Die Harfner-Gesänge von F. Schubert, R. Schumann und H. Wolf

Tobias Neubauer
1373090
Die Harfner-Gesänge von F.
Schubert, R. Schumann und H. Wolf
Schriftlicher Teil der künstlerischen Masterarbeit in der
Studienrichtung Klavier-Vokalbegleitung (V 066 715)
Betreuung durch:
Univ.Prof. Julius Drake
Ao.Univ.Prof. Mag.phil. Dr.phil. Harald Haslmayr
Inhalt
Vorwort ........................................................................................................................ 3
Zur Entstehung von „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ ...................................................... 4
Zu den Texten ............................................................................................................. 5
Die Gedichte................................................................................................................ 5
Schuberts Vertonungen ............................................................................................... 7
Schumanns Vertonungen ............................................................................................ 9
Wolfs Vertonungen .................................................................................................... 11
Vorwort
Im Zuge meines Studiums sowie während der Vorbereitung auf Wettbewerbe
und Konzerte beschäftigte ich mich immer wieder mit Vertonungen von Texten
Johann Wolfgang von Goethes. Dabei stieß ich natürlich auch auf Wilhelm
Meister und Franz Schuberts, Robert Schumanns und Hugo Wolfs intensive
Auseinandersetzung mit ebendiesem Roman, die durch zahlreiche Lieder für
die Nachwelt dokumentiert blieb. Neben diversen anderen Texten vertonten sie
alle auch drei Gedichte des Harfners: Wer sich der Einsamkeit ergibt, Wer nie
sein Brot mit Tränen aß und An die Türen will ich schleichen. Von allen drei
Interpretationen dieser Texte war ich zutiefst beeindruckt und beschloss daher
mich ihnen in der vorliegenden Arbeit zu widmen.
Nach einem kurzen Überblick zur Entstehungsgeschichte des Wilhelm Meister
sowie Informationen zu den drei Texten bildet die musikalische Analyse der
Lieder den Hauptteil des schriftlichen Teils meiner künstlerischen Masterarbeit.
Sie soll einen Vergleich der musikalischen Annäherung der Komponisten an die
Person des Harfners ermöglichen und Unterschiede und Gemeinsamkeiten in
den Liedern erkennbar werden lassen.
Zur Entstehung von „Wilhelm Meisters Lehrjahre“
Durch Tagebucheintragungen und Briefe lässt sich belegen, dass Johann
Wolfgang von Goethe seine Arbeit an Wilhelm Meister im Jahr 1777 beginnt. So
schreibt er beispielsweise im Oktober dieses Jahres an Charlotte von Stein:
„Gestern Abend hab‘ ich einen Salto mortale über drei fatale Kapitel meines
Romans gemacht, vor denen ich schon so lange scheue; nun da die hinter mir
liegen, hoff‘ ich den ersten Teil bald ganz zu produzieren.“ Im Januar des
folgenden Jahres stellt Goethe das erste Buch des Theaterromans fertig. Es
sollten einige Jahre vergehen, ehe im August beziehungsweise im November
1782 das zweite und dritte Buch zur Vollendung gebracht werden und auch
erstmals in einem Brief des Autors der Titel Wilhelm Meisters theatralische
Sendung erwähnt wird (Bahr, 2000, S. 252ff).
Nachdem er zwischen November 1783 und November 1785 die Bücher vier bis
sechs zur Fertigstellung brachte, ließ Goethe seine Arbeit am Wilhelm Meister
abermals für einige Jahre ruhen. Nach seiner Italienreise und der Arbeit an
anderen Werken und seinen naturwissenschaftlichen Untersuchungen finden
sich in einem Notizbuch aus dem Jahr 1793 Eintragungen zur Umstrukturierung
seines Romans. Im Mai 1794 unterzeichnet Goethe einen Vertrag mit seinem
Berliner Verleger und arbeitet daraufhin bis Februar 1795 die sechs Bücher der
Theatralischen Sendung zu den ersten vier Büchern der Lehrjahre um. Aus
dem bereits vorhandenen Entwurf des siebenten Buches des Ur-Meisters
werden die Bücher fünf und sechs, bevor im Januar und Juni 1796 das siebte
sowie das achte und letzte Buch vollendet werden (ebenda).
