Leseprobe-Vertrau-mir-2016-1

ELVEA VERLAG
Besuchen Sie uns im Internet:
www.elvea-verlag.de
Veröffentlicht im Elvea Verlag
Chemnitz, November 2015
© 2015/2016 bei Elvea Verlag
2. Auflage
Lektorat: Christian Engelke
Coverdesign: Yvonne Less
www.art4artists.com.au
Wappenlöwe: Christopher Klein
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf
– auch teilweise –
nur mit Genehmigung
des Verlages wiedergegeben werden.
ISBN 978-3-945600-17-7
Parker Jean Ford ist 1973 geboren und Autorin aus
Leidenschaft. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von
Trier.
Gute Bücher zeichnen sich für sie dadurch aus, dass diese
zu guten Freunden werden, die man immer wieder gerne
zur Hand nimmt.
Man freut sich mit den Protagonisten, leidet mit ihnen,
und am Ende des Buches weint man ihnen zum Abschied
vielleicht sogar eine Träne nach.
Für meine sehr geduldige Familie.
Markus, Finnian und Cian, ich bin glücklich, dass es euch
gibt!
Ich möchte mich bei meiner Betaleserin Sara
Germeshausen bedanken, deren Korrekturkommentare
immer ein besonderes Highlight für mich waren.
Bei Denise Gabe für die ursprüngliche Coverumsetzung
und Christopher Klein, der meinen Wappenlöwen für das
Cover perfekt zu Papier gebracht hat.
Vielen Dank auch an meine Mädels Svenja Baumgarten,
Sandra Mayr und Birgit Mittelmaier, die immer für mich
da waren, wenn ich sie brauchte.
Ohne euch wäre Vertrau mir! Prophezeiung nur ein
Traum geblieben.
Parker Jean Ford
Vertrau mir!
Prophezeiung
Leseprobe XXL
ELVEA VERLAG
1
Die Vergangenheit ist ein Teil von dir
Cassandra gönnte sich nach langer Zeit einmal wieder ein
Frühstück in ihrem Lieblingscafé. Eher ungewöhnlich im
ersten Stock eines Geschäftshauses direkt über einer
Parfümerie gelegen, bot es einen besonderen Ausblick auf die
noch verschlafene Fußgängerzone von Trier.
Wenn man hier so saß, kam man kaum auf den Gedanken,
dass Trier eine Großstadt war. Ihre kleine Großstadt, die sie
in den letzten Jahren wegen ihres Charmes und der
allgegenwärtigen Geschichte lieben gelernt hatte. Es war
sicherlich der Trostlosigkeit des Wetters zu verdanken, dass
sie und eine ältere Dame, welche eine Tageszeitung las, die
einzigen Gäste an diesem Morgen waren.
Cassandra blickte nachdenklich nach draußen und nippte
an ihrem Milchkaffee. Vor einem Monat hatte sie ihren
dreißigsten Geburtstag gefeiert. Wo war die Zeit geblieben?
In Gedanken zog sie Bilanz: ihre Tochter Elara, Häkchen eins
auf der Positivseite. Sie hatte ihren Traummann gefunden,
ihn geliebt und geheiratet, Nummer zwei und direkt auch
Häkchen eins auf der Negativseite, denn sie hatte ihn
verloren. Traumberuf? Ok, nicht ganz, trotzdem ein weiterer
Haken auf der Positivseite, da ihr das Schneidern Spaß
machte. Zur Topdesignerin, wie sie es sich in der Schule
ausgemalt hatte, hatte es leider nicht gereicht. Alles in allem
deutlich mehr Häkchen auf der Positivseite!
Und nun die nächste Frage: »Was erwarte ich noch von
meinem Leben?«, flüsterte sie zu sich selbst. Sah sich dann
6
aber ertappt um und merkte zu ihrer Erleichterung, dass sie
weder die Bedienung, noch die ältere Dame gehört hatten. Es
hatte eine Zeit gegeben, in der sie vor Zukunftsideen nur so
gesprüht hatte, diese Zeiten waren schon lange vorbei.
Alt werden? Was bedeutete das? Auf jeden Fall sehen, wie
meine Tochter zu einer Frau heranwächst! Ich selbst bleiben
und endlich einen Platz finden, an dem ich mich zu Hause
fühlen kann. Noch einmal lieben? Ihre Gedanken kreisten.
Lieben hieß, dass man auch verletzt werden konnte, das
strich sie schnell wieder von ihrer Liste.
Sie legte beide Hände um die Kaffeetasse, die sich
angenehm warm anfühlte. Langsam erwachte die
Fußgängerzone aus ihrem Dornröschenschlaf. Doch selbst
die bunten Farben der Regenschirme konnten sie heute nicht
für die dunklen Wolken am Himmel und den Regen
entschädigen. Ihr Blick schweifte durch das Café und blieb an
dem nostalgischen Wandkalender aus Metall hängen, den ein
Bild des Geschäftshauses aus den 40er Jahren zierte.
Heute war Montag, der 20. Oktober. Elara war seit
Samstag mit ihrer besten Freundin auf dem Reiterhof und
würde erst am übernächsten Sonntag zurückkommen. So
lange waren sie bisher noch nie getrennt gewesen. Noch
dreizehn Tage, dann würde sie ihre Tochter wiedersehen.
Noch immer in ihren Gedanken versunken trank sie den
letzten Schluck ihres Milchkaffees und verzog das Gesicht.
Selbst der Kaffee schmeckte heute nicht so, wie sie es
gewohnt war. Das Croissant hatte sie kaum angerührt und es
schien, als ob der Regen die bunten Farben des ansonsten so
gemütlichen Cafés ebenfalls weggewaschen hätte. Sie wusste,
es lag an ihr. Müde massierte sie die schmerzenden Schläfen
und sah wieder hinaus. Nicht nur draußen war es grau und
trist, auch in ihrem Inneren.
Cassandra zahlte und machte sich auf den Weg. Um zehn
Uhr wollte sie in ihrem Laden sein. Vor zwei Jahren hatte sie
7
sich mit der kleinen Schneiderei selbständig gemacht.
Eigentlich handelte es sich nur um ein Zimmer ihrer
Hinterhofwohnung, welches sie zur Schneiderwerkstatt
umfunktioniert hatte. Doch dank ihrer Stammkundschaft,
die fleißig Werbung für sie machte, konnten sie und Elara
inzwischen gut von ihrem Einkommen leben.
Der Regen prasselte auf sie nieder, während sie schnellen
Schrittes nach Hause ging. An manchen Tagen - und diese
wurden immer häufiger - hatte sie das Gefühl, dass es nur
noch regnete.
Positiv denken, Cassandra! Sie seufzte, straffte die
Schultern und tröstete sich damit, dass auf Regen meist
Sonnenschein folgte. Dies war das Motto ihres Vaters
gewesen. Außerdem hatte sie keinen Grund, sich so hängen
zu lassen, denn es gab viele Menschen, denen es deutlich
schlechter ging als ihr. Bisher hatte immer die Sonne
irgendwann alles Grau vertrieben, selbst das Grau ihrer
Gedanken.
Es kann nicht immer regnen! Dieser Spruch kam ihr
spontan in den Sinn und sie dachte an ihre Lieblings-DVD,
die sie sich mal wieder anschauen könnte. Heute wäre
wirklich der perfekte Tag dafür.
Ihre Schritte wurden noch etwas schneller. Sie wollte nach
Hause, dorthin, wo sie sich sicher fühlte. Tief durchatmend
versuchte Cassandra das prickelnde Angstgefühl zu
unterdrücken, welches sie schon den ganzen Morgen zu
verdrängen versucht hatte. Ihre Gedanken schweiften erneut
ab.
Gestern hatte sie ihre Vergangenheit eingeholt. An die
Konsequenzen wollte sie nicht denken. Doch die
Erinnerungen an die Ereignisse von damals drängten sich ihr
auf und ließen sie das Geschehene immer wieder durchleben.
