Clinton macht den Sanders

Architektonisch weit vorn, politisch weit rechts
Le Corbusier gilt als Mitbegründer der modernen Architektur.
17 seiner Werke wurden zum Welterbe erklärt. Seite 23
Fotos: dpa/Holger Hollemann, dpa/Paul Koslowsky
Sonnabend/Sonntag, 30./31. Juli 2016
71. Jahrgang/Nr. 177
Berlinausgabe 2,30 €
www.neues-deutschland.de
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STANDPUNKT
Die Türkei ist
kein Rechtsstaat
Clinton macht den Sanders
Geheimgespräche
über Tengelmann
Demokratische US-Präsidentschaftskandidatin verspricht gut bezahlte Jobs für alle
Ministerium räumt Treffen ein
Ver.di: Erster Tarifabschluss erreicht
Fabian Lambeck über ein
Auslieferungsgesuch Ankaras
Was derzeit in der Türkei geschieht, ist mit dem Begriff Säuberung treffend beschrieben.
Präsident Recep Tayyip Erdogan
»reinigt«, wie er selbst betont,
Justiz, Armee und Verwaltung
von mutmaßlichen Anhängern
des Predigers Fethullah Gülen.
Dessen klandestines Netzwerk
soll alle staatlichen Strukturen
durchdrungen haben und hinter
dem verdächtig dilettantischen
Putschversuch stecken. Die
schiere Anzahl Beschuldigter lässt
vermuten, dass es viele trifft, die
mit dem Putsch nicht das Geringste zu tun hatten.
So wie die beiden Staatsanwälte Zerkeriya Öz und Celal Kara, deren Auslieferung Ankara
nun fordert. Der Umstand, dass
sich die beiden Juristen bereits
vor einem Jahr aus der Türkei
abgesetzt haben, zeigt zweierlei.
Zum einen, wie lächerlich der
Vorwurf ist, die beiden könnten
in den Putsch verwickelt sein.
Und dass zwei Staatsanwälte ins
Ausland fliehen müssen, um der
Rache der Regierungspartei zu
entgehen, ist deutlicher Beleg
dafür, dass die Türkei auch vor
dem Putsch kein Rechtsstaat war.
Sie ist es noch weniger jetzt, da
Erdogan einen Teil der Opposition ausschaltet. Wenn der Vorsitzende des deutschen Richterbundes der Türkei ein »grob rechtsstaatswidriges Vorgehen« gegen
ihre Richter, Staatsanwälte und
andere Bürger attestiert, dann
sollte das Richtschnur für die
Bundesregierung sein. Niemand
darf an die türkische Justiz ausgeliefert werden! Erst recht nicht
jetzt, da dort die ersten Schauprozesse vorbereitet werden.
UNTEN LINKS
Am VW-Skandal wird ja nun
schon eine Weile herumermittelt,
aber ein Ende der Beweiskette ist
noch lange nicht in Sicht. Erst
waren es angeblich nur ein paar
übereifrige Konstrukteure, die
nicht wussten, wie sie ohne Beschiss die Abgasvorgaben erfüllen
sollten. Dann hieß es, Konzernchef Winterkorn sei informiert
gewesen. Neulich war zu hören,
dass die Bundesregierung schon
seit ein paar Jahren Kenntnis hatte. Die EU-Kommission ebenfalls.
Der heutige Konzernboss Müller
soll sogar schon 2006 von Abgasproblemen bei Dieselmotoren erfahren haben. Jetzt ist der Punkt
erreicht, an dem man endlich den
wirklich Schuldigen klar benennen muss, statt immer nur scheibchenweise aufzuklären. Wer hat
uns denn den ganzen Schlamassel
eingebrockt? War das nicht dieser
Rudolf, wie hieß er gleich noch,
genau, Diesel, Rudolf Diesel, mit
dem alles anfing hat, weil er diese
Drecksmotoren erfunden hat?
Und der jetzt glaubt, er könnte die
Sache aussitzen? Wann geht’s
denn dem mal an den Kragen? wh
ISSN 0323-4940
Berlin. Lebensmittelhändler Edeka hat im Poker um eine Übernahme von Kaiser’s Tengelmann einen ersten Tarifabschluss erzielt. Die
Einigung mit ver.di gilt für rund 5700 Beschäftigte von Kaiser’s in Berlin und Brandenburg. Sie sieht eine Beschäftigungssicherung für fünf Jahre vor, falls der Verkauf zustande kommt. Edeka will 450 Supermärkte
von Kaiser’s Tengelmann übernehmen.
Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD)
hatte Edeka grünes Licht gegeben. Eine
Hauptbedingung war der Abschluss von Tarifverträgen. Das Oberlandesgericht Düsseldorf hatte die Fusion allerdings gestoppt und
Gabriel Befangenheit vorgeworfen, weil er mit
Edeka und Kaiser’s Tengelmann geheime Gespräche geführt habe. Das Ministerium räumte auf eine Anfrage der Grünen-Bundestagsabgeordneten Katharina Dröge hin ein Gespräch mit Vertretern von Edeka und ver.di
im Dezember 2015 ein. Laut Ministerium habe das Treffen dem »Meinungsaustausch« gedient und keinen Einfluss auf den Fortgang
des Verfahrens gehabt. dpa/nd
Seite 2
CSU nennt Merkel
»blauäugig«
Minister Söder »nicht überzeugt«
vom Auftritt der Bundeskanzlerin
Ein 100-Tage-Programm für die Präsidentschaft legte Hillary Clinton am vierten und letzten Tag des Parteitages der Demokraten vor.
Philadelphia. Die frühere US-Außenministerin Hillary Clinton hat die Nominierung als demokratische US-Präsidentschaftskandidatin
förmlich angenommen. In ihrer Parteitagsrede kündigte sie ein massives Konjunkturprogramm für ihr Land an. Sie wolle die Wirtschaft so voranbringen, »dass jeder, der einen
gut bezahlten Job will, ihn bekommen kann«,
sagte Clinton am Donnerstagabend (Ortszeit)
in Philadelphia. In den ersten hundert Tagen
ihrer Amtszeit wolle sie das massivste Konjunkturprogramm seit Ende des Zweiten Weltkrieges auf die Beine stellen. Zu ihrem Regierungsprogramm gehören zahlreiche sozial-
politische Forderungen ihres parteiinternen
Kontrahenten Bernie Sanders. Clinton würdigte den Beitrag der »Millionen hart arbeitenden Immigranten« zur US-Wirtschaft. Es sei
»selbstzerstörerisch und inhuman«, diese
Menschen auszuweisen. Die frühere Chefdiplomatin erklärte: »Ich bin stolz darauf, unseren Alliierten in der NATO beizustehen, gegen alle Bedrohungen, denen sie gegenüberstehen, darunter auch aus Russland.« Ihrem
republikanischen Rivalen Donald Trump warf
die Kandidatin »Angstmacherei« vor.
Hillary Clinton ist die erste Frau, die für eine der großen Parteien für das Rennen um das
Foto: AFP/Robyn Beck
Weiße Haus nominiert ist und realistische
Chancen auf das Präsidentenamt hat. 1980 und
1984 hatte sich die Bürgerrechtlerin Angela
Davis um die Vizepräsidentschaft an der Seite
des kommunistischen Präsidentschaftskandidaten Gus Hall beworben.
Sie wolle eine Präsidentin »für alle Amerikaner« sein, sagte die 68-Jährige unter dem Jubel der Tausenden Delegierten. Diese Aufgabe
übernehme sie mit Demut und Entschlossenheit. Zwischenrufe von Anhängern des unterlegenen Präsidentschaftsbewerbers Bernie
Sanders gingen in »Hillary! Hillary!«-Sprechchören unter. Agenturen/nd
Seiten 2 und 7
Alles Gülen, oder was?
Erdogans Willkür macht weder vor NATO-Generalen noch vor Konzernmanagern halt
Die »Säuberungsaktion« der
türkischen Regierung macht an
den Landesgrenzen nicht Halt.
Ranghohe NATO-Militärs sind
betroffen. Und auch unter Diplomaten geht die Angst um.
Berlin. Die türkische Regierung
hat nach dem gescheiterten
Putsch mehrere Generale von ihren Aufgaben bei der NATO entbunden. Nach dpa-Informationen
sind die zwei türkischen Mitglieder im Führungsstab des Afghanistan-Einsatzes betroffen. Zudem wurde kurz nach dem Umsturzversuch gegen Präsident Erdogan der türkische Stabschef im
Landstreitkräfte-Hauptquartier in
Izmir festgenommen.
Die EU-Kommission betätigte,
dass ihren Informationen zufolge
auch türkische Diplomaten im Visier von Ermittlungen zum
Putschversuch stehen. Nach Informationen der dpa sollen weltweit bereits mindestens 88 Personen von ihren Posten abberu-
fen worden sein – darunter auch
Botschafter.
Der türkische Innenminister
Efkan Ala sagte am Freitag, inzwischen seien 18 044 Verdächtige mit mutmaßlichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung
festgenommen worden. Gegen
9677 sei Haftbefehl erlassen worden. In der Debatte über Wiedereinführung der Todesstrafe
erwäge die Regierung in Ankara
eine Volksabstimmung, hieß es.