Hervorzuheben ist Friedrich Schillers Mitwirkung an der Entstehung des
Romans. Mit Ausnahme des ersten schickte Goethe alle Bücher vor dem
Abdruck an Schiller. In einem Brief vom 9. 7. 1796 schreibt Goethe an Schiller:
„Indem ich Ihnen, auf einem besondern Blatt, die einzelnen Stellen verzeichne,
die ich, nach Ihren Bemerkungen, zu ändern und supplieren gedenke, so habe
ich Ihnen für Ihren heutigen Brief den höchsten Dank zu sagen, indem Sie mich,
durch die in demselben enthaltnen Erinnerungen, nötigen auf die eigentliche
Vollendung des Ganzen aufmerksam zu sein.“ (Bahr, 2000, S. 284).
Zu den Texten
Zwei der drei Gedichte des Harfners erscheinen bereits in Johann Wolfgang
von Goethes Urfassung des Wilhelm Meister, der Theatralischen Sendung.
Sowohl Wer nie sein Brot mit Tränen aß als auch Wer sich der Einsamkeit
ergibt sind im Kapitel 13 des 4. Buch zu finden. Somit lassen sich diese Texte
auf die Zeit um den November 1783 datieren. Im 1795/96 erschienen Roman
Wilhelm Meisters Lehrjahre tauchen beide Gedichte dann im 13. Kapitel des
zweiten Buchs auf. Im 14. Kapitel des fünften Buchs stößt man dann auch
erstmalig auf An die Türen will ich schleichen (Dürr et al., 2013, S. 376ff).
Außerdem findet man ab dem Jahr 1815 die Harfner-Gedichte gemeinsam mit
Liedern Mignons und dem der Philine in der Gesamtausgabe der Cotta’schen
Verlagsbuchhandlung in dem Abschnitt Aus Wilhelm Meister (ebenda).
Die Gedichte
Bezüglich der Stellung der Harfner-Gedichte in den Lehrjahren äußert sich
Kreutzer wie folgt: „In die Romanhandlung sind die drei Gesänge quasi linear
eingestellt und können als verdichtende Heraushebung einzelner Momente
angesehen werden, die in erster Linie auf die Geschichte Wilhelms verweisen.“
(Dürr et al., 2013, S. 377)
Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte!
Ihr führt ins Leben uns hinein,
Ihr lasst den Armen schuldig werden,
Dann überlasst ihr ihn der Pein;
Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.
Sowohl die vergleichsweise simple Wortwahl, als auch der schnörkellose Satzund Versbau verdeutlichen in diesem Gedicht meiner Meinung nach die
verborgene, tief empfunden Schuld des Harfners und seinen Zorn über die
Ungerechtigkeit der „himmlischen Mächte“.
Wer sich der Einsamkeit ergibt,
Ach! Der ist bald allein,
Ein jeder lebt, ein jeder liebt
Und lässt ihn seiner Pein.
Ja, lasst mich meiner Qual!
Und kann ich nur einmal
Recht einsam sein,
Dann bin ich nicht allein.
Es schleicht ein Liebender lauschend sacht,
Ob seine Freundin allein?
So überschleicht bei Tag und Nacht
Mich Einsamen die Pein,
Mich Einsamen die Qual.
Ach werd' ich erst einmal
Einsam im Grabe sein,
Da lässt sie mich allein!
Das Gefühl der Einsamkeit ist Thema dieses Gedichts und wird soweit
gesteigert bis am Ende einzig der Tod Erlösung bringen kann. Erst im Grab
kann endlich die Ruhe von der Pein und Qual gefunden werden (ebenda).
Eine Verdeutlichung der Unausweichlichkeit erreicht Goethe durch die oftmalige
Wiederholung der Reimwörter, durch die ein enger Zusammenhang der drei
Strophen erzeugt wird (ebenda).