8
Sieben Jahre war es nun her, dass sie ihn das letzte Mal
gesehen hatte und er hatte sich nicht verändert. Eins neunzig
groß, schlank, durchtrainiert. Sein Haar war noch immer
schwarz ohne eine einzige graue Strähne. Plötzlich hatte er
auf der gegenüberliegenden Straßenseite gestanden und sie
mit seinen ungewöhnlich dunkelblauen Augen angesehen.
Dieser Blick hatte ausgereicht, um ihr einen kalten Schauer
über den Rücken zu jagen. Aber ebendieser Blick hatte die
Sehnsucht nach einem anderen, fast vergessenen Gefühl in
ihr wiedererweckt. Ohne, dass er auch nur ein Wort an sie
hatte richten müssen, war ihr bewusst geworden, dass es
endlich vorbei war. Zum Weglaufen war es jetzt eh zu spät.
Sie wollte es auch nicht mehr. Zu lange schon fühlte sie sich
ausgebrannt und war fast erleichtert, dass der Kreis sich
endlich schloss. Mit Noel hatte es begonnen und mit würde
es enden!
Das letzte Mal, dass er sie so angesehen hatte, würde sie
niemals vergessen. Anfangs verfolgte er sie jede Nacht in
ihren Träumen, mit der Zeit weniger oft. Doch er war da,
hatte sich tief in ihr Gedächtnis gebrannt, auf immer und
ewig. Allein dieser Blick sagte er ihr all das, was er ihr nicht
mit Worten hatte sagen können, damals nicht, wie heute: Ich
liebe dich, aber ich kann und darf dich nicht am Leben lassen!
Sie dachte an diesen bestimmten Abend zurück, es war
Jahre her und doch kam es ihr so vor, als sei es gestern
gewesen. Er war schon so unnatürlich still gewesen, als er von
der Arbeit nach Hause gekommen war. Sofort hatte sie
gespürt, dass etwas nicht stimmte.
***
Cassandra tüftelte gerade an einem neuen Schnittmuster.
Elara war mit ihrem Paten Mick, Noels Onkel, unterwegs
9
und sie nutzte die Zeit, in der sie ungestört arbeiten konnte.
Als sie hörte, wie die Tür ins Schloss fiel, erwartete sie wie
üblich Noels »Hallo«, doch heute blieb es aus. Es war ein
Ritual, dass er sie sofort nach dem Hereinkommen begrüßte.
Verwundert stand sie auf und wollte nachschauen, als Noel
plötzlich vor ihr stand und sie wortlos umarmte. Er drückte
sie an sich, als ob es kein Morgen mehr geben würde.
Normalerweise war er auch nicht so unnatürlich still. Etwas
musste vorgefallen sein.
»Hey, ist alles in Ordnung? War es sehr stressig in der
Firma?«
Sein Brummen war die einzige Antwort, die sie bekam.
Irgendwann würde er sicherlich mit ihr darüber reden, sie
sprachen schließlich immer über alles. Wie gut, dass sie
heute sein Lieblingsessen gekocht hatte. Damit würde sie
seine Laune bestimmt aufbessern und wenn nicht damit ...
Es gab ja noch andere Möglichkeiten, sobald Elara im Bett
war. Ein Lächeln schlich sich in ihr Gesicht. »So und jetzt
musst du mich loslassen, sonst gibt es gleich keinen
Schmorbraten, sondern einen ›Verschmort-Braten‹.«.
Noel ließ sie nur unwillig los und seufzte. Für einen
Moment sah er sie mit dieser Mischung aus Liebe und
Traurigkeit an, die sie schon öfter bei ihm bemerkt hatte. So,
als ob er sich jedes Detail ihres Gesichtes einprägen wollte.
»Manche Tage sollte man aus dem Kalender streichen.«
»Auch wenn es an diesen Tagen Schmorbraten gibt?«
Noels Lächeln erreichte nicht seine Augen, als er sprach:
»Nein, Tage mit Schmorbraten sollten eher mit Textmarker
hervorgehoben werden.« Dann küsste er sie auf die Nase.
Kurz darauf kam Noels Onkel mit Elara zurück. Noel
hatte die Tür geöffnet und nach einer herzlichen Begrüßung
kam Elara stolz mit ihrer neuen Puppe in die Küche, um sie
ihr zu zeigen.
10
»Die ist aber toll. Willst du deiner neuen Puppe ihr neues
Zuhause zeigen?«
Elara nickte und ging in ihr Kinderzimmer. Ihr kleines
Mädchen war schon jetzt eine gute Puppenmutti.
Cassandra hörte, wie sich Noel von Mick verabschiedete.
Kaum war er weg, klingelte das Telefon.
»Noel kannst du bitte rangehen? Ich habe Kloßteig an den
Händen.« Sie war ganz ins Kochen vertieft, als plötzlich die
Küchentür aufsprang, die sie vorher geschlossen hatte.
Leises Gemurmel war aus dem Wohnzimmer zu hören.
Scheinbar war das Gespräch für Noel gewesen. Sie war
niemand, der lauschte, doch als Noels Stimme lauter wurde,
hörte sie doch etwas genauer hin.
»Nein, jetzt noch nicht. Sie ist noch so jung. Ich weiß, dass
es irgendwann so weit sein wird, dass ich es tun muss.«
Dann machte Noel eine Pause, es sprach wohl gerade
derjenige am anderen Ende der Leitung. Als Noel wieder
sprach, klang er frustriert.
»Ja Vater, es ist das Gesetz und ich werde es achten. Ich
wusste, worauf ich mich einlasse, wenn ich sie heirate.«
Okay, das war seltsam. Mit schlechtem Gewissen
konzentrierte sie sich auf Noels Worte. Er sprach also mit
seinem Vater und es ging um sie.
Noels Stimme wurde eindringlicher, als er weitersprach:
»Ich werde alles tun, um Elara zu schützen, das steht außer
Frage!« Leiser dann: »Es war mir von Anfang an klar, dass
Cassandra der Preis dafür sein könnte, ein einziges Mal in
meinem Leben glücklich zu sein. Ich hatte Hoffnung, Vater.
Warum wird diese Hoffnung bestraft?«
Nach einer weiteren Pause antwortete er seinem Vater
entschlossen: »Nein, ich werde ihr selbst die letzte Gnade
erweisen, wenn die Zeit dafür reif ist. Das bin ich ihr
schuldig. Sie werden es nicht tun, das lasse ich nicht zu! Ich
bin ihr Ehemann und es ist meine Aufgabe und meine Pflicht,
11
ihr das Leben zu nehmen.« Dann hörte sie, wie der Hörer
auf den Tisch geknallt wurde.
Geschockt stützte sie sich an der Arbeitsplatte ab. Nur
langsam realisierte sie die Bedeutung von Noels Worten. Sie
waren doch glücklich zusammen, hatten eine wundervolle
Tochter, warum zum Teufel wollte er sie töten?
Die Angst lähmte sie und raubte ihr den Atem. War das
das Ende? Sie hatten noch so viele Träume und Pläne. Sogar
über ein zweites Kind hatten sie gesprochen ... Doch dann
kamen ihr die vielen Momente in den Sinn, in denen Noel sie
ebenso angesehen hatte wie kurz zuvor. Diese Blicke tiefer
Liebe mit einem dunklen Schatten darüber. Sie war
verwirrt, doch eines war sicher: Sie wollte nicht sterben. Sie
musste mit ihrer Tochter fliehen!
Das Essen verlief ruhig, Elara erzählte von ihrem
Nachmittag mit ihrem Paten und es war, als hätte das
Telefonat niemals stattgefunden.
Wie an jedem Abend erledigte Cassandra den Abwasch,
während Noel Elara zu Bett brachte.
»Magst du auch einen Weißwein?« Cassandra wunderte
sich, dass ihre Stimme nicht zitterte.
»Gern, nach so einem Tag kann ich den gebrauchen.«
Als Cassandra wieder ins Wohnzimmer kam, saß Noel
auf dem Sofa und lächelte. Sie reichte ihm sein Glas und
setzte sich in den Sessel ihm gegenüber.
