ELVEA VERLAG Besuchen Sie uns im Internet: www.elvea-verlag.de Veröffentlicht im Elvea Verlag Chemnitz, November 2015 © 2015/2016 bei Elvea Verlag 2. Auflage Lektorat: Christian Engelke Coverdesign: Yvonne Less www.art4artists.com.au Wappenlöwe: Christopher Klein Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. ISBN 978-3-945600-17-7 Parker Jean Ford ist 1973 geboren und Autorin aus Leidenschaft. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Trier. Gute Bücher zeichnen sich für sie dadurch aus, dass diese zu guten Freunden werden, die man immer wieder gerne zur Hand nimmt. Man freut sich mit den Protagonisten, leidet mit ihnen, und am Ende des Buches weint man ihnen zum Abschied vielleicht sogar eine Träne nach. Für meine sehr geduldige Familie. Markus, Finnian und Cian, ich bin glücklich, dass es euch gibt! Ich möchte mich bei meiner Betaleserin Sara Germeshausen bedanken, deren Korrekturkommentare immer ein besonderes Highlight für mich waren. Bei Denise Gabe für die ursprüngliche Coverumsetzung und Christopher Klein, der meinen Wappenlöwen für das Cover perfekt zu Papier gebracht hat. Vielen Dank auch an meine Mädels Svenja Baumgarten, Sandra Mayr und Birgit Mittelmaier, die immer für mich da waren, wenn ich sie brauchte. Ohne euch wäre Vertrau mir! Prophezeiung nur ein Traum geblieben. Parker Jean Ford Vertrau mir! Prophezeiung Leseprobe XXL ELVEA VERLAG 1 Die Vergangenheit ist ein Teil von dir Cassandra gönnte sich nach langer Zeit einmal wieder ein Frühstück in ihrem Lieblingscafé. Eher ungewöhnlich im ersten Stock eines Geschäftshauses direkt über einer Parfümerie gelegen, bot es einen besonderen Ausblick auf die noch verschlafene Fußgängerzone von Trier. Wenn man hier so saß, kam man kaum auf den Gedanken, dass Trier eine Großstadt war. Ihre kleine Großstadt, die sie in den letzten Jahren wegen ihres Charmes und der allgegenwärtigen Geschichte lieben gelernt hatte. Es war sicherlich der Trostlosigkeit des Wetters zu verdanken, dass sie und eine ältere Dame, welche eine Tageszeitung las, die einzigen Gäste an diesem Morgen waren. Cassandra blickte nachdenklich nach draußen und nippte an ihrem Milchkaffee. Vor einem Monat hatte sie ihren dreißigsten Geburtstag gefeiert. Wo war die Zeit geblieben? In Gedanken zog sie Bilanz: ihre Tochter Elara, Häkchen eins auf der Positivseite. Sie hatte ihren Traummann gefunden, ihn geliebt und geheiratet, Nummer zwei und direkt auch Häkchen eins auf der Negativseite, denn sie hatte ihn verloren. Traumberuf? Ok, nicht ganz, trotzdem ein weiterer Haken auf der Positivseite, da ihr das Schneidern Spaß machte. Zur Topdesignerin, wie sie es sich in der Schule ausgemalt hatte, hatte es leider nicht gereicht. Alles in allem deutlich mehr Häkchen auf der Positivseite! Und nun die nächste Frage: »Was erwarte ich noch von meinem Leben?«, flüsterte sie zu sich selbst. Sah sich dann 6 aber ertappt um und merkte zu ihrer Erleichterung, dass sie weder die Bedienung, noch die ältere Dame gehört hatten. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie vor Zukunftsideen nur so gesprüht hatte, diese Zeiten waren schon lange vorbei. Alt werden? Was bedeutete das? Auf jeden Fall sehen, wie meine Tochter zu einer Frau heranwächst! Ich selbst bleiben und endlich einen Platz finden, an dem ich mich zu Hause fühlen kann. Noch einmal lieben? Ihre Gedanken kreisten. Lieben hieß, dass man auch verletzt werden konnte, das strich sie schnell wieder von ihrer Liste. Sie legte beide Hände um die Kaffeetasse, die sich angenehm warm anfühlte. Langsam erwachte die Fußgängerzone aus ihrem Dornröschenschlaf. Doch selbst die bunten Farben der Regenschirme konnten sie heute nicht für die dunklen Wolken am Himmel und den Regen entschädigen. Ihr Blick schweifte durch das Café und blieb an dem nostalgischen Wandkalender aus Metall hängen, den ein Bild des Geschäftshauses aus den 40er Jahren zierte. Heute war Montag, der 20. Oktober. Elara war seit Samstag mit ihrer besten Freundin auf dem Reiterhof und würde erst am übernächsten Sonntag zurückkommen. So lange waren sie bisher noch nie getrennt gewesen. Noch dreizehn Tage, dann würde sie ihre Tochter wiedersehen. Noch immer in ihren Gedanken versunken trank sie den letzten Schluck ihres Milchkaffees und verzog das Gesicht. Selbst der Kaffee schmeckte heute nicht so, wie sie es gewohnt war. Das Croissant hatte sie kaum angerührt und es schien, als ob der Regen die bunten Farben des ansonsten so gemütlichen Cafés ebenfalls weggewaschen hätte. Sie wusste, es lag an ihr. Müde massierte sie die schmerzenden Schläfen und sah wieder hinaus. Nicht nur draußen war es grau und trist, auch in ihrem Inneren. Cassandra zahlte und machte sich auf den Weg. Um zehn Uhr wollte sie in ihrem Laden sein. Vor zwei Jahren hatte sie 7 sich mit der kleinen Schneiderei selbständig gemacht. Eigentlich handelte es sich nur um ein Zimmer ihrer Hinterhofwohnung, welches sie zur Schneiderwerkstatt umfunktioniert hatte. Doch dank ihrer Stammkundschaft, die fleißig Werbung für sie machte, konnten sie und Elara inzwischen gut von ihrem Einkommen leben. Der Regen prasselte auf sie nieder, während sie schnellen Schrittes nach Hause ging. An manchen Tagen - und diese wurden immer häufiger - hatte sie das Gefühl, dass es nur noch regnete. Positiv denken, Cassandra! Sie seufzte, straffte die Schultern und tröstete sich damit, dass auf Regen meist Sonnenschein folgte. Dies war das Motto ihres Vaters gewesen. Außerdem hatte sie keinen Grund, sich so hängen zu lassen, denn es gab viele Menschen, denen es deutlich schlechter ging als ihr. Bisher hatte immer die Sonne irgendwann alles Grau vertrieben, selbst das Grau ihrer Gedanken. Es kann nicht immer regnen! Dieser Spruch kam ihr spontan in den Sinn und sie dachte an ihre Lieblings-DVD, die sie sich mal wieder anschauen könnte. Heute wäre wirklich der perfekte Tag dafür. Ihre Schritte wurden noch etwas schneller. Sie wollte nach Hause, dorthin, wo sie sich sicher fühlte. Tief durchatmend versuchte Cassandra das prickelnde Angstgefühl zu unterdrücken, welches sie schon den ganzen Morgen zu verdrängen versucht hatte. Ihre Gedanken schweiften erneut ab. Gestern hatte sie ihre Vergangenheit eingeholt. An die Konsequenzen wollte sie nicht denken. Doch die Erinnerungen an die Ereignisse von damals drängten sich ihr auf und ließen sie das Geschehene immer wieder durchleben. 8 Sieben Jahre war es nun her, dass sie ihn das letzte Mal gesehen hatte und er hatte sich nicht verändert. Eins neunzig groß, schlank, durchtrainiert. Sein Haar war noch immer schwarz ohne eine einzige graue Strähne. Plötzlich hatte er auf der gegenüberliegenden Straßenseite gestanden und sie mit seinen ungewöhnlich dunkelblauen Augen angesehen. Dieser Blick hatte ausgereicht, um ihr einen kalten Schauer über den Rücken zu jagen. Aber ebendieser Blick hatte die Sehnsucht nach einem anderen, fast vergessenen Gefühl in ihr wiedererweckt. Ohne, dass er auch nur ein Wort an sie hatte richten müssen, war ihr bewusst geworden, dass es endlich vorbei war. Zum Weglaufen war es jetzt eh zu spät. Sie wollte es auch nicht mehr. Zu lange schon fühlte sie sich ausgebrannt und war fast erleichtert, dass der Kreis sich endlich schloss. Mit Noel hatte es begonnen und mit würde es enden! Das letzte Mal, dass er sie so angesehen hatte, würde sie niemals vergessen. Anfangs verfolgte er sie jede Nacht in ihren Träumen, mit der Zeit weniger oft. Doch er war da, hatte sich tief in ihr Gedächtnis gebrannt, auf immer und ewig. Allein dieser Blick sagte er ihr all das, was er ihr nicht mit Worten hatte sagen können, damals nicht, wie heute: Ich liebe dich, aber ich kann und darf dich nicht am Leben lassen! Sie dachte an diesen bestimmten Abend zurück, es war Jahre her und doch kam es ihr so vor, als sei es gestern gewesen. Er war schon so unnatürlich still gewesen, als er von der Arbeit nach Hause gekommen war. Sofort hatte sie gespürt, dass etwas nicht stimmte. *** Cassandra tüftelte gerade an einem neuen Schnittmuster. Elara war mit ihrem Paten Mick, Noels Onkel, unterwegs 9 und sie nutzte die Zeit, in der sie ungestört arbeiten konnte. Als sie hörte, wie die Tür ins Schloss fiel, erwartete sie wie üblich Noels »Hallo«, doch heute blieb es aus. Es war ein Ritual, dass er sie sofort nach dem Hereinkommen begrüßte. Verwundert stand sie auf und wollte nachschauen, als Noel plötzlich vor ihr stand und sie wortlos umarmte. Er drückte sie an sich, als ob es kein Morgen mehr geben würde. Normalerweise war er auch nicht so unnatürlich still. Etwas musste vorgefallen sein. »Hey, ist alles in Ordnung? War es sehr stressig in der Firma?« Sein Brummen war die einzige Antwort, die sie bekam. Irgendwann würde er sicherlich mit ihr darüber reden, sie sprachen schließlich immer über alles. Wie gut, dass sie heute sein Lieblingsessen gekocht hatte. Damit würde sie seine Laune bestimmt aufbessern und wenn nicht damit ... Es gab ja noch andere Möglichkeiten, sobald Elara im Bett war. Ein Lächeln schlich sich in ihr Gesicht. »So und jetzt musst du mich loslassen, sonst gibt es gleich keinen Schmorbraten, sondern einen ›Verschmort-Braten‹.«. Noel ließ sie nur unwillig los und seufzte. Für einen Moment sah er sie mit dieser Mischung aus Liebe und Traurigkeit an, die sie schon öfter bei ihm bemerkt hatte. So, als ob er sich jedes Detail ihres Gesichtes einprägen wollte. »Manche Tage sollte man aus dem Kalender streichen.« »Auch wenn es an diesen Tagen Schmorbraten gibt?« Noels Lächeln erreichte nicht seine Augen, als er sprach: »Nein, Tage mit Schmorbraten sollten eher mit Textmarker hervorgehoben werden.