Wilhelm, hört eines nachts in einer Gartenlaube den Harfner, der kurz zuvor
einen Brand gelegt hatte und den Schauspielern somit ihren Fundus und ihre
Unterkunft zerstört hatte (Dürr et al., S. 378):
An die Türen will ich schleichen,
Fromm und sittsam will ich stehen,
Fromme Hand wird Nahrung reichen,
Und ich werde weiter gehn.
Jeder wird sich glücklich scheinen,
Wenn mein Bild vor ihm erscheint,
Eine Träne wird er weinen,
Und ich weiß nicht, was er weint.
Den Charakter und die Stimmung dieses Liedes beschreibt Kreutzer
folgendermaßen:
„Auch
wenn
man
einem
Lied
Selbstständigkeit
und
Unverbundenheit der Verse zugesteht, ist diese doch mit lediglich zwei Klängen
im Reim, von denen einer sechsmal wiederkehrt, besonders sinnarm und lässt
die Verwirrtheit des Sängers deutlich werden.“ (ebenda)
Schuberts Vertonungen
In Schuberts Liedschaffen nehmen die Vertonungen von Texten aus Goethes
Wilhelm Meisters Lehrjahre einen besonderen Platz ein. Zwischen den Jahren
1815 und 1826 komponiert Schubert 26 Lieder auf Texte der Mignon und des
Harfners. „Dies ist nicht nur der umfangreichste, sondern der von Schubert am
intensivsten durchdachte Komplex in seinem Liedschaffen, vergleichbar nur den
beiden größten seiner Zyklen, Winterreise und Die schöne Müllerin (D 911,
795).“, meint hierzu auch Kreutzer (Dürr et al., S. 93).
Bei meinen Betrachtungen möchte ich mich auf die 1822 als op. 12
veröffentlichte 2. Fassung der Harfner-Gesänge konzentrieren, die sich zur
ersten Fassung vom September 1816 durch das komplett neu komponierte Wer
nie sein Brot mit Tränen aß und durch die geänderte Abfolge unterscheidet.
Schubert stellt nun An die Türen will ich schleichen nicht mehr an die zweite,
sondern an die dritte Stelle der Gruppe (ebenda, S. 379).
Das sich über alle drei Lieder erstreckende Thema der Einsamkeit als Ausdruck
des Götterzornes vertont Schubert in a-Moll (ebenda).
Nach sechs arpeggierten Akkorden des Klaviers im Pianissimo, beginnt Wer
sich der Einsamkeit ergibt mit einem rezitativischen Teil. Schubert setzt
Fermaten auf „allein“, „lebt“, „liebt“ und „Pein“ bevor der arioso-Teil der zweiten
und dritten Strophe beginnt, indem sich die Gesangslinie über durchgehende
Achteltriolen des Klavierparts legt. Auffallend sind die starken dynamischen
Kontraste, mit denen Schubert arbeitet. So bricht er beispielsweise nach dem
noch im Piano Pianissimo stehenden „Ach, werd‘ ich erst einmal einsam im
Grabe sein“ bei „da läßt sie mich allein“ unvermittelt ins Fortissimo aus, nur um
bereits zwei Takte später wieder ins Piano beziehungsweise ins Pianissimo
zurück zu kehren. Diese Kontraste verstärkt Schubert, indem er für die Fassung
von 1822 Vortragsbezeichnungen wie crescendi und decrescendi oder den
Angaben zum Gebrauch der Verschiebung ergänzt. Die Spannungen lösen sich
erst im nahezu ins Nichts diminuierenden Klaviernachspiel (ebenda, S 378ff).