»Danke! Ich hoffe, dass der morgige Tag besser wird. Es
tut mir leid, dass ich heute so kurz angebunden bin.« Er hob
sein Glas und sagte: »Auf Morgen!«
Cassandra blieben fast die Worte im Hals stecken, als sie
seinen Toast wiederholte: »Auf Morgen!« Dann stieß sie mit
ihm an und schaffte es nicht, ihm in die Augen zu sehen, als
er das Glas an die Lippen führte. Er zögerte, doch dann
trank er es in einem Zug aus.
12
Wieder sah er sie mit diesem gewissen Blick an. Fast als
ob er wüsste, was sie gerade getan hatte. Sie hatte keine
Ahnung, was sie sagen sollte. Er schwieg ebenfalls, bis er
leicht schwankte, bevor er bewusstlos auf dem Sofa zur Seite
kippte. Das Schlafmittel, welches sie ihm in den Wein
gemischt hatte, war stark. Es würde noch eine Weile wirken.
Sie ging zu ihm, kniete sich vor die Couch und legte ihre
Wange an sein Gesicht. Erst dann erlaubte sie sich, um ihre
verlorene Liebe zu weinen und nahm sich die Zeit, die sie
brauchte, um Noel Lebewohl zu sagen.
***
Sie hatte nur das Nötigste für ihre Tochter und sich
zusammengepackt, das ganze Bargeld aus dem Safe
genommen und dann ein Taxi gerufen. Ihre Tochter war zum
Glück nicht wachgeworden. Aus dem Taxi hatte sie ihren
Vater angerufen, der ihr ihre Verzweiflung direkt angemerkt
hatte und sie hatten sich am Bahnhof verabredet. Von dort
aus führte ihre Flucht nach Paris. In dieser Nacht hatte sie
erfahren, dass ihr Vater schon lange alles für eine Flucht
vorbereitet hatte. »Um schnell reagieren zu können, falls ihr
einmal die Augen geöffnet werden würden«, so hatte er sich
ausgedrückt. Er hatte sie in all den Jahren nicht ein einziges
Mal gefragt, was tatsächlich vorgefallen war und sie war ihm
unendlich dankbar dafür.
In den vier darauffolgenden Jahren waren sie nie lange an
einem Ort geblieben. Durch seine Beziehungen zur Polizei
hatte ihr Vater immer gewusst, wenn sie nicht mehr sicher
waren und sie zogen weiter.
Sie waren nun schon fast seit drei Jahren in Trier und
bisher war es ruhig geblieben. Es hatte keine Anzeichen
gegeben, dass man ihren Aufenthaltsort herausgefunden
hatte. Elara fragte inzwischen immer seltener nach ihrem
13
Vater und sie hatte hier endlich so etwas wie ein Zuhause
gefunden. Bald würde ihre Tochter zehn Jahre alt werden
und Cassandra war erleichtert darüber, dass sie momentan
nicht hier war. Seit im letzten Jahr ihr eigener Vater
gestorben war, sah sie einiges mit anderen Augen. Sie wollte
nicht mehr weglaufen, nicht mehr kämpfen. Sie wollte und
musste sich endlich ihren Ängsten stellen, wenn sie Elara ein
normales Leben ermöglichen wollte. Und wenn es so sein
sollte, musste sie auch ihr Schicksal akzeptieren. Sie zog eine
Grimasse, denn diese letzte Konsequenz fiel ihr nicht leicht.
Sie hatte sogar kurz überlegt die Polizei einzuschalten, aber
tief im Innersten hatte sie gewusst, dass diese ihr auch nicht
helfen konnte.
Ihr Vater hatte ihre dunklen Stimmungen aufgefangen
und sie darin bestärkt, weiterzumachen, zu kämpfen, zu
versuchen den Sinn hinter allem zu finden. Doch seit er tot
war, fühlte sie sich ausgebrannt und ihr wurde Tag für Tag
deutlicher bewusst, wie sehr sie ihn vermisste. Sie hatte
zwischenzeitlich viel Zeit gehabt nachzudenken und war mit
sich selbst im Reinen. Eigentlich sollte sie bereit sein die
Vergangenheit zu empfangen, warum war sie es nicht?
Gleich würde sie zu Hause sein. Es wurde auch langsam
Zeit, denn ihre Regenjacke war scheinbar doch nicht so
regenfest, wie sie gedacht hatte. Sie hatte nichts davon
mitbekommen, dass sie gerade einmal quer durch die ganze
Innenstadt gelaufen war. Vorbei am Pranger, über den
Hauptmarkt mit St. Gangolf, Steipe, Petrusbrunnen und
Marktkreuz, dann die Simeonstraße entlang, bis zur Porta
Nigra. Ihre Gedanken hatten sie zu sehr in ihren Bann
gezogen. Es waren nur noch wenige Meter, die sie noch durch
die Paulinstraße gehen musste. Mit jedem Schritt freute sich
mehr auf den Auftrag, den sie gleich fertigstellen würde.
Hochzeitskleider zu schneidern war eine Herausforderung
14
und gleichzeitig eine willkommene Abwechslung zur
normalen Änderungsschneiderei.
Als sie in die Maximinstraße bog, sah sie einen großen
schwarzen Mercedes mit getönten Scheiben auf der anderen
Straßenseite stehen. Sie gab sich Mühe, nicht zu
offensichtlich herüberzuschauen. Stattdessen ging sie
zielstrebig auf den Torbogen zu und überquerte schnell den
Hof, um zu ihrer Haustür zu kommen. Ihre Hände zitterten
leicht, als sie den Schlüsselbund aus der Tasche nahm. Sie
steckte den Schlüssel in das Schlüsselloch und war dankbar,
als sie das Klacken des Türschlosses hörte. Kurz lächelte sie,
sie wurde schon langsam paranoid, sicherlich hatte sie sich
das alles nur eingebildet.
Cassandras Herz machte einen Satz, als sie plötzlich eine
Hand auf ihrer Schulter spürte. Sie erstarrte und schloss die
Augen. Sollte sie sich umdrehen oder abwarten und hoffen,
dass es schnell vorbei sein würde? Hatte sie wirklich den Mut
sich bewusst ihrem Schicksal zu stellen, so wie sie es sich
vorgenommen hatte?
Sich für den Mut entscheidend öffnete sie ihre Augen,
atmete tief durch und drehte sich um. Dass sie zu dritt waren,
überraschte sie. Sie kannte Mick und Jerry und wusste, dass
sie die Mitglieder der Familie waren, die normalerweise
überall dort eingesetzt wurden, wo es Probleme gab. Sie
selbst nannten sich scherzhaft die Putzkolonne, was
Cassandra noch nie wirklich witzig fand. Offiziell hatte die
Familie Sander ein Sicherheitsunternehmen, ›das‹
Sicherheitsunternehmen Europas.
Anhand von Gesprächsfetzen und Andeutungen war es
ihr allerdings auch klar gewesen, dass das nicht alles sein
konnte. Allerdings hatte sie es früher nie hinterfragt, hatte
Noel blind vertraut.
Ich sollte mich geehrt fühlen, dachte sie mit einem
gehörigen Schuss Sarkasmus, dass sie wegen mir hier sind. In
15
diesen Genuss kam normalerweise nicht jeder. Sie straffte
ihre Schultern, nahm ihren ganzen Mut zusammen und
zwang sich dazu, zu lächeln.
»Hältst du mich wirklich für so gefährlich, dass du Mick
und Jerry mitbringen musstest?« Cassandra wunderte sich
selbst über die Ruhe, die sie plötzlich erfüllte und über so
etwas wie Freude darüber, Noels Onkel und ihren Schwager
wiederzusehen. Wie irrational!
Wie selbstverständlich ging sie auf Mick zu und umarmte
ihn. Bei dem ersten Schritt in seine Richtung zuckte seine
Hand zur Jacke, dann entspannte er sich und erwiderte ihre
Umarmung. Dabei konnte sie deutlich seine Waffe unter der
Jacke spüren. Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Es war fast
wie früher, nur auf das strahlende Lächeln, welches er ihr
immer geschenkt hatte, musste sie heute verzichten.
