„Ehrfurcht vor dem Leben“ Aus dem Alltag eines Klinikseelsorgers: Atemberaubend. Erschütternd. Herzerfrischend. „So ein Aufenthalt im Krankenhaus hat auch sein Gutes, Herr Scherer.“ Herr L. lächelt mir freundlich zu. Er scheint die Operation an der Wirbelsäule vor drei Tagen ganz gut überstanden zu haben. „So viel Zeit zum Lesen habe ich schon lange nicht mehr gehabt.“ Herr L. ist Familienvater von vier Kindern und Realschullehrer mit Leib und Seele. „Und was genau lesen Sie zur Zeit gerade, Herr L.?“ „Schauen Sie mal – dieses alte Buch mit Texten von Albert Schweitzer (1875-1965). Ich habe es zuletzt während meines Studiums in der Hand gehabt – und das ist schon eine Weile her. Darf ich Ihnen einen Abschnitt daraus vorlesen?“ „Gerne, Herr L. Das erinnert mich auch an meine Studienzeit…“ Herr L. liest für mich mit seiner klaren, ebenso deutlichen wie geübten Stimme: „Die elementare, uns in jedem Augenblick unseres Daseins zum Bewusstsein kommende Tatsache ist: Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will…“ - „Herr Scherer, wenn ich mir das bewusst mache, finde ich darin nach wie vor einen Schlüssel für viele aktuelle Fragestellungen; z.B. in der Frage, mit welcher Haltung wir Menschen begegnen, die auf der Flucht sind vor Terror, Krieg und Gewalt – und bei uns einen sicheren Ort für sich und ihre Familien suchen: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ „Das kann ich gut nachvollziehen, Herr L. Neben unserem Krankenhaus leben im ehemaligen Schwesternwohnheim ja seit Februar ca. einhundert Menschen, die bei uns eine bessere Zukunft suchen, überwiegend Familien mit Kindern. Am Anfang gab es auch in unserer Stadt viele offene Fragen und einzelne Befürchtungen, ob das mit der Aufnahme so vieler Menschen gut geht. Mittlerweile haben sich viele Fragen beantwortet. Unseren weiträumigen Wiesen und dem Bolzplatz beim Krankenhaus tut es gut, dass Kinder darauf unbeschwert spielen können; viele, gerade ältere Patienten freuen sich über den Anblick. Oft kommen unsere Gespräche auf die Frage, was diese Kinder in ihren wenigen Lebensjahren wohl bereits alles miterlebt und durchgestanden haben… Und viele, die sich ehrenamtlich in diesem Bereich engagieren, erzählen mir davon, wie sehr sie es als Bereicherung empfinden, ihre Zeit, ihre Fähigkeiten und Begabungen mit anderen Menschen zu teilen.“ „Herr Scherer, dazu könnte ich Ihnen auch viele Beispiele aus meinem Alltag in der Schule erzählen. Das scheint im Menschen so angelegt zu sein. Albert Schweitzer schreibt dazu: „Das Geheimnisvolle meines Willens zum Leben ist, dass ich mich genötigt fühle, mich gegen allen Willen zum Leben, der neben dem Meinen im Dasein ist, teilnahmsvoll zu verhalten. Das Wesen des Guten ist: Leben erhalten, Leben fördern, Leben auf seinen höchsten Wert bringen…“ Herr L. schaut mich nachdenklich an: „Herr Scherer, da ist Albert Schweitzer ja ziemlich optimistisch. Das wäre schön, wenn alle Menschen von einer solchen teilnahmsvollen Ehrfurcht vor dem Leben erfüllt und geleitet wären…“ „Dabei hätten Sie in Gott genau dafür einen guten Bündnispartner und Freund.“ Ich muss an Verse aus dem alttestamentlichen Buch der Weisheit denken und erzähle Herrn L. davon: „Gott, Du Freund des Lebens, Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast. Wie könnte etwas ohne deinen Willen Bestand haben, oder wie könnte etwas erhalten bleiben, das nicht von Dir ins Dasein gerufen wäre? Gott, Du Freund des Lebens… …in allem ist Dein unvergänglicher Geist.“ [Buch der Weisheit 11,23-12,1] „Herr Scherer, sie wissen ja, dass ich kein großer Kirchgänger bin. Aber mir scheint, ich hab was mit Gott und mit Albert Schweitzer gemeinsam: Ich bin nämlich auch so ein Freund des Lebens!“ Er lächelt mir verschmitzt zu. Heribert Scherer 6/2016
© Copyright 2024 ExpyDoc