Wie bereits erwähnt komponierte Schubert Wer nie sein Brot mit Tränen aß für
die Druckfassung von 1822 neu und begnügte sich nicht, wie bei den beiden
anderen Liedern, mit Überarbeitungen. Dies war bereits seine dritte Vertonung
dieses Textes. In dieser letzten Version sind einige Gemeinsamkeiten zu Wer
sich der Einsamkeit ergibt erkennbar. So verwendet Schubert beispielsweise
nach einer improvisatorisch anmutenden Klaviereinleitung ab der dritten
Verszeile
„Auf
seinem
Bette
weinend
saß“
wieder
eine
triolische
Achtelbewegung als Begleitung im Klavier. Auch die große dynamische
Bandbreite zwischen Piano Pianissimo und Fortissimo ähnelt jener des ersten
Liedes. Laut Kreutzer stehen diese Ausbrüche in Schuberts Vertonung jedoch
im Gegensatz zur Romanvorlage: „Der Angabe im Roman, „klangen die Saiten
allein, bis sich wieder die Stimme leise in gebrochenen Lauten darein mischte“
(z. B. T. 17-20 und 30-34), entspricht die immer wieder frei rezitierende
Komposition in gewisser Weise, nicht hingegen ihre Götterklage, die dreimal
fast vollständig vorgetragen wird, mit unregelmäßigen Schwankungen zwischen
äußerstem
Pianissimo
und
förmlichem
Aufschrei
im
Fortissimo.“
Die
„Götterklage“ der zweiten Strophe nimmt Schubert musikalisch bereits in Takt
19 in Form eines akzentuierten Fortissimo-Akkords vorweg. Schubert
wiederholt dieses Motiv am Ende des Liedes als Klaviernachspiel (ebenda).
Abgesehen davon, dass An die Türen will ich schleichen nun den Abschluss der
Harfner-Gesänge Schuberts bildet, ist der einzige Unterschied zwischen den
beiden Fassungen das in der späteren Version erweiterte Nachspiel des
Klavieres. Schubert verwendet in diesem Lied fast ausschließlich Halbe und
Vierteln, es entsteht so eine ruhig schreitende, jedoch stetig suchende
Stimmung. Die Gesangsstimme wird fast pausenlos eine Oktave tiefer im dreibis vierstimmigen, wie ein Choral anmutenden Klavierpart verdoppelt. Die
verzweifelten
Klagen
des
Harfners
kann
man
in
den
absteigenden
Tritonusschritten der Melodie erkennen, diese erscheinen bereits im 8-taktigen
Klaviervorspiel dreimal. Dynamisch gestaltet sich dieses Abschlusslied viel
gleichmäßiger als die beiden vorangegangenen. Nur einige wenige FortepianoAkzente brechen die Pianissimo- beziehungsweise Piano-Grunddynamik auf,
die die ziellose Wanderschaft des Harfners untermalt (ebenda).
Schumanns Vertonungen
Schumann setzte sich bereits einige Zeit, bevor er sich zwischen Mitte Mai und
Anfang Juli des Jahres 1849 der Komposition von Liedern Mignons, des
Harfners und Philine (1851 als op. 98a veröffentlicht) sowie dem Requiem für
Mignon (op. 98b) widmet, mit Goethes Wilhelm Meister auseinander (Spies,
1997, S. 176f). Dies stellt auch Fischer-Dieskau (1985) fest: „Wieder in
Dresden, stürzte sich Schumann nach dem dritten Lesen des „Wilhelm Meister“
in die Vertonung von Goethes lyrischen Einsprengseln, der Gesänge Mignons
und des Harfners. Für Clara war es eine neue Welt, für Schumann eine längst
bekannte, die er wiedereroberte.“ (S. 252)
Schumann vertont in seinem op. 98a insgesamt neun Lieder, beginnend mit
Mignons Kennst du das Land und der Ballade des Harfners Was hör‘ ich
draußen vor dem Tor. Vor Philines Singet nicht in Trauertönen, dem siebten
Lied der Gruppe, wechseln sich Mignon und der Harfner mit Nur wer die
Sehnsucht kennt, Wer nie sein Brot mit Tränen aß, Heiß‘ mich nicht reden und
Wer sich der Einsamkeit ergibt ab. Den Abschluss der Lieder und Gesänge aus
Goethes Wilhelm Meister bilden des Harfners An die Türen will ich schleichen
und Mignons So laßt mich scheinen. Vermutlich um die Liedgruppe etwas
abwechslungsreicher zu gestalten, übernimmt Schumann nicht die Reihenfolge
der Lieder aus der Romanvorlage (Spies, 1997, S 177ff).
In Wer nie sein Brot mit Tränen aß stellt Schumann durch Parallelführungen
eine enge Verbindung zwischen der Singstimme und der Basslinie des
Klavierparts
her.