Cassandra drehte sich um, knuffte Jerry in die Seite und
konnte es sich nicht verkneifen, seine goldenen Locken zu
zerwuscheln. Er sah sie ernst und ungläubig zugleich an, als
ob er es mit einer Verrückten zu tun hatte. Diese Meinung
teilte er scheinbar mit Noel und Mick, denn die Blicke der
beiden Männer waren eindeutig.
Michelangelo und Jericho hätten unterschiedlicher nicht
sein können. Mick war mindestens zwei Meter groß, hatte
einen Körper wie ein Bodybuilder und man sah ihm sein Alter
nicht an. Vor kurzem musste er 50 geworden sein. Er war
Elaras Patenonkel und ihre Tochter hatte ihn damals
abgöttisch geliebt. Jerry, Noels kleiner Bruder, sah aus wie
ein Engel, blond, schlank, schulterlange Locken. Mit seinen
wasserblauen Augen und dem sinnlichen Mund mit den
wunderschön geschwungenen Lippen, war er viel zu schön
für einen Mann. Er war genauso alt wie sie, hatte sich aber,
wie die anderen beiden auch, nicht verändert. Veränderte
man sich in sieben Jahren überhaupt? Wenn sie jetzt darüber
nachdachte, ärgerte sie sich über ihre Naivität. Damals fragte
16
sie sich, warum Noels Bruder den makabren Spitznamen
Todesengel hatte. Nun war es klar.
Cassandra sah zu Noel. Er wich ihrem Blick nicht aus.
Sein Gesicht war ausdruckslos. Selbst als sie ihn auf die
Wangen küsste, war keine Gefühlsregung zu erkennen. Sie
ging einen Schritt zurück und sah, dass Noel Jerry ein
Zeichen gab, der daraufhin hinter sie trat. Cassandra spürte,
wie sich seine Hände fest um ihre Oberarme schlossen. Ihr
Herzschlag beschleunigte sich und sie blickte Noel anklagend
in die Augen, nur um dort ihren Schmerz widergespiegelt zu
sehen. Mick stand plötzlich vor ihr und streichelte, wie einem
Kind zum Trost, über ihre Wange. Sie konnte nicht
verhindern, dass sie vor dieser Berührung zurückzuckte. Mit
einer fließenden Bewegung zog er sein Messer. Das war die
pure Ironie. Es war das gleiche Messer, welches Noel und sie
ihm zu seinem 40. Geburtstag hatten anfertigen lassen.
Die silberne Klinge mit den eingravierten Zeichen blitzte
auf, als Mick sanft flüsterte: »Schließ die Augen Cassandra,
es ist gleich vorbei.«
Ihr Verstand weigerte sich seiner Aufforderung
nachzukommen, dabei wäre es so viel einfacher gewesen. Sie
redete sich ein, dankbar sein zu können, dass Noel Mick
auserwählt hatte. Er würde sie nicht leiden lassen. Nur ein
kurzer Moment des Schmerzes und sie musste nie wieder
fliehen. Dann hätte sie endlich ihre innere Ruhe und ihren
Frieden wieder. Doch im selben Moment wurde ihr klar, dass
sie nicht wollte, dass es so endete, nicht hier auf dem Hof.
Außerdem war ihr Noel vorher noch die Antwort auf das
›Warum‹ schuldig. Warum durften sie nicht ihr glückliches
Leben weiterführen? Warum musste Elara geschützt werden
und warum sollte sie selbst sterben? So viele offene Fragen.
Sie musste einfach die Antworten darauf bekommen!
Flehend schaute sie Noel an, bevor sie sprach: »Bitte nicht
hier draußen vor der Tür, nicht so. Ich verspreche dir, ich
17
werde nicht um Hilfe rufen und ich laufe auch nicht weg. Ich
werde alles tun, was du willst«. Sie wandte sich um. »Jerry,
bitte lass mich los.«
Beide Männer sahen Noel fragend an und dieser gab
nickend sein Okay. Er hatte noch immer kein Wort
gesprochen. Jerry ließ sie endlich los, drehte sich im selben
Moment um, öffnete die Tür und zog Cassandra mit sich
hinein. Mick nahm ihr den Wohnungsschlüssel aus der
Hand, mit dem er hinter ihnen zuschloss.
»Moment, ich muss noch ein Schild ins Fenster stellen,
damit meine Kunden nicht misstrauisch werden.« Cassandra
nahm die kleine Schiefertafel, die sie für diese Zwecke
bereitgelegt hatte, und schrieb den Hinweis: "Aus familiären
Gründen bis auf weiteres geschlossen", darauf. Mit einem
traurigen Lächeln stellte sie die Tafel ins Fenster und dachte
an die Ironie dieses Satzes. Nachdem sie den Vorhang des
Fensters zugezogen hatte, wandte sie sich um. Die drei
Männer standen wartend im Flur.
»Kommt mit ins Wohnzimmer. Wollt ihr etwas trinken?«
Hatte sie das jetzt wirklich gefragt? Sie schüttelte ungläubig
den Kopf. Die Männer folgten ihr. Als sie keine Antwort auf
ihre Frage erhielt, setzte sie sich in ihren Lieblingssessel, der
genauso aussah wie der, der früher in dem Haus ihrer
Vergangenheit gestanden hatte. Sie sah, dass Noel ihn
ebenfalls bemerkte.
»Cassandra ...« Noel trat einen Schritt auf sie zu. »Du
weißt, warum ich hier bin?« Als Noel sprach, wurde ihr
bewusst, wie sehr sie sich nach dem Klang seiner Stimme
gesehnt hatte. Sie war samtweich und doch männlich. Mit
dem Versprechen, zu dem Wort zu stehen, das er ihr einmal
gegeben hatte.
Sie antwortete mit leiser, aber fester Stimme: »Ja, um es
zu Ende zu bringen.«
Mick und Jerry blickten betreten zu Boden.
18
Cassandra schaffte es zu lächeln, als sie sagte: »Jetzt
schaut nicht so wie bei einer Beerdigung, ich bin noch nicht
tot. Spart euch diese Blicke für später auf, dann muss ich sie
wenigstens nicht mehr sehen.«
»Ich finde das nicht im Entferntesten so witzig wie du,
Carry.« Jerrys Stimme klang hart und doch irgendwie
verletzt.
»Meinst du, das hier würde uns Spaß machen?« Dieses
Mal war sie scheinbar nicht sehr erfolgreich damit gewesen,
die angespannte Stimmung mit einem witzigen Spruch
aufzulockern. Früher war sie besser darin gewesen.
Entschuldigend sah sie Jerry an und fügte in Gedanken
hinzu: Nein Jerry, Spaß ist wohl nicht der richtige Ausdruck!
Zumindest dieses Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit. Ihr fiel
auf, dass er nicht so förmlich war wie Noel, er nannte sie bei
ihrem Spitznamen, ›Carry‹.
Es würde früher oder später passieren, ihr Tod war nur
noch eine Frage von Minuten. Das Seltsame dabei war, dass
sie inzwischen eher Erleichterung empfand als Angst. Es war
ein eigenartiges Gefühl, fast befreiend. Sie hatte ihre
Entscheidung getroffen, jetzt brauchte sie nur noch die
Gewissheit, dass für Elara gesorgt war. Nach ihrem Tod …
Cassandra schluckte den Kloß herunter, der sich in ihrem
Hals gebildet hatte, damit sie überhaupt sprechen konnte.
»Ich habe dir versprochen, dass ich nicht fliehe, Noel. Ich
werde mein Schicksal akzeptieren, aber ich möchte dich um
einen Gefallen bitten, genau gesagt sogar um mehrere.«
Schweren Herzens fuhr Cassandra fort. »Als Erstes möchte
ich dein Versprechen, gut für Elara zu sorgen. Das ist mir das
Wichtigste.«
Er nickte nur, doch sie wusste, dass sie sich auf ihn
verlassen konnte.