« Dann küsste er sie auf die Nase. Kurz darauf kam Noels Onkel mit Elara zurück. Noel hatte die Tür geöffnet und nach einer herzlichen Begrüßung kam Elara stolz mit ihrer neuen Puppe in die Küche, um sie ihr zu zeigen. 10 »Die ist aber toll. Willst du deiner neuen Puppe ihr neues Zuhause zeigen?« Elara nickte und ging in ihr Kinderzimmer. Ihr kleines Mädchen war schon jetzt eine gute Puppenmutti. Cassandra hörte, wie sich Noel von Mick verabschiedete. Kaum war er weg, klingelte das Telefon. »Noel kannst du bitte rangehen? Ich habe Kloßteig an den Händen.« Sie war ganz ins Kochen vertieft, als plötzlich die Küchentür aufsprang, die sie vorher geschlossen hatte. Leises Gemurmel war aus dem Wohnzimmer zu hören. Scheinbar war das Gespräch für Noel gewesen. Sie war niemand, der lauschte, doch als Noels Stimme lauter wurde, hörte sie doch etwas genauer hin. »Nein, jetzt noch nicht. Sie ist noch so jung. Ich weiß, dass es irgendwann so weit sein wird, dass ich es tun muss.« Dann machte Noel eine Pause, es sprach wohl gerade derjenige am anderen Ende der Leitung. Als Noel wieder sprach, klang er frustriert. »Ja Vater, es ist das Gesetz und ich werde es achten. Ich wusste, worauf ich mich einlasse, wenn ich sie heirate.« Okay, das war seltsam. Mit schlechtem Gewissen konzentrierte sie sich auf Noels Worte. Er sprach also mit seinem Vater und es ging um sie. Noels Stimme wurde eindringlicher, als er weitersprach: »Ich werde alles tun, um Elara zu schützen, das steht außer Frage!« Leiser dann: »Es war mir von Anfang an klar, dass Cassandra der Preis dafür sein könnte, ein einziges Mal in meinem Leben glücklich zu sein. Ich hatte Hoffnung, Vater. Warum wird diese Hoffnung bestraft?« Nach einer weiteren Pause antwortete er seinem Vater entschlossen: »Nein, ich werde ihr selbst die letzte Gnade erweisen, wenn die Zeit dafür reif ist. Das bin ich ihr schuldig. Sie werden es nicht tun, das lasse ich nicht zu! Ich bin ihr Ehemann und es ist meine Aufgabe und meine Pflicht, 11 ihr das Leben zu nehmen.« Dann hörte sie, wie der Hörer auf den Tisch geknallt wurde. Geschockt stützte sie sich an der Arbeitsplatte ab. Nur langsam realisierte sie die Bedeutung von Noels Worten. Sie waren doch glücklich zusammen, hatten eine wundervolle Tochter, warum zum Teufel wollte er sie töten? Die Angst lähmte sie und raubte ihr den Atem. War das das Ende? Sie hatten noch so viele Träume und Pläne. Sogar über ein zweites Kind hatten sie gesprochen ... Doch dann kamen ihr die vielen Momente in den Sinn, in denen Noel sie ebenso angesehen hatte wie kurz zuvor. Diese Blicke tiefer Liebe mit einem dunklen Schatten darüber. Sie war verwirrt, doch eines war sicher: Sie wollte nicht sterben. Sie musste mit ihrer Tochter fliehen! Das Essen verlief ruhig, Elara erzählte von ihrem Nachmittag mit ihrem Paten und es war, als hätte das Telefonat niemals stattgefunden. Wie an jedem Abend erledigte Cassandra den Abwasch, während Noel Elara zu Bett brachte. »Magst du auch einen Weißwein?« Cassandra wunderte sich, dass ihre Stimme nicht zitterte. »Gern, nach so einem Tag kann ich den gebrauchen.« Als Cassandra wieder ins Wohnzimmer kam, saß Noel auf dem Sofa und lächelte. Sie reichte ihm sein Glas und setzte sich in den Sessel ihm gegenüber. »Danke! Ich hoffe, dass der morgige Tag besser wird. Es tut mir leid, dass ich heute so kurz angebunden bin.« Er hob sein Glas und sagte: »Auf Morgen!« Cassandra blieben fast die Worte im Hals stecken, als sie seinen Toast wiederholte: »Auf Morgen!« Dann stieß sie mit ihm an und schaffte es nicht, ihm in die Augen zu sehen, als er das Glas an die Lippen führte. Er zögerte, doch dann trank er es in einem Zug aus. 12 Wieder sah er sie mit diesem gewissen Blick an. Fast als ob er wüsste, was sie gerade getan hatte. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Er schwieg ebenfalls, bis er leicht schwankte, bevor er bewusstlos auf dem Sofa zur Seite kippte. Das Schlafmittel, welches sie ihm in den Wein gemischt hatte, war stark. Es würde noch eine Weile wirken. Sie ging zu ihm, kniete sich vor die Couch und legte ihre Wange an sein Gesicht. Erst dann erlaubte sie sich, um ihre verlorene Liebe zu weinen und nahm sich die Zeit, die sie brauchte, um Noel Lebewohl zu sagen. *** Sie hatte nur das Nötigste für ihre Tochter und sich zusammengepackt, das ganze Bargeld aus dem Safe genommen und dann ein Taxi gerufen. Ihre Tochter war zum Glück nicht wachgeworden. Aus dem Taxi hatte sie ihren Vater angerufen, der ihr ihre Verzweiflung direkt angemerkt hatte und sie hatten sich am Bahnhof verabredet. Von dort aus führte ihre Flucht nach Paris. In dieser Nacht hatte sie erfahren, dass ihr Vater schon lange alles für eine Flucht vorbereitet hatte. »Um schnell reagieren zu können, falls ihr einmal die Augen geöffnet werden würden«, so hatte er sich ausgedrückt. Er hatte sie in all den Jahren nicht ein einziges Mal gefragt, was tatsächlich vorgefallen war und sie war ihm unendlich dankbar dafür. In den vier darauffolgenden Jahren waren sie nie lange an einem Ort geblieben. Durch seine Beziehungen zur Polizei hatte ihr Vater immer gewusst, wenn sie nicht mehr sicher waren und sie zogen weiter. Sie waren nun schon fast seit drei Jahren in Trier und bisher war es ruhig geblieben. Es hatte keine Anzeichen gegeben, dass man ihren Aufenthaltsort herausgefunden hatte. Elara fragte inzwischen immer seltener nach ihrem 13 Vater und sie hatte hier endlich so etwas wie ein Zuhause gefunden. Bald würde ihre Tochter zehn Jahre alt werden und Cassandra war erleichtert darüber, dass sie momentan nicht hier war. Seit im letzten Jahr ihr eigener Vater gestorben war, sah sie einiges mit anderen Augen. Sie wollte nicht mehr weglaufen, nicht mehr kämpfen. Sie wollte und musste sich endlich ihren Ängsten stellen, wenn sie Elara ein normales Leben ermöglichen wollte. Und wenn es so sein sollte, musste sie auch ihr Schicksal akzeptieren. Sie zog eine Grimasse, denn diese letzte Konsequenz fiel ihr nicht leicht. Sie hatte sogar kurz überlegt die Polizei einzuschalten, aber tief im Innersten hatte sie gewusst, dass diese ihr auch nicht helfen konnte. Ihr Vater hatte ihre dunklen Stimmungen aufgefangen und sie darin bestärkt, weiterzumachen, zu kämpfen, zu versuchen den Sinn hinter allem zu finden. Doch seit er tot war, fühlte sie sich ausgebrannt und ihr wurde Tag für Tag deutlicher bewusst, wie sehr sie ihn vermisste. Sie hatte zwischenzeitlich viel Zeit gehabt nachzudenken und war mit sich selbst im Reinen. Eigentlich sollte sie bereit sein die Vergangenheit zu empfangen, warum war sie es nicht? Gleich würde sie zu Hause sein. Es wurde auch langsam Zeit, denn ihre Regenjacke war scheinbar doch nicht so regenfest, wie sie gedacht hatte. Sie hatte nichts davon mitbekommen, dass sie gerade einmal quer durch die ganze Innenstadt gelaufen war. Vorbei am Pranger, über den Hauptmarkt mit St. Gangolf, Steipe, Petrusbrunnen und Marktkreuz, dann die Simeonstraße entlang, bis zur Porta Nigra. Ihre Gedanken hatten sie zu sehr in ihren Bann gezogen. Es waren nur noch wenige Meter, die sie noch durch die Paulinstraße gehen musste. Mit jedem Schritt freute sich mehr auf den Auftrag, den sie gleich fertigstellen würde. Hochzeitskleider zu schneidern war eine Herausforderung 14 und gleichzeitig eine willkommene Abwechslung zur normalen Änderungsschneiderei. Als sie in die Maximinstraße bog, sah sie einen großen schwarzen Mercedes mit getönten Scheiben auf der anderen Straßenseite stehen. Sie gab sich Mühe, nicht zu offensichtlich herüberzuschauen. Stattdessen ging sie zielstrebig auf den Torbogen zu und überquerte schnell den Hof, um zu ihrer Haustür zu kommen. Ihre Hände zitterten leicht, als sie den Schlüsselbund aus der Tasche nahm. Sie steckte den Schlüssel in das Schlüsselloch und war dankbar, als sie das Klacken des Türschlosses hörte. Kurz lächelte sie, sie wurde schon langsam paranoid, sicherlich hatte sie sich das alles nur eingebildet. Cassandras Herz machte einen Satz, als sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter spürte. Sie erstarrte und schloss die Augen. Sollte sie sich umdrehen oder abwarten und hoffen, dass es schnell vorbei sein würde? Hatte sie wirklich den Mut sich bewusst ihrem Schicksal zu stellen, so wie sie es sich vorgenommen hatte? Sich für den Mut entscheidend öffnete sie ihre Augen, atmete tief durch und drehte sich um. Dass sie zu dritt waren, überraschte sie. Sie kannte Mick und Jerry und wusste, dass sie die Mitglieder der Familie waren, die normalerweise überall dort eingesetzt wurden, wo es Probleme gab. Sie selbst nannten sich scherzhaft die Putzkolonne, was Cassandra noch nie wirklich witzig fand. Offiziell hatte die Familie Sander ein Sicherheitsunternehmen, ›das‹ Sicherheitsunternehmen Europas. Anhand von Gesprächsfetzen und Andeutungen war es ihr allerdings auch klar gewesen, dass das nicht alles sein konnte. Allerdings hatte sie es früher nie hinterfragt, hatte Noel blind vertraut. Ich sollte mich geehrt fühlen, dachte sie mit einem gehörigen Schuss Sarkasmus, dass sie wegen mir hier sind. In 15 diesen Genuss kam normalerweise nicht jeder. Sie straffte ihre Schultern, nahm ihren ganzen Mut zusammen und zwang sich dazu, zu lächeln. »Hältst du mich wirklich für so gefährlich, dass du Mick und Jerry mitbringen musstest?« Cassandra wunderte sich selbst über die Ruhe, die sie plötzlich erfüllte und über so etwas wie Freude darüber, Noels Onkel und ihren Schwager wiederzusehen. Wie irrational! Wie selbstverständlich ging sie auf Mick zu und umarmte ihn. Bei dem ersten Schritt in seine Richtung zuckte seine Hand zur Jacke, dann entspannte er sich und erwiderte ihre Umarmung. Dabei konnte sie deutlich seine Waffe unter der Jacke spüren. Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Es war fast wie früher, nur auf das strahlende Lächeln, welches er ihr immer geschenkt hatte, musste sie heute verzichten. Cassandra drehte sich um, knuffte Jerry in die Seite und konnte es sich nicht verkneifen, seine goldenen Locken zu zerwuscheln. Er sah sie ernst und ungläubig zugleich an, als ob er es mit einer Verrückten zu tun hatte. Diese Meinung teilte er scheinbar mit Noel und Mick, denn die Blicke der beiden Männer waren eindeutig. Michelangelo und Jericho hätten unterschiedlicher nicht sein können. Mick war mindestens zwei Meter groß, hatte einen Körper wie ein Bodybuilder und man sah ihm sein Alter nicht an. Vor kurzem musste er 50 geworden sein. Er war Elaras Patenonkel und ihre Tochter hatte ihn damals abgöttisch geliebt. Jerry, Noels kleiner Bruder, sah aus wie ein Engel, blond, schlank, schulterlange Locken. Mit seinen wasserblauen Augen und dem sinnlichen Mund mit den wunderschön geschwungenen Lippen, war er viel zu schön für einen Mann. Er war genauso alt wie sie, hatte sich aber, wie die anderen beiden auch, nicht verändert. Veränderte man sich in sieben Jahren überhaupt? Wenn sie jetzt darüber nachdachte, ärgerte sie sich über ihre Naivität. Damals fragte 16 sie sich, warum Noels Bruder den makabren Spitznamen Todesengel hatte. Nun war es klar. Cassandra sah zu Noel. Er wich ihrem Blick nicht aus. Sein Gesicht war ausdruckslos. Selbst als sie ihn auf die Wangen küsste, war keine Gefühlsregung zu erkennen. Sie ging einen Schritt zurück und sah, dass Noel Jerry ein Zeichen gab, der daraufhin hinter sie trat. Cassandra spürte, wie sich seine Hände fest um ihre Oberarme schlossen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und sie blickte Noel anklagend in die Augen, nur um dort ihren Schmerz widergespiegelt zu sehen. Mick stand plötzlich vor ihr und streichelte, wie einem Kind zum Trost, über ihre Wange. Sie konnte nicht verhindern, dass sie vor dieser Berührung zurückzuckte. Mit einer fließenden Bewegung zog er sein Messer. Das war die pure Ironie. Es war das gleiche Messer, welches Noel und sie ihm zu seinem 40. Geburtstag hatten anfertigen lassen. Die silberne Klinge mit den eingravierten Zeichen blitzte auf, als Mick sanft flüsterte: »Schließ die Augen Cassandra, es ist gleich vorbei.« Ihr Verstand weigerte sich seiner Aufforderung nachzukommen, dabei wäre es so viel einfacher gewesen. Sie redete sich ein, dankbar sein zu können, dass Noel Mick auserwählt hatte. Er würde sie nicht leiden lassen. Nur ein kurzer Moment des Schmerzes und sie musste nie wieder fliehen. Dann hätte sie endlich ihre innere Ruhe und ihren Frieden wieder. Doch im selben Moment wurde ihr klar, dass sie nicht wollte, dass es so endete, nicht hier auf dem Hof. Außerdem war ihr Noel vorher noch die Antwort auf das ›Warum‹ schuldig. Warum durften sie nicht ihr glückliches Leben weiterführen? Warum musste Elara geschützt werden und warum sollte sie selbst sterben? So viele offene Fragen. Sie musste einfach die Antworten darauf bekommen! Flehend schaute sie Noel an, bevor sie sprach: »Bitte nicht hier draußen vor der Tür, nicht so. Ich verspreche dir, ich 17 werde nicht um Hilfe rufen und ich laufe auch nicht weg. Ich werde alles tun, was du willst«. Sie wandte sich um. »Jerry, bitte lass mich los.« Beide Männer sahen Noel fragend an und dieser gab nickend sein Okay. Er hatte noch immer kein Wort gesprochen. Jerry ließ sie endlich los, drehte sich im selben Moment um, öffnete die Tür und zog Cassandra mit sich hinein. Mick nahm ihr den Wohnungsschlüssel aus der Hand, mit dem er hinter ihnen zuschloss. »Moment, ich muss noch ein Schild ins Fenster stellen, damit meine Kunden nicht misstrauisch werden.« Cassandra nahm die kleine Schiefertafel, die sie für diese Zwecke bereitgelegt hatte, und schrieb den Hinweis: "Aus familiären Gründen bis auf weiteres geschlossen", darauf. Mit einem traurigen Lächeln stellte sie die Tafel ins Fenster und dachte an die Ironie dieses Satzes. Nachdem sie den Vorhang des Fensters zugezogen hatte, wandte sie sich um. Die drei Männer standen wartend im Flur. »Kommt mit ins Wohnzimmer. Wollt ihr etwas trinken?« Hatte sie das jetzt wirklich gefragt? Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Die Männer folgten ihr. Als sie keine Antwort auf ihre Frage erhielt, setzte sie sich in ihren Lieblingssessel, der genauso aussah wie der, der früher in dem Haus ihrer Vergangenheit gestanden hatte. Sie sah, dass Noel ihn ebenfalls bemerkte. »Cassandra ...« Noel trat einen Schritt auf sie zu. »Du weißt, warum ich hier bin?« Als Noel sprach, wurde ihr bewusst, wie sehr sie sich nach dem Klang seiner Stimme gesehnt hatte. Sie war samtweich und doch männlich. Mit dem Versprechen, zu dem Wort zu stehen, das er ihr einmal gegeben hatte. Sie antwortete mit leiser, aber fester Stimme: »Ja, um es zu Ende zu bringen.« Mick und Jerry blickten betreten zu Boden. 18 Cassandra schaffte es zu lächeln, als sie sagte: »Jetzt schaut nicht so wie bei einer Beerdigung, ich bin noch nicht tot. Spart euch diese Blicke für später auf, dann muss ich sie wenigstens nicht mehr sehen.« »Ich finde das nicht im Entferntesten so witzig wie du, Carry.« Jerrys Stimme klang hart und doch irgendwie verletzt. »Meinst du, das hier würde uns Spaß machen?« Dieses Mal war sie scheinbar nicht sehr erfolgreich damit gewesen, die angespannte Stimmung mit einem witzigen Spruch aufzulockern. Früher war sie besser darin gewesen. Entschuldigend sah sie Jerry an und fügte in Gedanken hinzu: Nein Jerry, Spaß ist wohl nicht der richtige Ausdruck! Zumindest dieses Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit. Ihr fiel auf, dass er nicht so förmlich war wie Noel, er nannte sie bei ihrem Spitznamen, ›Carry‹. Es würde früher oder später passieren, ihr Tod war nur noch eine Frage von Minuten. Das Seltsame dabei war, dass sie inzwischen eher Erleichterung empfand als Angst. Es war ein eigenartiges Gefühl, fast befreiend. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen, jetzt brauchte sie nur noch die Gewissheit, dass für Elara gesorgt war. Nach ihrem Tod … Cassandra schluckte den Kloß herunter, der sich in ihrem Hals gebildet hatte, damit sie überhaupt sprechen konnte. »Ich habe dir versprochen, dass ich nicht fliehe, Noel. Ich werde mein Schicksal akzeptieren, aber ich möchte dich um einen Gefallen bitten, genau gesagt sogar um mehrere.« Schweren Herzens fuhr Cassandra fort. »Als Erstes möchte ich dein Versprechen, gut für Elara zu sorgen. Das ist mir das Wichtigste.« Er nickte nur, doch sie wusste, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. »Zweitens möchte ich dir Briefe geben, die ich für Elara geschrieben habe, für jedes Lebensjahr einen, bis zu ihrem 19 18. Geburtstag. Einer ist für ihre Hochzeit, falls sie jemals heiraten wird und ein weiterer zur Geburt ihres ersten Kindes. Du darfst sie gerne vorher lesen, aber es ist mir wichtig, dass sie die Briefe erhält.« Cassandra atmete tief durch, sie hatte alles geplant. Schon lange hatte sie das Gefühl gehabt, dass irgendetwas passieren würde, was es ihr unmöglich machen würde, Elara all diese Dinge persönlich zu sagen. »Und drittens möchte ich nicht, dass Blut in dieser Wohnung vergossen wird. Das hier ist Elaras Zuhause, sie soll es nicht mit einem gewaltsamen Tod in Verbindung bringen. Ich vertraue darauf, dass nicht sie es ist, die mich finden wird. Sie soll mich so in Erinnerung behalten, wie sie mich bei unserem Abschied zum letzten Mal gesehen hat.« Es fiel ihr schwer, ihre Stimme ruhig zu halten. Ihre Hände zitterten schon verräterisch genug. Noel hatte sie nicht aus den Augen gelassen und bewunderte Cassandras Ruhe und Entschlossenheit in dieser Situation. Sie war erstaunlich gefasst und er wurde einmal mehr daran erinnert, warum er sich damals in sie verliebt hatte. Ruhig sagte er: »Cassandra, ich verspreche dir, gut für unsere Tochter zu sorgen. Die Briefe werde ich ihr natürlich geben. Wir werden deine Wünsche akzeptieren und Elara wird es an nichts fehlen.« Er streckte die Hand nach ihr aus und zog sie dann wieder zurück. Diese kleine Geste gab Cassandra den Mut es endlich auszusprechen. Das Wort, welches sie jetzt seit sieben Jahren am meisten quälte: »Warum?« Sie sah Noel bittend an und wollte eine Antwort, eine Erklärung, eine Begründung, warum ihr Leben hier und heute vorbei sein sollte. Etwas, das ihr diese ganze aberwitzige Situation erklären würde. »Ich kann dir auf diese Frage leider keine Antwort geben, zumindest keine, die dir die Erklärung liefern würde, die du dir erhoffst. Ich darf es nicht. Ich kann dir nur versichern, 20 dass es sein muss, für Elara und, auch wenn du es sicherlich nicht verstehst, für dich selbst. Glaube mir, manchmal ist ein schneller Tod nicht das schlimmste Schicksal.« Bei seinen letzten Worten wurde Noels Stimme sanft und bittend, so als ob er sie für das Kommende um Verzeihung bitten wollte. Es war zwar nicht die Antwort, die sie sich erhofft hatte, aber es musste ihr wohl genügen. Sie hatte wieder das Gefühl des Ausgebranntseins und keine Kraft mehr, weiterhin auf eine Antwort zu bestehen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich einem hysterischen Anfall so nah gefühlt wie gerade. In dieser Situation war das auch kein Wunder. Allerdings wollte sie sich solch eine Blöße in den letzten Minuten ihres Lebens definitiv nicht geben. Wenn sie heute schon sterben sollte, dann mit so viel Stolz und Würde, wie es ihr möglich war. »Mick, du hast Caras Wunsch gehört.