Innerhalb
dieses
strengen
Rahmens
erzeugen
die
Achtelfiguren durch die ausgesparten Hauptzählzeiten einen unruhigen,
getriebenen Charakter. Den dramatischen Ausbruch der zweiten Strophe
kündigt Schumann bereits in der Vortragsbezeichnung „Erst langsam, dann
heftiger“ an. Der Komponist akzentuiert in diesem Teil die Wörter „Leben“ und
„Armen“ durch Septimensprünge in der Melodieführung sowie durch die
Arpeggien im Klavierpart. Bereits im Fortissimo stehend werden diese durch
zusätzliche Sforzatis abermals verschärft. Einzig bei „denn alle Schuld rächt
sich auf Erden“ setzt Schumann die Begleitmotive aus, er unterlegt den Text
hier nur mit ganztaktig erklingenden Akkorden. Anschließend setzen wieder die
32tel-Arpeggien im Klavier ein. Diesmal allerdings im Piano, wodurch ihnen
Schumann einen „magischen, fast impressionistischen Charakter“ (FischerDieskau, 1985 S. 255) verleiht (Spies, 1997, S. 178).
Besonders eindrucksvoll am nächsten der Harfner-Lieder Schumanns, Wer sich
der Einsamkeit ergibt, ist der abwechslungsreiche und sehr stimmungsvolle
Klaviersatz zu dem die Singstimme im Vergleich eher karg wirkt. Zu Beginn des
Liedes
prägen
die
zumeist
aufsteigenden,
harmonisch
wechselnden
Akkordbrechungen das Klangbild, ehe Schumann ab „Es schleicht ein
Liebender“ zu einer repetitiven Achtelbegleitung wechselt, über der er ein
positiv anmutendes, fast freudiges Motiv erklingen lässt. Spies (1997) meint zu
dieser Stelle: „Vieles bleibt dabei semantisch offen, doch gibt es auch
konkretere Beziehungen zum Text. Am deutlichsten zu Beginn der 3. Str., in
dessen zartem, harmonisch aufgehelltem Satzgeflecht sich die Vorstellung
einer unbelasteten Liebesbeziehung niederschlägt.“ (S. 178). Zwei Textstellen
des Liedes untermalt Schumann mit arpeggierten, harfenähnlichen Akkorden.
Wirken diese bei „ach! der ist bald allein“ noch streng ermahnend, so erklingen
sie bei „ach! werd‘ ich erst einmal einsam im Grabe sein“ in einem tröstenden
Tonfall und münden schließlich auch in das zauberhafte As-Dur Nachspiel
(ebenda).
Die Schlichtheit und geringe Anzahl an motivischen Elementen von An die
Türen will ich schleichen steht in starkem Kontrast zu den vorangegangenen
Harfner-Gesängen. Zur sehr einfach gehaltenen Gesangsstimme gesellt sich
ein um den Ton g kreisender, ruhig schreitender Klavierpart, der durch
Synkopierungen und klagende 16tel-Motive eine schmerzhafte und suchende
Note erhält. Lediglich „eine Träne“ wird durch die beim zweiten Erklingen
geänderte Betonung musikalisch unterstrichen. Nach einer ruhigen Akkordfolge
bei „Jeder wird sich glücklich scheinen“ kehrt Schumann wieder zum Duktus
des Beginns zurück, ehe er in einen erlösenden C-Dur-Akkord mündet (Spies,
1997, S. 180). Fischer-Dieskau (1985) beschreibt dieses Lied folgendermaßen:
„Was bei seinen anderen Goethe-Gesängen vermißt werden mag, ist hier
erreicht: Geschlossenheit und Überzeugungskraft. Das Stockende im Schritt
der Synkopen, die flehende Sechzehntelfigur, die abgerissenen Harfenakkorde,
Kraft der Melodiefindung und Mühelosigkeit der Modulation, alles ist zu
ergreifendem Ausdruck gebunden.“ (S. 256)
Wolfs Vertonungen
Hugo Wolf beginnt am 27. Oktober 1888 die Arbeit an seinen Goethe-Liedern.