»Zweitens möchte ich dir Briefe geben, die ich für Elara
geschrieben habe, für jedes Lebensjahr einen, bis zu ihrem
19
18. Geburtstag. Einer ist für ihre Hochzeit, falls sie jemals
heiraten wird und ein weiterer zur Geburt ihres ersten
Kindes. Du darfst sie gerne vorher lesen, aber es ist mir
wichtig, dass sie die Briefe erhält.« Cassandra atmete tief
durch, sie hatte alles geplant. Schon lange hatte sie das
Gefühl gehabt, dass irgendetwas passieren würde, was es ihr
unmöglich machen würde, Elara all diese Dinge persönlich zu
sagen. »Und drittens möchte ich nicht, dass Blut in dieser
Wohnung vergossen wird. Das hier ist Elaras Zuhause, sie
soll es nicht mit einem gewaltsamen Tod in Verbindung
bringen. Ich vertraue darauf, dass nicht sie es ist, die mich
finden wird. Sie soll mich so in Erinnerung behalten, wie sie
mich bei unserem Abschied zum letzten Mal gesehen hat.« Es
fiel ihr schwer, ihre Stimme ruhig zu halten. Ihre Hände
zitterten schon verräterisch genug.
Noel hatte sie nicht aus den Augen gelassen und
bewunderte Cassandras Ruhe und Entschlossenheit in dieser
Situation. Sie war erstaunlich gefasst und er wurde einmal
mehr daran erinnert, warum er sich damals in sie verliebt
hatte.
Ruhig sagte er: »Cassandra, ich verspreche dir, gut für
unsere Tochter zu sorgen. Die Briefe werde ich ihr natürlich
geben. Wir werden deine Wünsche akzeptieren und Elara
wird es an nichts fehlen.« Er streckte die Hand nach ihr aus
und zog sie dann wieder zurück.
Diese kleine Geste gab Cassandra den Mut es endlich
auszusprechen. Das Wort, welches sie jetzt seit sieben Jahren
am meisten quälte: »Warum?« Sie sah Noel bittend an und
wollte eine Antwort, eine Erklärung, eine Begründung,
warum ihr Leben hier und heute vorbei sein sollte. Etwas, das
ihr diese ganze aberwitzige Situation erklären würde.
»Ich kann dir auf diese Frage leider keine Antwort geben,
zumindest keine, die dir die Erklärung liefern würde, die du
dir erhoffst. Ich darf es nicht. Ich kann dir nur versichern,
20
dass es sein muss, für Elara und, auch wenn du es sicherlich
nicht verstehst, für dich selbst. Glaube mir, manchmal ist ein
schneller Tod nicht das schlimmste Schicksal.« Bei seinen
letzten Worten wurde Noels Stimme sanft und bittend, so als
ob er sie für das Kommende um Verzeihung bitten wollte.
Es war zwar nicht die Antwort, die sie sich erhofft hatte,
aber es musste ihr wohl genügen. Sie hatte wieder das Gefühl
des Ausgebranntseins und keine Kraft mehr, weiterhin auf
eine Antwort zu bestehen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie
sich einem hysterischen Anfall so nah gefühlt wie gerade. In
dieser Situation war das auch kein Wunder. Allerdings wollte
sie sich solch eine Blöße in den letzten Minuten ihres Lebens
definitiv nicht geben. Wenn sie heute schon sterben sollte,
dann mit so viel Stolz und Würde, wie es ihr möglich war.
»Mick, du hast Caras Wunsch gehört.«
Sie spürte einen Stich und es war, als ob ihr Herz für einen
Moment aussetze. Er hatte sie Cara genannt, wie früher und
wieder fragte sie sich, warum es so weit gekommen war.
Mick nickte. »Ich habe alles Erforderliche im Auto um es
natürlich aussehen zu lassen. Es dauert nicht lange.«
Cassandra sah ihm nach und griff nach dem Bild von Elara
und ihr, das auf dem Tisch neben dem Sessel stand. Es war
vom letzten Monat. Ein Schnappschuss von einer
Wildwasserbahn eines Vergnügungsparks. Sie konzentrierte
sich einen Moment lang auf die zwei lachenden Gesichter,
dann wandte sie sich an Noel: »Du kannst stolz auf deine
Tochter sein. Sie ist einfach großartig. Gut in der Schule, sehr
aufmerksam und einfühlsam. Sie weiß was richtig und was
falsch ist.« Mit sich kämpfend, zwang sie sich zu einem
Lächeln. Nein, sie würde jetzt nicht weinen. Das hatte sie sich
geschworen und kämpfte die Tränen zurück, die schon
verräterisch in ihren Augen brannten.
»Ich bin mir sicher, dass sie dir sehr ähnlich ist,
Cassandra«, erwiderte er.
21
Cassandra versuchte einen klaren Gedanken zu fassen und
dachte an ihre Tochter. Was war noch wichtig, was musste sie
Noel noch unbedingt mitteilen. Ihr Kopf fühlte sich an, als
wäre er mit Watte gefüllt.
»Dort im Adressbuch findest du die Adresse des
Reiterhofes, wo sie momentan ihre Ferien verbringt, aber du
weißt sicherlich schon, wo sie sich befindet oder?«
Er nickte nur, doch diese Geste sagte mehr als 1000
Worte. Überhaupt sollte sie jetzt in diesem Moment Angst
um ihr Leben haben, vor ihrem Tod, vor der Ungewissheit.
Aber das Einzige, was sie im Moment empfand, war die
Traurigkeit, dass sie nicht die Chance haben würde, Elara
weiter aufwachsen zu sehen.
Die Haustür fiel ins Schloss und kurz darauf betrat Mick
das Wohnzimmer. Er hatte eine kleine, schwarze Ledertasche
in der Hand.
»Wo sollen wir es tun?« Er überließ es ihr.
Cassandra stand ohne nachzudenken auf, ging ins
Schlafzimmer und setzte sich auf die Bettkante. Noel und
Mick kamen nach und stellten sich neben sie ans Bett. Jerry
blieb an den Türrahmen gelehnt stehen. Sein Gesicht zeigte
keinerlei Emotionen, allein seine Augen verrieten, dass er
innerlich nicht so ruhig war, wie er es nach außen den
Anschein hatte. Seufzend stand sie wieder auf und ging zu
ihm, blieb vor ihm stehen und blickte zu ihm hoch. Seit ihr
Bruder Paul damals ums Leben gekommen war, war er wie
ein Bruder für sie gewesen. Sie wollte nicht, dass er sich
Vorwürfe machte. Zögernd streckte sie die Hand aus und
nahm seine Hand in ihre.
»Ich möchte mich von dir verabschieden, Jerry. Ich wollte
dir nur sagen, dass ich mein Schicksal akzeptiert habe. Denke
ab und an an mich und erzähle Elara von dem Unsinn, den
wir zusammen angestellt haben, das wird ihr bestimmt
gefallen.« Sie versuchte für ihn zu lächeln, doch Jerry sah sie
22
mit versteinerter Miene an und nickte. Dann wandte sie sich
Mick zu. Sie streckte die Hand aus. Doch statt sie
anzunehmen, kam er auf sie zu und drückte sie fest an sich.
»Es tut mir so leid.« Mick strich ihr über das Haar.
»Ist schon gut, Mick. Ich weiß, dass all das einen Grund
haben muss, einen tieferen Sinn, auch wenn ich ihn nicht
verstehe.« Sie seufzte, nun kam der schwerste Teil - Noel.
Sie standen sich gegenüber. Keiner traute sich, den
anderen auch nur zu berühren oder das erste Wort zu
sprechen. Nach gefühlten Minuten brach Noel das
Schweigen.
»Möge der Himmel dich mit offenen Pforten empfangen!«
Es waren nicht die Worte, mit denen sie gerechnet hatte,
doch sie war froh, dass der Abschied nicht emotionaler
ausgefallen war. Sonst hätte sie die Tränen nicht länger
zurückhalten können.
Kurz und knapp antwortete sie: »Danke, Noel. Leb wohl.«
Sie setzte sich wieder aufs Bett und nickte Mick zu, um ihm
zu zeigen, dass sie bereit war. Mick öffnete den
Reißverschluss der Ledertasche und klappte sie auf. In ihr
waren diverse Ampullen und Phiolen. Er nahm ein kleines
Fläschchen heraus, welches mit einer braunen Flüssigkeit
gefüllt war.
