerungsfähig auf den Fall von N > 2 Koordinaten sowie für Systeme. Oben wurde die Transformation auf Cauchy-Kowalewski-Form angedeutet. Praktisch wichtiger (im Falle N = 2) ist jedoch die Transformation auf Normalform. Einführung in die Partiellen Differentialgleichungen 11.3.4 200 Normalformen Wir unterscheiden die folgenden Normalformen: Elliptische Differentialgleichungen: Hyperbolische Differentialgleichungen: Parabolische Differentialgleichungen: uxx + uyy (i) uxy (ii) uxx − uyy uxx = r(x, y; u; ux , uy ), = r( ... ), = r( ... ), = r( ... ). Jede Differentialgleichung 2. Ordnung in IR2 mit linearem Hauptteil Hu(x, y) kann lokal auf Normalform transformiert werden (Präzisierung und Beweis siehe zum Beispiel Hellwig, Seite 58ff, oder Leis). 11.3.5 Hyperbolischer Fall Hu(x, y) = auxx + 2buxy + cuyy sei in (x0 , y0 ) hyperbolisch. Dann verlaufen durch (x0 , y0 ) zwei charakteristische Kurven. Diese (bzw. die zugehörigen Kurvenscharen) können zur Definition eines lokalen Koordinationssystems benutzt werden ( Charakteristische Koordinaten“). Bei Transformation auf ” charakteristische Koordinaten geht die Differentialgleichung in die Normalform (i) über. 11.3.6 Allgemeine (lokale) Koordinatentransformation im IR2 (ξ, η) ↔ (x, y) ξ = ϕ(x, y), η = ψ(x, y) x = φ(ξ, η), y = χ(ξ, η) ϕ, ψ, φ, χ ∈ C2 ϕ, ψ lokale C2 -Diffeomorphismen, insbesondere det ϕx ψx ϕy ψy = ϕx ψy − ϕy ψx 6= 0 eu H e = re ↔ Hu = r e e Hu e=e au eξξ + 2be uξη + e cu eηη Bestimmung von e a, eb, e c: ux = u eξ ϕx uxx = u eξξ ϕ2x + u eηξ ψx ϕx = u eξξ ϕ2x + + + + u eη ψx u eξη ϕx ψx + u eξ ϕxx u eηη ψx2 + u eη ψxx 2e uξη ϕx ψx + u eηη ψx2 + niedrigere Abl. von u e Einführung in die Partiellen Differentialgleichungen 201 Entsprechend: uy = . . . , uxy = . . . , uyy = . . . , ⇒ = aϕ2x + 2bϕx ϕy + cϕ2y = aϕx ψx + bϕx ψy + bψx ϕy + cϕy ψy = aψx2 + 2bψx ψy + cψy2 | {z } e a eb e c ↑ (ξ, η) (x,y)=(φ(ξ,η),χ(ξ,η)) Hyperbolische Normalform (i) : e a=e c≡0 ⇒ ϕ : aϕ2x + 2bϕx ϕy + cϕ2y ≡ 0 (∗) ∧ ψ : aψx2 + 2bψx ψy + cψy2 ≡ 0 (∗∗) Diese Gleichungen können als Bestimmungsgleichungen für ϕ und ψ aufgefaßt werden. (Partielle Differentialgleichungen 1. Ordnung!) Sie liefern die beiden Charakteristikenscharen {(x, y) | ϕ(x, y) = ξ} {(x, y) | ψ(x, y) = η} mit den Scharparametern ξ und η. (Beachte: (∗), (∗∗) ist dieselbe Gleichung. Für b2 − ac > 0 ergeben sich zwei Kurvenscharen, da die Gleichung quadratisch“ ist.) ” Hier kein detaillierter Beweis, nur Hinweis auf formalen Zusammenhang: Sei (x(t), y(t)) charakteristische Kurve, d.h. ∆ ≡ aẏ 2 − 2bẋẏ + cẋ2 ≡ 0, beschrieben durch ϕ(x, y) = ξ, ϕ(x(t), y(t)) = ξ ⇒ ϕx ẋ + ϕy ẏ = 0 Im Falle ẋ 6= 0 : ϕx = −ϕy ẋẏ Die