« Sie spürte einen Stich und es war, als ob ihr Herz für einen Moment aussetze. Er hatte sie Cara genannt, wie früher und wieder fragte sie sich, warum es so weit gekommen war. Mick nickte. »Ich habe alles Erforderliche im Auto um es natürlich aussehen zu lassen. Es dauert nicht lange.« Cassandra sah ihm nach und griff nach dem Bild von Elara und ihr, das auf dem Tisch neben dem Sessel stand. Es war vom letzten Monat. Ein Schnappschuss von einer Wildwasserbahn eines Vergnügungsparks. Sie konzentrierte sich einen Moment lang auf die zwei lachenden Gesichter, dann wandte sie sich an Noel: »Du kannst stolz auf deine Tochter sein. Sie ist einfach großartig. Gut in der Schule, sehr aufmerksam und einfühlsam. Sie weiß was richtig und was falsch ist.« Mit sich kämpfend, zwang sie sich zu einem Lächeln. Nein, sie würde jetzt nicht weinen. Das hatte sie sich geschworen und kämpfte die Tränen zurück, die schon verräterisch in ihren Augen brannten. »Ich bin mir sicher, dass sie dir sehr ähnlich ist, Cassandra«, erwiderte er. 21 Cassandra versuchte einen klaren Gedanken zu fassen und dachte an ihre Tochter. Was war noch wichtig, was musste sie Noel noch unbedingt mitteilen. Ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Watte gefüllt. »Dort im Adressbuch findest du die Adresse des Reiterhofes, wo sie momentan ihre Ferien verbringt, aber du weißt sicherlich schon, wo sie sich befindet oder?« Er nickte nur, doch diese Geste sagte mehr als 1000 Worte. Überhaupt sollte sie jetzt in diesem Moment Angst um ihr Leben haben, vor ihrem Tod, vor der Ungewissheit. Aber das Einzige, was sie im Moment empfand, war die Traurigkeit, dass sie nicht die Chance haben würde, Elara weiter aufwachsen zu sehen. Die Haustür fiel ins Schloss und kurz darauf betrat Mick das Wohnzimmer. Er hatte eine kleine, schwarze Ledertasche in der Hand. »Wo sollen wir es tun?« Er überließ es ihr. Cassandra stand ohne nachzudenken auf, ging ins Schlafzimmer und setzte sich auf die Bettkante. Noel und Mick kamen nach und stellten sich neben sie ans Bett. Jerry blieb an den Türrahmen gelehnt stehen. Sein Gesicht zeigte keinerlei Emotionen, allein seine Augen verrieten, dass er innerlich nicht so ruhig war, wie er es nach außen den Anschein hatte. Seufzend stand sie wieder auf und ging zu ihm, blieb vor ihm stehen und blickte zu ihm hoch. Seit ihr Bruder Paul damals ums Leben gekommen war, war er wie ein Bruder für sie gewesen. Sie wollte nicht, dass er sich Vorwürfe machte. Zögernd streckte sie die Hand aus und nahm seine Hand in ihre. »Ich möchte mich von dir verabschieden, Jerry. Ich wollte dir nur sagen, dass ich mein Schicksal akzeptiert habe. Denke ab und an an mich und erzähle Elara von dem Unsinn, den wir zusammen angestellt haben, das wird ihr bestimmt gefallen.« Sie versuchte für ihn zu lächeln, doch Jerry sah sie 22 mit versteinerter Miene an und nickte. Dann wandte sie sich Mick zu. Sie streckte die Hand aus. Doch statt sie anzunehmen, kam er auf sie zu und drückte sie fest an sich. »Es tut mir so leid.« Mick strich ihr über das Haar. »Ist schon gut, Mick. Ich weiß, dass all das einen Grund haben muss, einen tieferen Sinn, auch wenn ich ihn nicht verstehe.« Sie seufzte, nun kam der schwerste Teil - Noel. Sie standen sich gegenüber. Keiner traute sich, den anderen auch nur zu berühren oder das erste Wort zu sprechen. Nach gefühlten Minuten brach Noel das Schweigen. »Möge der Himmel dich mit offenen Pforten empfangen!« Es waren nicht die Worte, mit denen sie gerechnet hatte, doch sie war froh, dass der Abschied nicht emotionaler ausgefallen war. Sonst hätte sie die Tränen nicht länger zurückhalten können. Kurz und knapp antwortete sie: »Danke, Noel. Leb wohl.« Sie setzte sich wieder aufs Bett und nickte Mick zu, um ihm zu zeigen, dass sie bereit war. Mick öffnete den Reißverschluss der Ledertasche und klappte sie auf. In ihr waren diverse Ampullen und Phiolen. Er nahm ein kleines Fläschchen heraus, welches mit einer braunen Flüssigkeit gefüllt war. Noel hob fragend die Brauen und Mick sagte: »Du musst es nur trinken, Carry.« Sie schloss die Augen, um sich zu sammeln. Sofort schossen ihr Bilder und Berichte durch den Kopf von Leuten, die sich mit Gift selbst umgebracht hatten und elendig hatten leiden müssen. Sie versuchte ihre Hände ruhig zu halten und verschränkte die Finger, damit sie das Zittern einigermaßen verbergen konnte. »Mick, bitte sag mir genau, wie es sein wird.« Diese verdammte Angst vor dem Unbekannten! »Vertraust du mir, Carry?« 23 Vertraute sie ihm? »Ja!« Ihre Stimme zitterte. Sanft sagte er: »Es wirkt wie ein starkes Schlafmittel, du wirst einfach einschlafen. Du wirst keine Schmerzen haben, das verspreche ich dir.« Auf alles Weitere ging er nicht ein, aber das musste sie auch nicht wissen. »Bist du bereit? Hast du noch einen letzten Wunsch oder möchtest du beten?« Sie antwortete leise: »Du weißt, dass ich nicht sehr gläubig bin, Mick.« Cassandra dachte nach, ihr fiel nichts ein, was sie in diesem Moment wollte, außer, dass es schnell vorbei war. Mick öffnete den Verschluss und gab ihr das Fläschchen. Während sie es in einem Zug austrank, blickte sie Noel direkt in die Augen. Die Flüssigkeit schmeckte bitter und süß zugleich und sie musste sich beherrschen, um nicht zu würgen. Inzwischen zitterte sie am ganzen Körper und versuchte ruhig zu atmen. Sie wollte stark bleiben, das hatte sie sich vorgenommen. Mick schaute besorgt zu Noel und dann wieder zu ihr. Noch konnte sie die Wirkung der geheimnisvollen braunen Flüssigkeit nicht spüren. Wie lange hatte sie noch? Keiner der Männer ließ sie aus den Augen und doch fühlte sie sich gerade unendlich allein. Plötzlich wusste sie, was ihr letzter Wunsch war. Entschlossen wandte sie sich an Noel, denn sie hatte nichts mehr zu verlieren. Mit erstaunlich fester Stimme sagte sie: »Mein letzter Wunsch ist, dass du mich noch einmal küsst und mich im Arm hältst, bis ich eingeschlafen bin.« Sie wollte nicht mit dieser innerlichen Leere gehen. Sie wollte nicht länger alleine sein. Noel ging langsam zum Bett. Vorsichtig legte er sich neben sie und nahm sie ebenso vorsichtig in den Arm, als ob sie zerbrechlich wäre. Oh Gott, es fühlte sich so gut an! Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten. Gefühle … Sie waren fast überwältigend. Seine Lippen näherten sich ihren, 24 und als sie sich zart berührten, durchfuhr sie ein kleiner Stromschlag. In derselben Sekunde erinnerte sie sich an alle glücklichen Momente ihres gemeinsamen Lebens und in seinen Augen erkannte sie, dass es bei ihm ebenso war. Fest drückte er sie an sich, als ob er sie nie wieder loslassen wollte. Cassandra legte ihr Gesicht an seine Brust. Sein unvergleichlicher Duft hüllte sie ein und sein ruhiger Herzschlag beruhigte sie oder war das die Wirkung des Mittels? Es fiel ihr immer schwerer, ihre Augen offen zu halten und sie kämpfte inzwischen auch nicht mehr dagegen an. Verwundert bemerkte sie, dass alle Angst verschwunden war. Stattdessen erfüllten sie ein tiefer innerer Frieden und eine Ruhe, die sie schon lange nicht mehr verspürt hatte. All das, was gewesen war, driftete immer weiter von ihr weg. Das Letzte, was sie hörte, war Noels Stimme: »Ich liebe dich, Cara, und werde dich immer lieben.« War es Wirklichkeit oder ein Traum? Dann wurde alles schwarz. 25 2 Das Urteil Noel hielt Cassandra noch immer im Arm, strich ihr zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und küsste sanft ihre Stirn. Wie friedlich sie aussieht, wenn sie schläft, dachte er. Er sah sie genauer an. Sie hatte sich in den letzten Jahren nicht sehr verändert. Ihre kupferroten Locken waren vielleicht etwas länger und er sah das ein oder andere Lachfältchen in ihrem Gesicht, was sie seiner Meinung nach noch schöner machte. Sie war schon immer schlank gewesen, aber inzwischen kam sie ihm noch zarter vor und er hatte das starke Bedürfnis, sie zu beschützen. Er war Jerry und Mick dankbar, dass sie sich dazu bereiterklärt hatten, ihn zu begleiten, nachdem der Rat ihm mitgeteilt hatte, dass es an der Zeit war, seine Aufgabe zu Ende zu bringen. Vor diesem Tag hatte er sich die letzten sieben Jahre gefürchtet. Jetzt, wo er da war, brach für ihn ein zweites Mal eine Welt zusammen. Er wusste, dass er keine Wahl hatte. Nach außen hin zeigte er keine Regung, doch in seinem Inneren sah es anders aus. Er erinnerte sich an gestern. Entgegen seiner Erwartung war sie nicht in Panik ausgebrochen. Für einen kurzen Moment hatte sie ihm sogar direkt in die Augen geschaut. Dann war sie seelenruhig ins Haus gegangen. Sie hatte einfach weitergemacht, als wäre nichts vorgefallen, weder die Polizei verständigt, noch versucht zu fliehen. Selbst heute 26 Morgen hatte sie das Haus ganz normal verlassen und war in ein Café frühstücken gegangen. So als wäre es nur ein weiterer Tag in ihrem Leben und nicht der Letzte. Ihre Reaktion, als sie Cassandra vor ihrer Haustüre abgefangen hatten ... Andere hätten geschrien oder gebettelt, nicht sie. Wie wenn sie sich mit der Situation, ihrem Tod, abgefunden und ihn akzeptiert hätte. Während sie ihn zur Begrüßung auf die Wange geküsst hatte, hatte er seine Hände zu Fäusten geballt, um sie nicht an sich zu drücken. Er hätte sie nicht wieder loslassen können. Cassandra hatte sie hereingebeten und sogar die Gastfreundschaft hatte sie nicht vergessen, obwohl sie genau gewusst hatte, warum sie gekommen waren. Trotzdem hatte sie keine Angst vor ihnen gezeigt, sie war sie selbst geblieben, hatte sogar gescherzt. Sarkasmus war damals schon ein großer Teil ihrer Persönlichkeit gewesen und Überraschungen standen bei ihr auf der Tagesordnung. Jerrys Gesichtsausdruck bei ihrem Scherz würde er niemals vergessen. Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht. Er hätte sie eben am liebsten in den Arm genommen, sie geküsst, gesagt, dass die letzten sieben Jahre die schlimmsten seines Lebens gewesen waren, aber er hatte es sich verboten. Ihr Blick, als sie nach dem Warum fragte, hatte ihn tief getroffen. Es war ihm verboten worden, ihr die erhofften Antworten zu geben. Und er wollte es nicht hinauszögern, wollte es für sie so einfach wie möglich machen, ihr nicht noch zusätzliche Schmerzen zufügen. Während sie ihm erzählte, dass sie für Elara Briefe geschrieben hatte, war ihm klargeworden, dass sie es gespürt haben musste. Sie hatte gewusst, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmt. Ihre Bedingungen für ihren eigenen Tod hatten ihn dann ganz aus der Fassung gebracht. Er war froh, dass Mick ihn begleitete, denn der Tod in all seinen Ausprägungen war sein Spezialgebiet. 27 Als es so weit war, hatte er das Zittern ihrer Hände sehen, die Angst riechen, ihren schnellen flatternden Herzschlag hören können und doch hatte sie das Mittel ohne zu zögern getrunken. Sie hatte voll und ganz auf Mick und sein Urteilsvermögen vertraut. Ihr letzter Wunsch hatte ihn vollkommen unvorbereitet getroffen und im ersten Moment hatte er sich weigern wollen, hatte es aber nicht gekonnt. Stattdessen hatte er sich zu ihr auf das Bett gelegt und sie geküsst. Dieser Kuss hatte alles verändert. Vorher war er sich zu 100 Prozent sicher gewesen, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte, ihr die Gnade zu erweisen. Doch in diesen wenigen Sekunden, die der Kuss gedauert hatte, hatte sich das Band zwischen ihnen erneuert, wenn nicht sogar verstärkt. Er wusste, dass wenn sie sterben würde, ein Teil von ihm mit ihr gehen würde und dass es einfach nicht richtig war, ihr Leben zu beenden. Sie gehörten zusammen! Cassandra durfte nicht sterben, nicht so! Sie musste zumindest eine Wahl haben und hatte das Recht auf die Wahrheit. Das war er ihr und sich selbst schuldig. Sie hatte sich vertrauensvoll an ihn geschmiegt und am Ende hatte sie loslassen können. Es war ihm ein Rätsel, wie sie so jemandem wie ihm noch Vertrauen schenken konnte. Mick trat ans Bett und sah auf Noel und Cassandra herab. Er hielt ein weiteres Fläschchen in der Hand. »Es ist Zeit, die Sache zu beenden, Noel. Drei Tropfen konzentriertes Skorpionidengift reichen aus. Sie wird nichts spüren.« Noel presste die Lippen aufeinander. Die Wut auf das Schicksal und sein Pflichtbewusstsein lieferten sich einen erbitterten Kampf. Dann schüttelte er wütend und entschlossen den Kopf. »Ich kann es nicht, Mick. Ich kann sie nicht gehen lassen, nachdem ich sie gerade erst wiedergefunden habe.« 28 »Du weißt, dass es sein muss. Schau sie dir an, wie friedlich sie aussieht. Sie hat ihr Schicksal akzeptiert und du willst sie mit aller Gewalt ins Verderben stürzen?« »Ich lasse es nicht zu, dass sie mir wieder weggenommen wird. Sie gehört zu mir!« »Du weißt, was das bedeutet«, wandte Jerry ernst ein. »Ja, kleiner Bruder, mit allen Konsequenzen«, antwortete Noel niedergeschlagen. Das Ritual war der einzige Ausweg, aber was würde er ihr damit antun? Er musste es zumindest versuchen, sie fragen, ob sie bereit war, es zu riskieren. Über die Folgen wollte er jetzt nicht nachdenken. Sie musste alles wissen und sollte sich dann erst entscheiden. Und wenn sie sich dagegen entscheiden würde ... Nein, sie würde sich nicht dagegen entscheiden, das war unmöglich, das durfte einfach nicht sein! »Mick, wann wird sie aufwachen?«, Noel sah auf seine Uhr. »In knapp drei Stunden denke ich.« »Was wisst ihr über das Ritual?« Das Ritual war ein Tabuthema in ihrer Familie. Die beiden Männer sahen Noel besorgt an. Sie hatten so etwas zwar erwartet, aber jetzt, da er es erwähnte, war es endgültig. »Vor allem, dass es nur eine einzige erfolgreiche Wandlung in den letzten vierhundert Jahren gab«, antwortete Jerry. »Noel, deine Mutter …«, begann Mick. »Ich weiß, was mit meiner Mutter während des Rituals passiert ist«, antwortete Noel mit einem drohenden Unterton in der Stimme, der die anderen zwei verstummen ließ. »Aber es muss nicht so kommen. Sie muss nicht so enden wie meine Mutter«, sagte er mit überzeugter Stimme. Mick und Jerry waren sich nicht sicher, ob er sich selbst oder sie von seinen Worten überzeugen wollte. Noel stand auf und ging ins Wohnzimmer. 29 »Jericho, du wirst auf sie aufpassen!« Jerry nickte und setzte sich in den Schaukelstuhl neben ihrem Bett. Er kannte seinen Bruder und Widerworte waren zwecklos, wenn Noel in dieser Stimmung war. Mick folgte seinem älteren Neffen ins Wohnzimmer und beobachtete, wie er das Bild von Elara und Cassandra hochnahm und anschaute. »Mick, kannst du mich wenigstens etwas verstehen? Weißt du, warum ich das tun muss?« »Ich versteh dich, aber kannst du dir vorstellen, was sie im Rat mit dir machen werden, wenn sie das hier erfahren?« »Ich weiß, ich weiß, aber das ist meine einzige Chance, dass wir wieder eine Familie werden, dass wir zusammen sein können.« »Wie viel willst du ihr verraten? Willst du wirklich ehrlich sein und ihr sagen, worauf sie sich einlässt und was das Ritual für sie bedeuten wird?« »Es ist unsere einzige Chance. Ich werde sofort zum Rat aufbrechen und seine Zustimmung erbitten. Ruf mich auf dem Handy an, sobald sie wach ist.« Noel verließ ohne zu zögern die Wohnung und fuhr los. Die Stadt nahm er nur aus den Augenwinkeln wahr. Das nächste Portal zum Wechsel zwischen den Welten befand sich ungefähr 20 km außerhalb der Stadt. Die Menschen dachten, sie wären der Gipfel der Evolution, doch gab es nicht nur ihre Welt, sondern soviel mehr als das. Mit ihren Wissenschaftlern, die forschten, um das Wissen der Menschheit zu erweitern, den Machthabern, die in ihrem Machtstreben nur auf den eigenen Vorteil bedacht waren, den Kriminellen, die über Leichen gingen, um ihr Ziel zu erreichen und auch den einfachen Leuten, die ihr Leben lebten und für die meisten Dinge blind waren. Es gab auch sie, die Fallen, gefallene Engel, die seit Ewigkeiten dazu 30 verdammt waren, diese schwachen Wesen zu beschützen, das Unbekannte vor ihnen zu verbergen und sie in Sicherheit zu wiegen. Nachdem er sein Auto an einem Waldweg geparkt hatte, setzte er seine Sinne ein und schickte sie aus, um zu erkennen, ob ein menschliches Wesen in der Nähe war. Doch er spürte nur die Lebensfunken von kleineren Waldtieren. Noel gab seinem Körper den Befehl, sich zu verwandeln. So erreichte er das Portal viel schneller, als es ihm in seiner menschlichen Gestalt möglich gewesen wäre. Er hasste es menschlich zu sein, so eingeschränkt, aber es war die einzige Möglichkeit, sich unter ihnen unerkannt zu bewegen und seiner Bestimmung nachzukommen. Das Portal war als solches nicht zu erkennen. Es bestand aus vier lose aufeinandergestapelten Felsbrocken. Ein Mensch würde es nicht ohne weiteres erkennen und selbst wenn, konnte er es nicht öffnen. Dazu benötigte man FallenMagie. Noel kniete nieder, nahm sein Messer aus einer verborgenen Scheide und zog es über die Handfläche. Er ballte seine Hand zur Faust, Bluttropfen fielen auf die Steine. Währenddessen sprach er die Worte des suchenden Reisenden. Die Luft über den Steinen begann zu flimmern, wie sie an heißen Tagen über dem Asphalt flimmerte. Es war das Zeichen, das Portal hatte sich geöffnet. In einer fließenden Bewegung stand er auf und sprang hindurch. Die Sekunden, die er für den Durchtritt auf die andere Seite benötigte, waren wie immer sehr unangenehm. Es fühlte sich an, als ob sich eisige Nadeln in seinen Körper bohrten und zur gleichen Zeit brannte die Luft in seinen Lungen wie flüssiges Feuer. Noel trat aus dem Torbogen und sah über die blauen Dächer von Myrdia. Wäre nicht der unnatürlich wirkende 31 goldene Himmel ohne Sonne gewesen, der aus sich heraus zu leuchten schien, hätte man Myrdia mit Santorin verwechseln können. Kleine, verwinkelte Gassen mit weißen Häusern waren kreisförmig um einen Hügel angeordnet, auf dem die prachtvolle von Säulen umgebene Ratshalle thronte. Vom oberen Portal hatte er nur einen kurzen Weg bis zu seinem Ziel. Die wenigen Myrdianer, die ihm auf seinem Weg begegneten, schauten ihn in seiner menschlichen Kleidung neugierig an. Die letzten Stufen zur Halle nutzte Noel, um sich auf das ihm bevorstehende Gespräch vorzubereiten. Bevor er den Türklopfer betätigen konnte, öffnete sich die Tür. Man hatte ihn schon erwartet. Alles Weitere war nur eine Formalität. »Was führt dich hier her, Fallen?« »Ich möchte um Erlaubnis bitten, vor dem Rat zu sprechen.« Der Ratsdiener nickte, dann verbeugte er sich, bevor er ihn in die Vorhalle führte und durch ein goldenes Tor in den Ratssaal ging, um ihn anzukündigen. Nervös ging Noel auf und ab. Die Vorhalle war riesig. Der Fußboden aus schwarzem Marmor glänzte und war der perfekte Kontrast zum Weiß der Wände und Decken. Die Fackeln und Feuerbecken tauchten alles in ein unwirkliches Licht. Für ihn dauerte es fast eine Ewigkeit, bis sich die Tür ein zweites Mal öffnete und der Ratsdiener ihn heranwinkte. Er atmete tief durch und trat ein. Bisher war er nicht oft im Ratssaal gewesen. Das letzte Mal, kurz bevor Cassandra mit Elara geflohen war. Er sah noch genauso aus wie damals, ein runder Raum, dunkel und fensterlos. Das einzige Licht kam von oben und von den Fackeln an den Wänden. Ihm gegenüber standen auf einer Empore zwölf Throne mit eindrucksvollen Schnitzereien, die einen Halbkreis bildeten. Vor ihnen standen zwölf Fallen mit langen schwarzen Umhängen, ihre Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. An den 32 Wänden waren kunstvolle Gemälde angebracht, die die Rebellion des gefallenen Engels Luzifer und seiner Verbündeten gegen Gott und das Himmelreich zeigten. Noel ging vor bis er in dem Lichtkegel, welcher das Zentrum des Raumes erhellte stehen blieb. Dann kniete er nieder und wartete darauf, dass der Rat ihn aufforderte zu sprechen. »Noel von den Fallen, erhebe dich.