Noel hob fragend die Brauen und Mick sagte: »Du musst
es nur trinken, Carry.«
Sie schloss die Augen, um sich zu sammeln. Sofort
schossen ihr Bilder und Berichte durch den Kopf von Leuten,
die sich mit Gift selbst umgebracht hatten und elendig hatten
leiden müssen. Sie versuchte ihre Hände ruhig zu halten und
verschränkte die Finger, damit sie das Zittern einigermaßen
verbergen konnte.
»Mick, bitte sag mir genau, wie es sein wird.« Diese
verdammte Angst vor dem Unbekannten!
»Vertraust du mir, Carry?«
23
Vertraute sie ihm?
»Ja!« Ihre Stimme zitterte.
Sanft sagte er: »Es wirkt wie ein starkes Schlafmittel, du
wirst einfach einschlafen. Du wirst keine Schmerzen haben,
das verspreche ich dir.« Auf alles Weitere ging er nicht ein,
aber das musste sie auch nicht wissen.
»Bist du bereit? Hast du noch einen letzten Wunsch oder
möchtest du beten?«
Sie antwortete leise: »Du weißt, dass ich nicht sehr gläubig
bin, Mick.« Cassandra dachte nach, ihr fiel nichts ein, was sie
in diesem Moment wollte, außer, dass es schnell vorbei war.
Mick öffnete den Verschluss und gab ihr das Fläschchen.
Während sie es in einem Zug austrank, blickte sie Noel direkt
in die Augen. Die Flüssigkeit schmeckte bitter und süß
zugleich und sie musste sich beherrschen, um nicht zu
würgen. Inzwischen zitterte sie am ganzen Körper und
versuchte ruhig zu atmen. Sie wollte stark bleiben, das hatte
sie sich vorgenommen. Mick schaute besorgt zu Noel und
dann wieder zu ihr. Noch konnte sie die Wirkung der
geheimnisvollen braunen Flüssigkeit nicht spüren. Wie lange
hatte sie noch? Keiner der Männer ließ sie aus den Augen und
doch fühlte sie sich gerade unendlich allein. Plötzlich wusste
sie, was ihr letzter Wunsch war. Entschlossen wandte sie sich
an Noel, denn sie hatte nichts mehr zu verlieren. Mit
erstaunlich fester Stimme sagte sie:
»Mein letzter Wunsch ist, dass du mich noch einmal küsst
und mich im Arm hältst, bis ich eingeschlafen bin.« Sie wollte
nicht mit dieser innerlichen Leere gehen. Sie wollte nicht
länger alleine sein.
Noel ging langsam zum Bett. Vorsichtig legte er sich neben
sie und nahm sie ebenso vorsichtig in den Arm, als ob sie
zerbrechlich wäre. Oh Gott, es fühlte sich so gut an! Sie
spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten. Gefühle … Sie
waren fast überwältigend. Seine Lippen näherten sich ihren,
24
und als sie sich zart berührten, durchfuhr sie ein kleiner
Stromschlag. In derselben Sekunde erinnerte sie sich an alle
glücklichen Momente ihres gemeinsamen Lebens und in
seinen Augen erkannte sie, dass es bei ihm ebenso war. Fest
drückte er sie an sich, als ob er sie nie wieder loslassen wollte.
Cassandra legte ihr Gesicht an seine Brust. Sein
unvergleichlicher Duft hüllte sie ein und sein ruhiger
Herzschlag beruhigte sie oder war das die Wirkung des
Mittels? Es fiel ihr immer schwerer, ihre Augen offen zu
halten und sie kämpfte inzwischen auch nicht mehr dagegen
an. Verwundert bemerkte sie, dass alle Angst verschwunden
war. Stattdessen erfüllten sie ein tiefer innerer Frieden und
eine Ruhe, die sie schon lange nicht mehr verspürt hatte. All
das, was gewesen war, driftete immer weiter von ihr weg.
Das Letzte, was sie hörte, war Noels Stimme: »Ich liebe
dich, Cara, und werde dich immer lieben.« War es
Wirklichkeit oder ein Traum? Dann wurde alles schwarz.
25
2
Das Urteil
Noel hielt Cassandra noch immer im Arm, strich ihr zärtlich
eine Haarsträhne aus dem Gesicht und küsste sanft ihre
Stirn. Wie friedlich sie aussieht, wenn sie schläft, dachte er.
Er sah sie genauer an. Sie hatte sich in den letzten Jahren
nicht sehr verändert. Ihre kupferroten Locken waren
vielleicht etwas länger und er sah das ein oder andere
Lachfältchen in ihrem Gesicht, was sie seiner Meinung nach
noch schöner machte. Sie war schon immer schlank gewesen,
aber inzwischen kam sie ihm noch zarter vor und er hatte das
starke Bedürfnis, sie zu beschützen.
Er war Jerry und Mick dankbar, dass sie sich dazu
bereiterklärt hatten, ihn zu begleiten, nachdem der Rat ihm
mitgeteilt hatte, dass es an der Zeit war, seine Aufgabe zu
Ende zu bringen. Vor diesem Tag hatte er sich die letzten
sieben Jahre gefürchtet. Jetzt, wo er da war, brach für ihn ein
zweites Mal eine Welt zusammen. Er wusste, dass er keine
Wahl hatte. Nach außen hin zeigte er keine Regung, doch in
seinem Inneren sah es anders aus.
Er erinnerte sich an gestern. Entgegen seiner Erwartung
war sie nicht in Panik ausgebrochen. Für einen kurzen
Moment hatte sie ihm sogar direkt in die Augen geschaut.
Dann war sie seelenruhig ins Haus gegangen. Sie hatte
einfach weitergemacht, als wäre nichts vorgefallen, weder die
Polizei verständigt, noch versucht zu fliehen. Selbst heute
26
Morgen hatte sie das Haus ganz normal verlassen und war in
ein Café frühstücken gegangen. So als wäre es nur ein
weiterer Tag in ihrem Leben und nicht der Letzte.
Ihre Reaktion, als sie Cassandra vor ihrer Haustüre
abgefangen hatten ... Andere hätten geschrien oder gebettelt,
nicht sie. Wie wenn sie sich mit der Situation, ihrem Tod,
abgefunden und ihn akzeptiert hätte. Während sie ihn zur
Begrüßung auf die Wange geküsst hatte, hatte er seine Hände
zu Fäusten geballt, um sie nicht an sich zu drücken. Er hätte
sie nicht wieder loslassen können. Cassandra hatte sie
hereingebeten und sogar die Gastfreundschaft hatte sie nicht
vergessen, obwohl sie genau gewusst hatte, warum sie
gekommen waren. Trotzdem hatte sie keine Angst vor ihnen
gezeigt, sie war sie selbst geblieben, hatte sogar gescherzt.
Sarkasmus war damals schon ein großer Teil ihrer
Persönlichkeit gewesen und Überraschungen standen bei ihr
auf der Tagesordnung. Jerrys Gesichtsausdruck bei ihrem
Scherz würde er niemals vergessen. Ein kleines Lächeln
huschte über sein Gesicht. Er hätte sie eben am liebsten in
den Arm genommen, sie geküsst, gesagt, dass die letzten
sieben Jahre die schlimmsten seines Lebens gewesen waren,
aber er hatte es sich verboten.
Ihr Blick, als sie nach dem Warum fragte, hatte ihn tief
getroffen. Es war ihm verboten worden, ihr die erhofften
Antworten zu geben. Und er wollte es nicht hinauszögern,
wollte es für sie so einfach wie möglich machen, ihr nicht
noch zusätzliche Schmerzen zufügen. Während sie ihm
erzählte, dass sie für Elara Briefe geschrieben hatte, war ihm
klargeworden, dass sie es gespürt haben musste. Sie hatte
gewusst, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmt. Ihre
Bedingungen für ihren eigenen Tod hatten ihn dann ganz aus
der Fassung gebracht. Er war froh, dass Mick ihn begleitete,
denn der Tod in all seinen Ausprägungen war sein
Spezialgebiet.