Bereits am 30. Oktober vollendet er die Vertonung der drei Harfner-Gesänge,
die, gefolgt von sieben anderen Liedern aus Wilhelm Meister, zu Beginn der
Ausgabe der Gedichte von Goethe für eine Singstimme und Klavier von Hugo
Wolf stehen. Die Spröde, die 51. und letzte der Goethe-Vertonungen, stellt er
am 21. Oktober 1889 in Perchtoldsdorf fertig (Werba, 1971, S. 146). Eine
Besonderheit bei Wolfs Herangehensweise an die Goethe-Texte betont Decsey
(1927): „Beachtenswert ist dabei, daß er Goethe nach Stimmungskreisen
vertonte: so werden die Schenkenbuchgesänge des westöstlichen Diwan
zusammen geschrieben, ebenso das Buch Suleika und die Wilhelm-MeisterLieder.“ (S. 58).
Zu seinen Wilhelm-Meister-Liedern, vor allem jenen des Harfners und Mignon,
meint Wolf, dass in ihnen die Charaktere der betreffenden Personen erkennbar
sein sollten (Werba, 1971 S. 157). Eine Tatsache, die auch Decsey (1927)
beschreibt: „Das Wolfsche Auge dringt auch in den Orts- und Zeithintergrund
der Gedichte: es führt das Gesetz der Wahrheit aus. Wolf sieht in Goethes
Harfner nicht bloß einen erbarmenswerten, weißhaarigen Alten, sondern die
schuldgebeugte Figur des Romans. Die Musik weiß von der unglückseligen
Liebe des Mannes zu seiner Schwester Sperata, der das Kind Mignon
entspringt. Daher läßt sie reuig nagende Vorhalte in den Gesängen ertönen, die
Wilhelm an der Kammertür des elenden Wirtshauses erlauscht.“ (S. 142).
Im Gegensatz zu Goethe, der Wer sich der Einsamkeit ergibt in zwei Strophen
zu jeweils vier und einer zu acht Versen gliedert, trennt Wolf die letzten drei
Verse der dritten Strophe in seinem Harfenspieler I vom Vorangegangenen ab.
Die arpeggierten Akkorde und die absteigende Chromatik des Klaviervorspiels
prägen die gesamten ersten 17 Takte des Liedes. Erst bei „und lässt ihn seiner
Pein“ bricht Wolf erstmals aus der Piano beziehungsweise Pianissimo Dynamik,
er überschreibt den Einsatz des Gesanges zusätzlich mit „leise“, ins Forte aus,
kehrt aber sofort wieder ins Piano zurück. In den folgenden Takten diminuiert er
noch weiter und leitet in den bei „Es schleicht ein Liebender lauschend sacht“
beginnenden Mittelteil über. Wolf moduliert von g-Moll nach D-Dur, überschreibt
die Gesangsstimme nun sogar mit „sehr leise“ und rückt den Klavierpart ins
Piano Pianissimo. Die überbundenen Achteln der Triolenbegleitung verschleiern
die im Vergleich zum Beginn rhythmisch eher einfach gehaltene Melodie. Auch
in diesem Teil kommt es bei „Nacht“ nach einem dreitaktigen Crescendo zu
einem dynamischen Ausbruch. Allerdings bleibt Wolf nun für vier Takte im
Forte, ehe die Triolen des Klaviers langsamer und leiser werden und in den bei
„Ach, werd‘ ich erst einmal“ beginnenden Schlussteil münden. Hier greift Wolf
wieder die Motive des Beginns auf, die beiden ersten Takte des Nachspiels sind
sogar exakt dem Vorspiel entnommen. Diesen Bezug zum Anfang interpretiert
Andresen (2012) folgendermaßen: „Wie in einem endlosen Kreislauf befindet
sich der Harfner wieder am scheinbaren Anfang und ist gefangen in Leid und
Ausweglosigkeit.“ (S. 179). Wolf lässt das Lied in D-Dur enden (ebenda, S.
175ff).