Am Freitag wurden der Chef
des Boydak-Konzerns, Mustafa
Boydak, und zwei weitere Manager des Familienunternehmens
festgenommen, wie die staatliche
Nachrichtenagentur Anadolu berichtete. Gegen drei weitere Manager wurden Haftbefehle erlassen. Boydak wurde laut Anadolu
in der zentraltürkischen Stadt
Kayseri in Gewahrsam genommen. Mit Sükrü und Halit Boydak
wurden demnach noch zwei weitere Mitglieder der Unternehmensleitung inhaftiert. Haftbe-
fehle wurden auch gegen den früheren Konzernchef Haci Boydak
sowie die Verwaltungsratsmitglieder Ilyas und Bekir Boydak erlassen. Die Boydak-Holding ist im
»Hier sollen Leute
grundlos verfolgt
und diskriminiert
werden.«
Ministerpräsident
Winfried Kretschmann
Energie- und Finanzsektor aktiv.
Das Familienunternehmen besitzt
zudem die Möbelmarken Istikbal
und Bellona.
In Deutschland sorgte zuletzt
vor allem die türkische Forderung, auch hierzulande gegen die
Bewegung des Predigers Gülen
vorzugehen, für Unmut. Zum Begehren nach einer Auslieferung
angeblicher Putschisten verlangte
der Deutsche Richterbund konkrete Beweise. Eine Auslieferung
auf bloßen Zuruf aus Ankara werde es nicht geben, erklärte der
Vorsitzende Jens Gnisa. Der Sprecher der Gülen-Bewegung in
Deutschland, Ercan Karakoyun,
erhält einem Bericht zufolge seit
dem gescheiterten Putschversuch
in der Türkei Morddrohungen.
Baden-Württembergs
Ministerpräsident
Winfried
Kretschmann sagte, für die Behauptung, die Gülen-Bewegung stehe
hinter dem Putsch, gebe es »keine
Belege«. In einem Schreiben hatte der türkische Generalkonsul in
Stuttgart, Ahmet Akinti, die baden-württembergische Landesregierung aufgefordert, Einrichtungen der Gülen-Bewegung zu
überprüfen. Vor der Pro-ErdoganDemonstration am Sonntag in
Köln mit Zehntausenden Teilnehmern hat die Polizei derweil
ein hartes Vorgehen gegen jede
Form von Gewalt angekündigt.
Agenturen/nd
Seite 4
Berlin. In der CSU-Spitze regt sich Widerstand gegen die Analyse von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zur Terrorlage in
Deutschland und Bewältigung der Flüchtlingskrise. »Mich persönlich hat das gestern
nicht überzeugt«, sagte Bayerns Finanzminister Markus Söder am Freitag bei einer Landeskabinettsklausur am Tegernsee. Er habe
mehr erwartet. Diese Meinung decke sich
»ziemlich« mit der von CSU-Chef und Ministerpräsident Horst Seehofer. Merkels Satz
»Wir schaffen das« werde nicht richtiger, wenn
sie ihn wiederhole. Söder unterstellte der
Kanzlerin indirekt »Blauäugigkeit«.
Grüne und LINKE im Bund beklagten hingegen, die von Merkel stets erwähnte Bekämpfung von Fluchtursachen verkomme zur
hohlen Phrase. Grünen-Fraktionschef Anton
Hofreiter sagte der »Passauer Neuen Presse«,
die Kanzlerin habe »eine wertvolle Chance
vertan, ihren politischen Kompass für die
nächste Zeit offenzulegen.« Linksfraktionschef Bartsch nannte Merkels Programm in der
ARD »sehr, sehr vage«. dpa/nd
Seite 17
Amazon: Gewinn
verneunfacht sich
Linkenchef Riexinger kritisiert die
Personalpolitik des Online-Riesen
Berlin. Vor dem Hintergrund der jüngsten
Quartalsbilanz des Online-Handelskonzerns
Amazon hat der LINKE-Vorsitzende Bernd
Riexinger das Geschäftsmodell des Unternehmens kritisiert. Die gemeldeten Rekordzahlen seien nur »möglich durch miese Löhne, unsichere Jobs und unerträglichen Druck.
So behandelt man keine Mitarbeiter«, erklärte Riexinger. In der Bundesrepublik wird
der Konzern seit Jahren von der Gewerkschaft ver.di bestreikt, die einen besseren Tarifvertrag erreichen will. Amazon sitzt die
Forderung bisher aus.
Amazon verneunfachte zuletzt seinen Gewinn. Der Profit des US-Konzerns erreichte in
den Monaten April bis Juni 857 Millionen Dollar (779 Millionen Euro), wie das Unternehmen mitteilte. Im Vorjahreszeitraum hatte er
bei 92 Millionen gelegen. Amazon hatte bisher alle Profite re-investiert. Mit dem Ausbau
seines Video- und Lieferdienstes sowie der Erweiterung der Cloud-Computing-Einheit stieg
der Gewinn. Zudem expandierte der Konzern
u.a. nach Indien. Agenturen/nd