27
Als es so weit war, hatte er das Zittern ihrer Hände sehen,
die Angst riechen, ihren schnellen flatternden Herzschlag
hören können und doch hatte sie das Mittel ohne zu zögern
getrunken. Sie hatte voll und ganz auf Mick und sein
Urteilsvermögen vertraut. Ihr letzter Wunsch hatte ihn
vollkommen unvorbereitet getroffen und im ersten Moment
hatte er sich weigern wollen, hatte es aber nicht gekonnt.
Stattdessen hatte er sich zu ihr auf das Bett gelegt und sie
geküsst. Dieser Kuss hatte alles verändert. Vorher war er sich
zu 100 Prozent sicher gewesen, dass er die richtige
Entscheidung getroffen hatte, ihr die Gnade zu erweisen.
Doch in diesen wenigen Sekunden, die der Kuss gedauert
hatte, hatte sich das Band zwischen ihnen erneuert, wenn
nicht sogar verstärkt. Er wusste, dass wenn sie sterben
würde, ein Teil von ihm mit ihr gehen würde und dass es
einfach nicht richtig war, ihr Leben zu beenden. Sie gehörten
zusammen! Cassandra durfte nicht sterben, nicht so! Sie
musste zumindest eine Wahl haben und hatte das Recht auf
die Wahrheit. Das war er ihr und sich selbst schuldig. Sie
hatte sich vertrauensvoll an ihn geschmiegt und am Ende
hatte sie loslassen können. Es war ihm ein Rätsel, wie sie so
jemandem wie ihm noch Vertrauen schenken konnte.
Mick trat ans Bett und sah auf Noel und Cassandra herab.
Er hielt ein weiteres Fläschchen in der Hand.
»Es ist Zeit, die Sache zu beenden, Noel. Drei Tropfen
konzentriertes Skorpionidengift reichen aus. Sie wird nichts
spüren.«
Noel presste die Lippen aufeinander. Die Wut auf das
Schicksal und sein Pflichtbewusstsein lieferten sich einen
erbitterten Kampf. Dann schüttelte er wütend und
entschlossen den Kopf.
»Ich kann es nicht, Mick. Ich kann sie nicht gehen lassen,
nachdem ich sie gerade erst wiedergefunden habe.«
28
»Du weißt, dass es sein muss. Schau sie dir an, wie
friedlich sie aussieht. Sie hat ihr Schicksal akzeptiert und du
willst sie mit aller Gewalt ins Verderben stürzen?«
»Ich lasse es nicht zu, dass sie mir wieder weggenommen
wird. Sie gehört zu mir!«
»Du weißt, was das bedeutet«, wandte Jerry ernst ein.
»Ja, kleiner Bruder, mit allen Konsequenzen«, antwortete
Noel niedergeschlagen. Das Ritual war der einzige Ausweg,
aber was würde er ihr damit antun? Er musste es zumindest
versuchen, sie fragen, ob sie bereit war, es zu riskieren. Über
die Folgen wollte er jetzt nicht nachdenken. Sie musste alles
wissen und sollte sich dann erst entscheiden. Und wenn sie
sich dagegen entscheiden würde ... Nein, sie würde sich nicht
dagegen entscheiden, das war unmöglich, das durfte einfach
nicht sein!
»Mick, wann wird sie aufwachen?«, Noel sah auf seine
Uhr.
»In knapp drei Stunden denke ich.«
»Was wisst ihr über das Ritual?«
Das Ritual war ein Tabuthema in ihrer Familie. Die beiden
Männer sahen Noel besorgt an. Sie hatten so etwas zwar
erwartet, aber jetzt, da er es erwähnte, war es endgültig.
»Vor allem, dass es nur eine einzige erfolgreiche
Wandlung in den letzten vierhundert Jahren gab«,
antwortete Jerry.
»Noel, deine Mutter …«, begann Mick.
»Ich weiß, was mit meiner Mutter während des Rituals
passiert ist«, antwortete Noel mit einem drohenden Unterton
in der Stimme, der die anderen zwei verstummen ließ.
»Aber es muss nicht so kommen. Sie muss nicht so enden
wie meine Mutter«, sagte er mit überzeugter Stimme. Mick
und Jerry waren sich nicht sicher, ob er sich selbst oder sie
von seinen Worten überzeugen wollte. Noel stand auf und
ging ins Wohnzimmer.
29
»Jericho, du wirst auf sie aufpassen!«
Jerry nickte und setzte sich in den Schaukelstuhl neben
ihrem Bett. Er kannte seinen Bruder und Widerworte waren
zwecklos, wenn Noel in dieser Stimmung war. Mick folgte
seinem älteren Neffen ins Wohnzimmer und beobachtete,
wie er das Bild von Elara und Cassandra hochnahm und
anschaute.
»Mick, kannst du mich wenigstens etwas verstehen?
Weißt du, warum ich das tun muss?«
»Ich versteh dich, aber kannst du dir vorstellen, was sie im
Rat mit dir machen werden, wenn sie das hier erfahren?«
»Ich weiß, ich weiß, aber das ist meine einzige Chance,
dass wir wieder eine Familie werden, dass wir zusammen sein
können.«
»Wie viel willst du ihr verraten? Willst du wirklich ehrlich
sein und ihr sagen, worauf sie sich einlässt und was das Ritual
für sie bedeuten wird?«
»Es ist unsere einzige Chance. Ich werde sofort zum Rat
aufbrechen und seine Zustimmung erbitten. Ruf mich auf
dem Handy an, sobald sie wach ist.«
Noel verließ ohne zu zögern die Wohnung und fuhr los.
Die Stadt nahm er nur aus den Augenwinkeln wahr. Das
nächste Portal zum Wechsel zwischen den Welten befand
sich ungefähr 20 km außerhalb der Stadt.
Die Menschen dachten, sie wären der Gipfel der
Evolution, doch gab es nicht nur ihre Welt, sondern soviel
mehr als das. Mit ihren Wissenschaftlern, die forschten, um
das Wissen der Menschheit zu erweitern, den Machthabern,
die in ihrem Machtstreben nur auf den eigenen Vorteil
bedacht waren, den Kriminellen, die über Leichen gingen, um
ihr Ziel zu erreichen und auch den einfachen Leuten, die ihr
Leben lebten und für die meisten Dinge blind waren. Es gab
auch sie, die Fallen, gefallene Engel, die seit Ewigkeiten dazu
30
verdammt waren, diese schwachen Wesen zu beschützen, das
Unbekannte vor ihnen zu verbergen und sie in Sicherheit zu
wiegen.
Nachdem er sein Auto an einem Waldweg geparkt hatte,
setzte er seine Sinne ein und schickte sie aus, um zu
erkennen, ob ein menschliches Wesen in der Nähe war. Doch
er spürte nur die Lebensfunken von kleineren Waldtieren.
Noel gab seinem Körper den Befehl, sich zu verwandeln. So
erreichte er das Portal viel schneller, als es ihm in seiner
menschlichen Gestalt möglich gewesen wäre. Er hasste es
menschlich zu sein, so eingeschränkt, aber es war die einzige
Möglichkeit, sich unter ihnen unerkannt zu bewegen und
seiner Bestimmung nachzukommen.
Das Portal war als solches nicht zu erkennen. Es bestand
aus vier lose aufeinandergestapelten Felsbrocken. Ein
Mensch würde es nicht ohne weiteres erkennen und selbst
wenn, konnte er es nicht öffnen. Dazu benötigte man FallenMagie.
Noel kniete nieder, nahm sein Messer aus einer
verborgenen Scheide und zog es über die Handfläche. Er
ballte seine Hand zur Faust, Bluttropfen fielen auf die Steine.