Gleichung (∗) lautet dann aϕ2y ϕ2y ẏ 2 2 ẏ 2 − 2bϕ + cϕ = ·∆≡0 . y y ẋ2 ẋ ẋ2 Speziell gilt im Falle x(t) = t, y(t) = f (t) (also y = f (x)) ϕ : ϕ(x, y) = y − f (x) = 0 : ẋ ≡ 1, ϕy ≡ 1, ϕx = −f 0 . Daraus folgt (vgl. (∗)) ay 02 − 2by 0 + c = ∆ = 0 . Einführung in die Partiellen Differentialgleichungen 11.3.7 202 Einige Beispiele für sachgemäße Aufgaben Im hyperbolischen Fall für die Wellengleichung uxx − uyy = 0: • Nichtcharakteristische (Cauchysche) AWA: (I) u, un Γ: Kurve ∼“ in der obigen Skizze, ” Vorgabe: u, un auf der nicht charakteristischen Anfangskurve Γ. • Charakteristische AWA: (II) u Γ: Charakteristikenstücke ∨“ (d.h. die beiden unteren Teile des Ran” des des schraffierten Gebiets in der Skizze). Vorgabe: u auf Γ. • Goursatsche AWA: Einführung in die Partiellen Differentialgleichungen 203 (III) u Γ: Kurve ∼“ und Charakteristikenstück \“. ” ” Vorgabe: u auf Γ. • ARWA: u u (II) (III) (III) (I) (I) u, un Γ: die beiden Ränder des Streifens und das zwischen diesen Rändern liegende Stück der x-Achse. Vorgabe: u auf den Rändern des Streifens, u und un auf dem zwischen den Rändern liegenden Achsenstück. Die ARWA ist in der Reihenfolge I, III, II nacheinander lösbar usw. I. Cauchysche AWA II. Charakteristische AWA III. Goursatsche AWA Einführung in die Partiellen Differentialgleichungen 204 Physikalisch wird durch diese ARWA z.B. eine schwingende Saite bei vorgegebener Anfangsauslenkung modelliert, die an den Rändern fest eingespannt ist (Auslenkung ist an den Rändern also immer Null). • Beispiel einer simplen nichtsachgemäßen hyperbolischen RWA: u Γ = 3“ (der Rand des quadratischen Gebietes) ” Vorgabe: u Die Lösung ist bereits durch Vorgabe von u z.B. auf ∨“ eindeutig ” festgelegt. Randwertaufgaben sind bei hyperbolischen DGLs i.a. nicht sinnvoll. Im parabolischen Fall: uy = uxx • (Charakteristische) AWA: u Γ : x-Achse Vorgabe: u Γ ist charakteristisch, deshalb wird hier nur u vorgegeben. Beachte: Diese AWA ist im negativen Halbraum nicht sachgemäß gestellt. Dort liegt keine stetige Abhängigkeit der Lösung von den Daten mehr vor. Die positive Zeitrichtung ist also ausgezeichnet. Einführung in die Partiellen Differentialgleichungen 205 • ARWA: u u u Im elliptischen Fall: • RWA: Ω u uxx + uyy = 0 (Ω), u = γ(x, y) auf Γ = ∂Ω. 11.4 Bemerkungen über hyperbolische Differentialgleichungen 2. Ordnung, insbesondere Wellengleichung; Separationsansatz für Anfangsrandwertaufgaben Die Charakteristiken sind von erheblicher Bedeutung für das Lösungsverhalten von hyperbolischen PDEs. Wir diskutieren dies hier an Hand der sogenannten d’Alambertschen Formel.
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