Auch im Harfenspieler II, An die Türen will ich schleichen, bedient sich Wolf oft
absteigender chromatischer Linien, wie zum Beispiel im Seufzermotiv der
rechten Hand und den Terzen der linken Hand im Klaviervorspiel. Dies resultiert
in einer schmerzlich gequälten Stimmung, passend zu Wolfs Anweisung
„dolente“ zu Beginn des Liedes. Ab dem Einsatz der Singstimme verschiebt
sich der Klavierpart rhythmisch und „schleicht“ synkopisch neben dem Gesang
her. Auch im Klavierzwischenspiel, das tonal dem Vorspiel gleicht, begleiten die
absteigenden kleinen Terzen die Seufzer nun synkopierend. Erst bei „Jeder
wird sich glücklich scheinen“, dem zweiten Teil des Liedes, stabilisiert Wolf das
Klangbild durch eine halbtaktig voranschreitende Basslinie. Jetzt kommt es
auch zur größten dynamischen Steigerung des Liedes. Das zu Beginn
durchgehend vorherrschende Piano beziehungsweise Pianissimo steigert Wolf
durch ein zweitaktiges Crescendo bei „eine Träne“ ins Forte, lässt die
Gesangsstimme anschließend aber wieder im Piano enden. Als Abschluss
erklingt abermals das Vorspiel, allerdings mit einem etwas überraschendem CDur-Schlussakkord (ebenda, S. 180ff).
Wer nie sein Brot mit Tränen aß, Wolfs Harfenspieler III, ist wohl der am
klarsten gegliederte der drei Harfner-Gesänge. Wolf übernimmt Goethes
Zweiteilung des Gedichts und fasst, kleine Abweichungen ausgenommen,
immer
zwei
Verszeilen
zu
einer
viertaktigen
Phrase
zusammen.
Im
Klaviervorspiel sind Anlehnungen an die beiden vorangegangenen Lieder
erkennbar, so etwa die seufzende Chromatik der rechten Hand oder die
absteigende Terzbewegung in der linken. Die arpeggierten Harfenakkorde des
ersten Liedes tauchen hier ebenfalls erneut auf. Sowohl bei „kummervollen
Nächte“, als auch „himmlischen Mächte“ kommt es zu einer dynamischen
Steigerung ins Forte. Nach dem viertaktigen Zwischenspiel, das, wiederum eine
Parallele zu den ersten beiden Harfner-Liedern, dem Vorspiel gleicht, beginnt
bei „Ihr führt ins Leben uns hinein“ der dramatische zweite Teil der Vertonung.
Wolf vollzieht eine extreme Steigerung, die in einem mächtigen Forte Fortissimo
bei „denn alle Schuld“ gipfelt. Die vier vollgriffigen Akkorde des Klaviers
betonen die Zählzeiten und stehen somit in Kontrast zu den Synkopen der
vorherigen Takte. Nach diesem, mit Sicherheit dramatischsten Ausbruch der
drei Harfenspieler erstirbt eine leicht variierte Form des Vorspiels in einem
abschließenden f-Moll-Akkord (ebenda, S. 183ff).
Quellenverzeichnis
Andresen, M. (2012). Die Charaktere aus Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre
bei
Anton
Rubinstein
und
Hugo
Wolf:
Mit
einer
Analyse
der
Rezeptionsgeschichte der Lyrischen Einlagen des Romans. Frankfurt: Lang
Bahr, E. (2000). Erläuterungen und Dokumente. Johann Wolfgang Goethe:
Wilhelm Meisters Lehrjahre (Durchgesehene, in Kapitel IV,2 ergänzte und
bibliographisch aktualisierte Ausgabe 2000). Stuttgart: Reclam
Decsey, E. (1927). Hugo Wolf: Das Leben und das Lied (Nachdruck der
Originalausgabe). Hamburg: Severus
Dürr, W.; Kube, M.; Schweikert, U.; Steiner, S. (Hrsg.) (2013). Schubert
Liedlexikon (2. Auflage). Kassel: Bärenreiter
Fischer-Dieskau, D. (1985). Robert Schumann: Das Vokalwerk. München:
Deutscher Taschenbuch Verlag. Kassel: Bärenreiter
Spies, G. (1997). Robert Schumann: Musikführer. Mainz: Schott
Werba, E. (1971). Hugo Wolf oder Der zornige Romantiker (1. Auflage). WienMünchen-Zürich: Molden