« Noel richtete sich langsam auf, hielt aber den Kopf ehrerbietig geneigt. »Hast du deine Aufgabe zu unserer Zufriedenheit erfüllt?« Ohne zu zögern, antwortete er: »Nein.« Ein Raunen ging durch den Raum. »Dann werden wir es zu Ende bringen und du wirst dich deiner gerechten Strafe stellen müssen.« Noel atmete tief durch und blickte auf, bevor er sprach: »Ich erbitte von euch die Erlaubnis, Cassandra auf das Ritual vorzubereiten.« Auf die zuerst eingetretene Stille erfolgte ein mehrstimmiges, ungläubiges Flüstern und er konnte Kopfschütteln erkennen. »Gerade du, Noel von den Fallen, solltest wissen, dass der Tod für ein menschliches Wesen gnädiger ist, als die Folgen, die das Ritual bei den Menschen hervorrufen kann. Was weiß sie von dir, von uns?« »Sie weiß noch nichts. Momentan ist sie in ihrer Wohnung und sie ist nicht allein.« »Wie hat sie das zu vollstreckende Urteil aufgenommen?« »Sie hat mich überrascht und ihr Schicksal angenommen.« »Warum erbittest du das Ritual? Um ihretwillen oder um deinetwillen?« »Ich bin ehrlich, ich erbitte es um meinetwillen. Ich möchte nicht mehr ohne sie leben müssen, denn ein Leben ohne sie ist kein Leben für mich. Ich musste es schon zu lange 33 ertragen.« Noel war überrascht über seine Ehrlichkeit. Er hoffte, dass Cassandra ihn ebenfalls noch liebte, dass die Liebe groß genug sein würde, damit sie ihn auch noch lieben konnte, wenn sie alles wusste. Der Rat bildete einen Kreis und sie berieten sich. Nach endlos wirkenden Minuten wandten sie sich erneut Noel zu. »Eine Frage, Noel von den Fallen. Du weißt, dass dein Leben ebenfalls verwirkt sein wird, wenn sie eine der gestellten Aufgaben nicht freiwillig und erfolgreich erfüllt?« »Ja, das ist mir bewusst und dieses Risiko trage ich gern.« Noel wusste, dass die Chance, dass die ganze Sache kein gutes Ende nehmen würde, astronomisch größer war, als die auf ein Happy End. Sicher, es gab noch Elara, aber er war überzeugt davon, dass seine Familie gut für sie sorgen würde. Nach unendlichen Minuten des Wartens teilte der Rat ihm die Entscheidung mit. »Dein Wunsch wird dir gewährt. Das Ritual wird nach Menschenzeit heute Abend um achtzehn Uhr beginnen, der Ort ist dir bekannt. Dir wird die Erlaubnis erteilt, das Portal zu nutzen und du darfst fünf Zeugen deiner Familie mit dir bringen. Bis dahin wirst du Zeit haben, die Menschenfrau so darauf vorzubereiten, wie es dir beliebt. Sollte sie sich dagegen entscheiden, ist ihr Leben wie zuvor verwirkt. Du wirst es nehmen, doch dann so, wie es jemandem deines Standes geziemt.« Noel wurde blass. Nein, das durfte nicht passieren! Er hoffte, dass Cassandra die richtige Entscheidung traf und über das andere wollte er nicht nachdenken. Er wusste, dass dies die Strafe für sein Zögern war, den Auftrag des Rates auszuführen. Noel verbeugte sich erneut und sprach: »Ich nehme euer Urteil an.« Der Rat nickte wohlwollend und dann sprach er: »Du bist entlassen!« 34 Das war besser gelaufen, als er es befürchtet hatte. Noel verließ den Raum und sah auf seine Uhr. Es war inzwischen kurz vor eins und Cassandra würde bald wieder aufwachen. Er hatte nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war. Er war erleichtert, dass der Rat zugestimmt hatte, wunderte sich allerdings auch darüber, dass es so einfach gewesen war, dessen Zustimmung zu bekommen. Schnell ging er zurück zum Portal. Von Myrdia aus reichte es, nur den Namen des Zielportals laut auszusprechen und die Verbindung wurde hergestellt. Nachdem er das Portal durchschritten hatte, spürte nach Menschen, und als er sich sicher war, dass niemand seinen Weg kreuzen würde, beeilte er sich, um zum Auto zu kommen. Während der Rückfahrt überlegte er, wie er Cassandra in der kurzen Zeit die ihm zur Verfügung stand, alles über ihn, seine Art, seine Familie und das Ritual erklären sollte. Vor allen Dingen, wie er das bewältigen sollte, ohne sie total zu verstören, oder eher, noch mehr zu verstören, als sie ohnehin schon sein würde, sobald sie wieder aufwachte. Er griff zu seinem Handy und sah, dass noch keine Nachricht von Jerry oder Mick angekommen war. Dann wappnete er sich innerlich und wählte die Nummer seines Vaters. Als er dessen aufgebrachte Stimme hörte, wusste Noel, dass sein Vater bereits durch den Rat informiert worden war. »Sohn, was hast du getan?« Noel schwieg. »Du hast noch immer eine Chance, deine Aufgabe zu Ende zu bringen. Du musst es tun.« Die Stimme seines Vaters war eindringlich, aber zeigte auch, dass es ihn emotional nicht kalt ließ. »Es wird euch beide zerstören. Lass Mick es tun und du wirst Elara haben und in deiner Erinnerung wird Cassandra auf ewig deine Cara sein.« »Ich habe dich nie gefragt, warum du für Mutter das Ritual erbeten hast.« 35 Sein Vater zögerte, dann sprach er leise und mit müder Stimme: »Noel, Marisa war etwas Besonderes. Bei unserer ersten Begegnung wusste ich, dass sie ein Teil von mir war und ich mich ohne diesen Teil nie wieder vollkommen fühlen würde. Sie liebte und bewunderte mich von ganzem Herzen und dich liebte sie ebenfalls. Als der Abend gekommen war, an dem ich ihr das Leben nehmen sollte, fiel sie vor mir auf die Knie und flehte mich an, sie leben zu lassen. Sie wollte dich aufwachsen sehen und das Leben mit mir nicht aufgeben. Sie wusste ganz genau, worauf sie sich einließ. Ich wollte sie ebenfalls nicht hergeben, deshalb sprach ich beim Rat vor und erbat das Ritual. Auch wenn ich genau wusste, dass sie es nie schaffen würde, dass sie daran zerbrechen würde, war ich doch selbstsüchtig genug es zu tun. Ich habe ihr nicht die Gnade erwiesen sie gehen zu lassen, auch wenn es für sie das Beste gewesen wäre. Ihre Schreie verfolgen mich bis heute in jeder Nacht.« Seine Stimme erstarb. Noel parkte vor Cassandras Haus. Er brauchte einige Sekunden um das Gehörte zu verarbeiten, dann sprach er überzeugt: »Cara ist anders, sie ist stark. Sie kann es schaffen, sie muss es einfach schaffen. Bitte hilf mir, sie vorzubereiten. Ich habe nur noch vier Stunden und ich brauche deine Hilfe als Vater, bitte.« »Wenn es das ist, was du wirklich glaubst und willst, werde ich für dich, nein für euch, da sein. Gib mir eine Stunde. Du weißt, dass ich Cassandra als Schwiegertochter sehr geschätzt habe. Sie hat mehr als einmal gezeigt, dass sie eine würdige Gefährtin für dich ist. Bis gleich.« Kaum hatte sein Vater das Gespräch beendet, rief er seine Schwester Aline an. »Noel, wie geht es Dir?« Und etwas leiser: »Ging es schnell?« Sie klang traurig. Cassandra war ihre beste Freundin gewesen und sie litt damals mit Noel, als sie ihn verlassen hatte. 36 »Aline, sie lebt.« Er hörte, wie sie nach Luft schnappte. »Aber …« »Aline, ich brauche dich hier. Ich habe nur wenig Zeit sie vorzubereiten und kann alle Hilfe brauchen, die ich bekommen kann.« »Noel, sag, dass es nicht wahr ist, dass du nicht …« »Doch, heute Abend schon. Deshalb bitte ich dich komm her, so schnell du kannst.« »Nein, okay … ja, ich komme.« »Bringst du alles Wichtige für Cassandra mit? Ich denke, Vater wird an die Dinge denken, die ich für das Ritual benötige.« In diesem Moment erreichte ihn eine SMS von Mick. »Aline, ich muss Schluss machen. Sprich dich mit Vater ab und komm dann bitte mit ihm her.« Er wartete nicht auf ihre Antwort und beendete das Gespräch. Cassandra wachte auf. Vertrau mir! Prophezeiung Als Taschenbuch und eBook im Buchhandel erhältlich. 37 Vorschau: Parker Jean Ford Vertrau mir! Erfüllung Leseprobbe XXL ELVEA VERLAG 38 Abschied Cassandra wurde durch eine federleichte Berührung an ihrer Wange geweckt. Verschlafen blinzelte sie und sah in Noels lächelndes Gesicht. »Guten Morgen du Schlafmütze.« »Mmmmh.« Cassandra hatte noch keine Lust zu sprechen und kuschelte sich enger an ihren Gefährten heran. Sie lagen noch genauso, wie sie am Abend zuvor eingeschlafen waren. Ihre Wange ruhte an seiner Brust und sie strich sanft mit den Lippen über seine Haut. »Wir haben noch etwas Zeit. Es ist jetzt ungefähr neun Uhr und gegen elf werden wir aufbrechen.« »Was, wir haben schon neun Uhr?« Sie war schlagartig hellwach, sprang auf und stürmte ins Bad. Noel konnte sie dort hantieren hören und lachte leise, als sie vor sich hin schimpfte. »Nur noch zwei Stunden, als ob eine Frau in der Zeit fertig werden würde, wenn sie verreist.« Gemächlich stand Noel auf und folgte ihr ins Bad. »Cara, erstens bist du kein Modepüppchen und brauchst keine drei Stunden im Bad. Zweitens hat dir, oder besser uns, der Schlaf gutgetan und drittens ist schon alles für unsere Reise arrangiert. Wir reisen nur mit leichtem Gepäck und können über das Portal jederzeit das bekommen, was wir brauchen. Mal ganz davon abgesehen, dass der Zirkel wahrscheinlich nicht hinter dem Mond lebt und es dort alles 39 gibt, was wir für das tägliche Leben benötigen. Bis auf Blut vielleicht.« Der letzte Satz ließ Cassandra aufhorchen. »Denkst du, dass das ein Problem werden könnte?« Allein bei der Erwähnung von Blut fing ihr Magen an zu knurren. Sie benötigte noch immer mehr Blut als die anderen, da sich ihr Körper weiterhin in der Umstellungsphase befand. Schließlich war sie erst seit wenigen Tagen kein Mensch mehr. Sie war eine Fallen, ein Wesen, welches gefallenen Engel und Dämon in sich vereinte. Erfahrungsgemäß würde es noch ein bis zwei Wochen dauern, bis sich ihr Körper vollkommen gewandelt hatte. »Der Zirkel ist auf unsere Ankunft seit Jahrhunderten, wenn nicht sogar schon seit über tausend Jahren vorbereitet. Es sollte für ihn kein größeres Problem darstellen. Allerdings könnte es sein, dass wir direkt von Spendern trinken müssen, aber das hast du ja trainiert. Es verlangt eine besondere Disziplin.« Cassandra nickte. Die Erinnerung daran, welche Beherrschung sie das erste Mal gekostet hatte, war noch frisch. Noel lehnte nackt, wie Gott ihn erschaffen hatte, am Türrahmen und beobachtete sie. Cassandra wollte eigentlich seinen Blick ignorieren, hielt dieses Vorhaben jedoch nicht lange durch. »Wie wäre es, wenn der Herr sich auch einmal wäscht und fertigmacht? Das hier ist keine persönliche Showeinlage für 40 dich, sondern deine Frau, die ziemlich nervös und aufgeregt ist. Wir haben nur noch zwei Stunden Zeit und …« Er stieß sich am Türrahmen ab und schlenderte zu ihr, nahm sie in den Arm und hielt sie einfach nur fest. »Ganz ruhig. Wir haben noch genügend Zeit. Die anderen warten mit dem Frühstück und werden uns anschließend zum Portal begleiten.« Allein Noels Stimme zu hören und ihn zu spüren, beruhigte sie. »Es ist nur …, was ist, wenn der Zirkel uns nicht aufnimmt, oder abweist? Oder denkt, dass wir mit den Dämonen unter einer Decke stecken?« »Dann werden wir in aller Ruhe mit ihnen reden, unser Bestes tun und sie davon überzeugen, dass wir diejenigen sind, die sie laut Prophezeiung erwartet haben. Du musst dich nicht verstellen oder schauspielern. Sei einfach du selbst, so offen und ehrlich, wie du immer bist. Mir ist bewusst, dass es nicht einfach werden wird. Trotzdem bringt es nichts, wenn wir uns jetzt verrückt machen. Wir lassen es einfach auf uns zukommen.« Sie duschten zusammen, da Cassandra Noels Nähe brauchte. Beide waren keine Personen die lange im Bad benötigten. Ihre roten Locken bändigte Cassandra einfach mit einer kupferfarbenen Haarspange. Noel war schon wieder im Schlafzimmer. Er hatte ihre Kleidung auf das Bett gelegt und Cassandra war überrascht, dass sie nicht das Kampfgewand anzogen. Sie hatte eigentlich damit gerechnet, da sie es fest mit den Fallen verband. Das Aufeinandertreffen mit dem Zirkel folgte eigenen Regeln. Nach Noels Erklärung würden sie spezielle Gewänder tragen, die in der Prophezeiung beschrieben waren. Auch wenn sie in menschlicher Gestalt vor den Zirkel traten, war es dennoch Kleidung, die auf die Bedürfnisse von Fallen ausgerichtet war. Sowohl Noel als auch sie nahmen ihre menschliche 41 Gestalt an. Für einen Moment fühlte sich ihr menschlicher Körper ungewohnt für Cassandra an. Es war verrückt, wie schnell sie sich an ihre Fallengestalt gewöhnt hatte. Sanft ließ sie ihre Finger über den Stoff gleiten. Ohne Krallen brauchte sie zum Glück nicht übermäßig vorsichtig zu sein. Sie bewunderte die feine Arbeit. Als Schneiderin hatte sie ein besonders gutes Auge für diese Art von Kunstfertigkeit. Die Gewänder waren aus Leinenstoff gefertigt und trugen das Familienwappen der Sanders: Den geflügelten Löwen mit Drachenschwanz. Das Wappen war nicht etwa aufgestickt oder aufgenäht, sondern eingewebt, was spezielles handwerkliches Geschick verlangte. Bei Noels Gewändern war schwarz die dominierende Farbe. Er nahm seine Tunika vom Bett und zog sie an. Dazu wählte er passende Beinkleider, einen Ledergürtel und weiche Lederstiefel. Für Cassandra lagen ein grünes, fast bodenlanges Kleid mit einem braunen Gürtel sowie eine erdbraune Wildledertasche bereit. Dazu passend standen vor dem Bett ebenso erdfarbene Wildlederstiefeletten. »Warum euer Wappen?« Noel lächelte. »Es ist auch dein Wappen, Cara! Heute Morgen, als du noch wie ein Murmeltier geschlafen hast, waren Rowena und mein Vater hier. Ich war ebenso erstaunt wie du, dass sich unser Wappen auf den Tuniken befindet. Man hatte mir zwar gesagt, dass wir die spezielle, also überlieferte Kleidung tragen müssen, doch nicht, wie sie aussehen würde. Dieser Teil der Prophezeiung wurde bislang vor uns geheim gehalten. Durch die Erwähnung unseres Wappens war es dem Rat von jeher bekannt, dass unsere Familie mit der Prophezeiung verbunden ist. Selbst mein Vater wusste nichts davon. Der Rat war der Überzeugung, dass es so besser wäre. Du siehst also, nicht nur du bist der Auslöser für das alles hier. Meiner Familie war es auch vorherbestimmt. In manchen Punkten ist die Prophezeiung sehr vage und in 42 anderen wiederum sehr deutlich. Der Rat hat die Geburt einer Fallen mit grünen Augen erwartet, die die Prophezeiung erfüllt. Es war nicht klar, dass die Grünäugige Hoffnung ein gewandelter Mensch sein würde, sonst hätten sie dich als meine Frau schon damals im Auge behalten. Bei der in der Prophezeiung beschriebenen Frau hätte es sich genauso gut um Jerrys Frau handeln können. So wäre ich zum Feldherr bestimmt gewesen und nicht er. Rein theoretisch hätten Rowena und Maximilian weitere Kinder bekommen können und unter ihnen eine Tochter mit grünen Augen. Selbst Elara wäre in Frage gekommen. Sie hat deine grünen Augen, Cara.« Cassandra war für einen Moment still. Ihr wurde einmal mehr bewusst, wie sehr das Schicksal ihr Leben bestimmte. Noel zuckte nur mit den Schultern. »In der hochtechnisierten Welt der Menschen hat man verlernt zu glauben. Jeder ist auf sich selbst fixiert, nicht auf das Wohl des Ganzen. Niemand möchte mehr ein Risiko eingehen, geschweige denn Verantwortung übernehmen. Alles versucht man mit Wissenschaft zu belegen. Was einerseits gut ist, doch andererseits verschließt man die Augen für Phänomene, die nicht erklärbar sind. Für jene kleinen Beweise, dass es mehr gibt zwischen Himmel und Erde, als die Wissenschaft erklären kann. Entweder werden sie aus Angst vor dem Unbekannten ausgeblendet, oder es wird versucht sie zu vertuschen. Bei uns ist es anders. Einige Dinge ›sind‹ einfach, oder besser gesagt, sind für uns Fakt. Wir akzeptieren sie und verschwenden keine Zeit darauf, uns darüber zu beklagen. Das Wissen über den bevorstehenden Kampf der Kämpfe war immer ein Bestandteil unseres Lebens. Unsere ganze Kultur baut darauf auf, dass wir eine Aufgabe haben, nämlich die Menschheit zu schützen. Wir wissen, dass jeder Kampf der letzte sein könnte. Deshalb haben wir eine andere Lebensphilosophie. Wir leben 43 bewusster, genießen die Zeit, die wir mit unseren Familien verbringen können. Während in der Menschenwelt alles auf Geld und Profit abzielt, sind unsere größten Werte die Familie und das Leben selbst. Beides ist unendlich kostbar. Sie sind mit keinem Geld der Welt zu erkaufen. Darauf konzentrieren wir uns. Wohin unser Weg uns letztendlich führt, weiß nur unser Schöpfer und das ist gut so. Wir erreichen unsere Ziele gemeinsam. Die einzelnen Häuser der Fallen sind eng miteinander verbunden. Dass es jetzt unsere Familie getroffen hat, ist zweitrangig. Wir werden unsere Aufgabe mit Stolz erfüllen, für die Fallen und für die Menschen.« Cassandra holte tief Luft. Seine Worte gaben ihr viel Stoff zum Nachdenken. Ihre Kulturen waren so grundverschieden. Sie musste noch viel lernen. Mittlerweile waren sie fertig angezogen. Neugierig öffnete Cassandra die Wildledertasche, die zu ihrem Gewandt gehörte und schaute hinein. In ihr fand sie ihren Dolch und ein kleines, goldenes Samtkästchen. Sie konnte nicht widerstehen und öffnete es. Darin lagen zwei breite Ringe aus geschmiedetem Gold. Kunstvoll waren der Löwe aus dem Familienwappen der Sanders und über ihm eine flammende Sonne eingraviert worden. Es war klar, was das bedeutete. Schnell klappte sie das Kästchen wieder zu und ließ es in der Tasche verschwinden. Es waren die Trauringe für Aline und ihren zukünftigen Ehemann, den Heerführer des Zirkels des Lichts. Sie konnte es noch immer nicht glauben. Eine junge Frau in eine Ehe zu zwingen war so rückständig. Auch Noels Blick hatte sich beim Anblick der Ringe verfinstert. Sie verstanden sich ohne Worte. Diese Zwangsheirat war für alle ein Problem, auch wenn die Prophezeiung noch aus einer Zeit stammte, in der arrangierten Ehen gang und gäbe waren. 44 »Wir sollten zu den anderen. Ich möchte mich gerne verabschieden und ich spüre deinen Durst.« Er war kurz angebunden. Cassandra folgte Noel ins Esszimmer. Dort war die Familie, bis auf Aline, bereits versammelt. Die Tafel war reichhaltig gedeckt und alle waren festlich gekleidet. Scheinbar würden sie sogar eine Abschiedszeremonie bekommen. In Gedanken fragte sie Noel: »Ist das wirklich nötig?« »Es ist vom Rat festgelegt worden. Es war schon seit jeher so, dass die Zurückbleibenden diejenigen, die in einen Krieg ziehen, im Vorfeld gefeiert haben und gebührend verabschieden. Man weiß nie, ob man im Nachhinein noch die Gelegenheit dazu hat.« »Klasse! Aber durchaus pragmatisch. Wenn man tot ist kann man nicht mehr feiern. Wir ziehen aber nicht in einen Krieg!« »Doch, unser Besuch beim Zirkel des Lichts ist der Auftakt dazu.« »Ich sehe das eher als einen Besuch unter potentiellen Verbündeten.« »Ja und nein, wenn wir dort eintreffen, erfüllt sich ein weiterer Teil der Prophezeiung. Es bedeutet, dass wir in diesem Krieg aktiv werden, indem wir den Zirkel aufsuchen und im günstigsten Fall das Menschenheer mit dem unseren vereinen.« Cassandra schnaubte. »Hey, könntet ihr uns bitte an eurer stummen Meinungsverschiedenheit teilhaben lassen?« Noel und Cassandra bemerkten gleichzeitig, dass sie die anderen während ihrer mentalen Unterhaltung völlig vergessen hatten. 45 »Guten Morgen, entschuldigt bitte.« Verschämt sah sie zu Noel der gerade so aussah, als ob ihm die Augen aus dem Kopf fallen würden. Cassandra sah in die Richtung, in die Noel blickte und sah Jerry und Maximilian entgeistert an. »Na, wie gefällt euch unsere schicke und trendige Kurzhaarfrisur? Wir haben uns sagen lassen, dass das der letzte Schrei unter den Kriegsherren ist.« Jerry zwinkerte Cassandra zu. »Dein Gatte ist auch noch an der Reihe. Eigentlich wollte ich mich heute Nacht zu euch ins Schlafzimmer schleichen und ihn rasieren. Ich wette, nach euren Aktivitäten von gestern Abend wäre er dabei noch nicht einmal wach geworden.« »Pass auf, dass ich dir nicht noch etwas ganz anderes rasiere!« Cassandra wurde zwar rot, aber sie hatte sich vorgenommen, sich nicht mehr von Jerrys frechen Bemerkungen aus dem Konzept bringen zu lassen. Früher hatte sie ihm schließlich immer gut Kontra geben können. So etwas verlernte man nicht! »Ist das bei euch auch Sitte die Haare schneiden zu lassen, wenn man in den Krieg zieht?« Cassandra betrachtete Jerry genauer. Ohne seine Lockenpracht sah er älter aus, erwachsen und seiner Aufgabe angemessen. Maximilian stand die Kurzhaarfrisur ebenfalls sehr gut. Trotzdem vermisste sie die längeren Haare auch bei ihm. »Ja, es ist so praktischer. Der Feind kann sie nicht so schnell greifen.« Maximilian fuhr sich durch sein Haar und lachte. »Und wir setzen ein Zeichen. Wir zeigen, dass wir mit einer Episode in unserem Leben abschließen und bereit sind, eine neue zu beginnen. Wir sind bereit für den Kampf!« Cassandra atmete tief durch. Der Krieg wurde immer greifbarer, hielt Einzug in ihr Leben. Und doch war es so, dass er nicht über sie hereinbrach. Ihm wurden Tür und Tor 46 geöffnet, damit sein Schrecken sie nicht überrollen konnte. Die Fallen waren ein eigenes Volk mit einer sehr eigenen Sichtweise auf das Leben. Cassandra war nun ein Teil des Ganzen und würde sich nicht von ihren noch menschlichen Empfindungen lähmen lassen! Sie nahm sich wiederum fest vor zu lernen, Leben und Tod wie die Fallen zu sehen. Niemand geriet in Panik, niemand leugnete. Jeder Umstand und jedes Ereignis wurde angenommen und aktiv damit gearbeitet. Gut, wenn sich alle ›normal‹ verhielten, dann würde sie es ebenfalls tun! Cassandra musterte Jerry auffällig lange und meinte dann: »Deine Frisur hat übrigens etwas von einem gewissen Teenie Idol. Wie heißt er noch gleich? Es war irgendein Nagetier.« Sie tat so, als ob sie nachdenken würde, dann zuckte sie mit den Schultern. »Egal, dir werden die Mädchen jedenfalls reihenweise zu Füßen liegen.« Jerry wurde blass. Erwischt! Mühsam unterdrückte Cassandra ein Grinsen und versuchte gleichzeitig ernst zu bleiben. »Was? Sag, dass das nicht wahr ist! Mutter?« Jerry sprang auf und lief in den Flur, wo ein Spiegel hing. Daraufhin fingen alle lauthals an zu lachen und Jerry kam leise grummelnd zurück. »Danke für das Veralbern. Ehrlich gesagt habe ich mich nicht getraut in den Spiegel zu schauen, nachdem Mutter mir die Haare geschnitten hat. Mein ganzes Leben hatte ich lange Haare, aber ich finde, es sieht gar nicht so übel aus.« Cassandra lachte. »Ja, stimmt, es steht dir wirklich. Aber ein bisschen musste ich dich schon ärgern, du hattest es eindeutig verdient!« Dann kam er auf Noel zu und sah ihn von unten herauf an. 47 Noel war der größte in der Familie, sogar einige Zentimeter größer als sein Vater. Rowena war dagegen klein und zierlich, ihre Kinder von normaler Statur. Man merkte deutlich, dass Noel eine andere Mutter hatte, denn er hatte viel von Marisa geerbt. »So großer Bruder, bereit für einen Haarschnitt vor dem Frühstück?« Gespielt seufzend nickte er. »Es scheint, dass ich sonst kein Frühstück bekommen werde und ich habe Hunger. Cara, würdest du mir bitte meine Haare schneiden?« Huh … okay … sie hatte so etwas noch nie getan, aber einmal war immer das erste Mal. Noel fasste seine Haare mit einem Gummi zu einem Pferdeschwanz zusammen und Rowena reichte ihr die Schere. »Setz dich hier auf den Stuhl.« Sie hatte schon alles vorbereitet. »Zuerst schneidest du den Pferdeschwanz ab und dann kürzt du die Haare an den Seiten. Wir Frauen stecken uns übrigens die Haare im Kampf fest hoch.« Rowena schmunzelte. »Jericho wollte schon von mir lernen, wie das geht.« »Mutter!« Jerry sah seine Mutter halb bittend und halb warnend an. Scheinbar hatte er wirklich an seinen Haaren gehangen. »Furchterregender Kriegsherr, was?« Mit einem Lachen ließ Cassandra die Schere fallen und lief blitzschnell davon, als Jerry den ersten Schritt auf sie zu machte. Bald lagen sie lachend auf dem Sofa, wo Jerry sie mühelos gestellt hatte. Sie wuschelte ihm wie üblich durch die Haare, was mit den kurzen Haaren nicht so richtig gelang. »Ha, zumindest ein Gutes hat das ganze!« Triumphierend sah er sie an. Schmunzelnd ließ sie sich von ihrem Schwager aufhelfen. 48 »Ja, wenn deine böse Schwägerin dir nicht die Haare in Unordnung bringen kann, dann kann auch kein Feind sie zu deinem Nachteil nutzen. Sie sind sozusagen ›Carry-erprobt‹ und für gut befunden worden!« Wieder wunderte sich Cassandra, wie normal dieser Morgen ihrer Abreise doch war. Normal bis auf das Fehlen von Aline. Sie konnte es der Schwägerin, die auch eine gute Freundin war, nicht verübeln, dass sie Zeit für sich brauchte. Eine Hochzeit mit einem Unbekannten … Noel saß noch immer lachend auf seinem Stuhl. Rowena reichte ihr die Schere. Zuerst schnitt Cassandra Noels Pferdeschwanz ab und hielt das noch mit dem Gummi zusammengebundene Haar für einen Moment in der Hand. Rowena trat mit einer Holzkiste an ihre Seite und öffnete diese. Darin lagen schon zwei Haarbündel, das eine von Jerry und das andere von Maximilian. Cassandra legte Noels abgeschnittenen Pferdeschwanz zu den anderen und Rowena stellte das Kästchen auf das Sideboard. »Du musst mit deinen Fingern durch das Haar gehen und alles, was länger ist, abscheiden.« Konzentriert folgte sie den Anweisungen und am Ende reichte Rowena ihr eine Schüssel mit Wasser. Cassandra befeuchtete ihre Hände und fuhr Noel durch die nun kurzen Locken, die sich durch das Wasser stärker kringelten. Prüfend begutachtete sie ihr Werk. Seine Züge traten nun markanter hervor, aber sie konnte nicht sagen, dass ihm das kurze Haar schlechter stand, als die längeren Haare. Cassandra lächelte und er lächelte zurück. »Gut, aber jetzt bekomme ich endlich mein Frühstück, oder?« Das Frühstück verlief ruhig und Cassandra trank ausnahmsweise zwei Becher Blut, da sie nicht wussten, wann sie wieder welches bekommen würde. Sie erfuhren, dass 49 Aline bereits zur Ratshalle aufgebrochen war und Elin sie dort auf die Zeremonie vorbereitete. Gemeinsam machten sie sich im Anschluss auf den Weg zur Ratshalle. Im Gegensatz zu ihrem ersten Gang dorthin säumten Reihen von Fallen den Weg. Sie standen stumm am Straßenrand und verbeugten sich, als die Sanders vorüber gingen. Cassandra war das unangenehm. Noch unangenehmer war, dass die Menge ihnen folgte. Als sie auf dem großen gepflasterten Platz vor der Halle ankamen, führten sie eine stattliche Prozession an. Die Fallen versammelten sich auf dem Platz und warteten auf etwas. Scheu sah sie zu Noel, der ihr aufmunternd zulächelte und ihre Hand hielt. »Du solltest zu ihnen sprechen, Cara. Sie warten darauf, denn du bist die Grünäugige Hoffnung. Sie haben ihr ganzes Leben lang auf dich gewartet.« Geschockt sah sie Noel an. In Gedanken sagte sie: »Warum hast du mir das nicht gesagt? Wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich mich darauf vorbereiten können.« Sie war es nicht gewohnt vor Fremden zu sprechen. Noch dazu vor Fremden, für die sie mit ihren dreißig Jahren noch in den Kinderschuhen stecken musste. »Wenn ich dir davon erzählt hätte, hättest du dich den ganzen Morgen lang verrückt gemacht. Ich dachte mir, ein Schubs ins kalte Wasser wäre da besser.« Der Blick, den sie ihm zuwarf, war ziemlich eindeutig, aber es half nichts. Sie hatte ihre Rolle zu spielen, das wurde von ihr erwartet. Cassandra wandte sich der Menge zu, die sich vor ihr versammelt hatte. Frauen, Männer und Kinder sahen sie erwartungsvoll an. Sie räusperte sich, um den Kloß im Hals los zu werden. »Hallo.« Ihre Stimme zitterte etwas. 50 »Ich meine, seid gegrüßt.« Himmel, was sollte sie sagen? Am besten die Wahrheit! »Ich bin erst seit wenigen Tagen eine von euch und hatte vorher keinerlei Ahnung von eurer Welt und der schweren Bürde, die ihr tragen müsst. Es ist noch immer nicht einfach für mich das alles zu verstehen und doch bin ich bereit, meine Rolle in der Prophezeiung zu erfüllen. Ich bin die Grünäugige Hoffnung! Es ist mein Schicksal, den Kampf der Kämpfe einzuläuten. Aber es ist mir auch ein Anliegen, euch Hoffnung zu schenken. Die Hoffnung, diesen Kampf für die Menschheit und die Fallen zu entscheiden und einen neuen, dauernden Frieden sicherzustellen.« Für einen Moment war es ruhig, dann begannen die erwachsenen Fallen, mit ihren Flügeln zu schlagen. Unsicher sah Cassandra wieder zu Noel, der ihr bestätigend zunickte. Leise sagte er: »Das ist bei uns ein Zeichen der Hochachtung. Verbeuge dich, du hast sozusagen bestanden.« Cassandra zögerte nicht, lächelte zaghaft und verbeugte sich vor der Menge. »So, nun solltest du an die Tür klopfen, du bist die Anführerin unserer Mission.« Noel drückte Cassandras Hand fester. Wenn sie eine Rede vor gefühlten tausend Fallen geschafft hatte, dann würde sie es auch schaffen, an eine Tür zu klopfen. Kaum hatte sie die Hand vom Klopfer genommen, öffnete sich die Tür und sie wurden hereingebeten. ... Lesen sie weiter in: Vertrau mir! Erfüllung. 51
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