Währenddessen sprach er die Worte des suchenden
Reisenden. Die Luft über den Steinen begann zu flimmern,
wie sie an heißen Tagen über dem Asphalt flimmerte. Es war
das Zeichen, das Portal hatte sich geöffnet. In einer
fließenden Bewegung stand er auf und sprang hindurch. Die
Sekunden, die er für den Durchtritt auf die andere Seite
benötigte, waren wie immer sehr unangenehm. Es fühlte sich
an, als ob sich eisige Nadeln in seinen Körper bohrten und
zur gleichen Zeit brannte die Luft in seinen Lungen wie
flüssiges Feuer.
Noel trat aus dem Torbogen und sah über die blauen
Dächer von Myrdia. Wäre nicht der unnatürlich wirkende
31
goldene Himmel ohne Sonne gewesen, der aus sich heraus zu
leuchten schien, hätte man Myrdia mit Santorin verwechseln
können. Kleine, verwinkelte Gassen mit weißen Häusern
waren kreisförmig um einen Hügel angeordnet, auf dem die
prachtvolle von Säulen umgebene Ratshalle thronte.
Vom oberen Portal hatte er nur einen kurzen Weg bis zu
seinem Ziel. Die wenigen Myrdianer, die ihm auf seinem Weg
begegneten, schauten ihn in seiner menschlichen Kleidung
neugierig an. Die letzten Stufen zur Halle nutzte Noel, um
sich auf das ihm bevorstehende Gespräch vorzubereiten.
Bevor er den Türklopfer betätigen konnte, öffnete sich die
Tür. Man hatte ihn schon erwartet. Alles Weitere war nur eine
Formalität.
»Was führt dich hier her, Fallen?«
»Ich möchte um Erlaubnis bitten, vor dem Rat zu
sprechen.«
Der Ratsdiener nickte, dann verbeugte er sich, bevor er
ihn in die Vorhalle führte und durch ein goldenes Tor in den
Ratssaal ging, um ihn anzukündigen.
Nervös ging Noel auf und ab. Die Vorhalle war riesig. Der
Fußboden aus schwarzem Marmor glänzte und war der
perfekte Kontrast zum Weiß der Wände und Decken. Die
Fackeln und Feuerbecken tauchten alles in ein unwirkliches
Licht. Für ihn dauerte es fast eine Ewigkeit, bis sich die Tür
ein zweites Mal öffnete und der Ratsdiener ihn heranwinkte.
Er atmete tief durch und trat ein. Bisher war er nicht oft
im Ratssaal gewesen. Das letzte Mal, kurz bevor Cassandra
mit Elara geflohen war. Er sah noch genauso aus wie damals,
ein runder Raum, dunkel und fensterlos. Das einzige Licht
kam von oben und von den Fackeln an den Wänden. Ihm
gegenüber standen auf einer Empore zwölf Throne mit
eindrucksvollen Schnitzereien, die einen Halbkreis bildeten.
Vor ihnen standen zwölf Fallen mit langen schwarzen
Umhängen, ihre Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. An den
32
Wänden waren kunstvolle Gemälde angebracht, die die
Rebellion des gefallenen Engels Luzifer und seiner
Verbündeten gegen Gott und das Himmelreich zeigten.
Noel ging vor bis er in dem Lichtkegel, welcher das
Zentrum des Raumes erhellte stehen blieb. Dann kniete er
nieder und wartete darauf, dass der Rat ihn aufforderte zu
sprechen.
»Noel von den Fallen, erhebe dich.«
Noel richtete sich langsam auf, hielt aber den Kopf
ehrerbietig geneigt.
»Hast du deine Aufgabe zu unserer Zufriedenheit erfüllt?«
Ohne zu zögern, antwortete er: »Nein.«
Ein Raunen ging durch den Raum.
»Dann werden wir es zu Ende bringen und du wirst dich
deiner gerechten Strafe stellen müssen.« Noel atmete tief
durch und blickte auf, bevor er sprach: »Ich erbitte von euch
die Erlaubnis, Cassandra auf das Ritual vorzubereiten.«
Auf die zuerst eingetretene Stille erfolgte ein
mehrstimmiges, ungläubiges Flüstern und er konnte
Kopfschütteln erkennen.
»Gerade du, Noel von den Fallen, solltest wissen, dass der
Tod für ein menschliches Wesen gnädiger ist, als die Folgen,
die das Ritual bei den Menschen hervorrufen kann. Was weiß
sie von dir, von uns?«
»Sie weiß noch nichts. Momentan ist sie in ihrer Wohnung
und sie ist nicht allein.«
»Wie hat sie das zu vollstreckende Urteil aufgenommen?«
»Sie hat mich überrascht und ihr Schicksal
angenommen.«
»Warum erbittest du das Ritual? Um ihretwillen oder um
deinetwillen?«
»Ich bin ehrlich, ich erbitte es um meinetwillen. Ich
möchte nicht mehr ohne sie leben müssen, denn ein Leben
ohne sie ist kein Leben für mich. Ich musste es schon zu lange
33
ertragen.« Noel war überrascht über seine Ehrlichkeit. Er
hoffte, dass Cassandra ihn ebenfalls noch liebte, dass die
Liebe groß genug sein würde, damit sie ihn auch noch lieben
konnte, wenn sie alles wusste.
Der Rat bildete einen Kreis und sie berieten sich. Nach
endlos wirkenden Minuten wandten sie sich erneut Noel zu.
»Eine Frage, Noel von den Fallen. Du weißt, dass dein
Leben ebenfalls verwirkt sein wird, wenn sie eine der
gestellten Aufgaben nicht freiwillig und erfolgreich erfüllt?«
»Ja, das ist mir bewusst und dieses Risiko trage ich gern.«
Noel wusste, dass die Chance, dass die ganze Sache kein gutes
Ende nehmen würde, astronomisch größer war, als die auf
ein Happy End. Sicher, es gab noch Elara, aber er war
überzeugt davon, dass seine Familie gut für sie sorgen würde.
Nach unendlichen Minuten des Wartens teilte der Rat ihm
die Entscheidung mit.
»Dein Wunsch wird dir gewährt. Das Ritual wird nach
Menschenzeit heute Abend um achtzehn Uhr beginnen, der
Ort ist dir bekannt. Dir wird die Erlaubnis erteilt, das Portal
zu nutzen und du darfst fünf Zeugen deiner Familie mit dir
bringen. Bis dahin wirst du Zeit haben, die Menschenfrau so
darauf vorzubereiten, wie es dir beliebt. Sollte sie sich
dagegen entscheiden, ist ihr Leben wie zuvor verwirkt. Du
wirst es nehmen, doch dann so, wie es jemandem deines
Standes geziemt.«
Noel wurde blass. Nein, das durfte nicht passieren! Er
hoffte, dass Cassandra die richtige Entscheidung traf und
über das andere wollte er nicht nachdenken. Er wusste, dass
dies die Strafe für sein Zögern war, den Auftrag des Rates
auszuführen. Noel verbeugte sich erneut und sprach: »Ich
nehme euer Urteil an.«
Der Rat nickte wohlwollend und dann sprach er: »Du bist
entlassen!«
34
Das war besser gelaufen, als er es befürchtet hatte. Noel
verließ den Raum und sah auf seine Uhr. Es war inzwischen
kurz vor eins und Cassandra würde bald wieder aufwachen.
Er hatte nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war. Er
war erleichtert, dass der Rat zugestimmt hatte, wunderte sich
allerdings auch darüber, dass es so einfach gewesen war,
dessen Zustimmung zu bekommen. Schnell ging er zurück
zum Portal. Von Myrdia aus reichte es, nur den Namen des
Zielportals laut auszusprechen und die Verbindung wurde
hergestellt. Nachdem er das Portal durchschritten hatte,
spürte nach Menschen, und als er sich sicher war, dass
niemand seinen Weg kreuzen würde, beeilte er sich, um zum
Auto zu kommen.
Während der Rückfahrt überlegte er, wie er Cassandra in
der kurzen Zeit die ihm zur Verfügung stand, alles über ihn,
seine Art, seine Familie und das Ritual erklären sollte. Vor
allen Dingen, wie er das bewältigen sollte, ohne sie total zu
verstören, oder eher, noch mehr zu verstören, als sie ohnehin
schon sein würde, sobald sie wieder aufwachte. Er griff zu
seinem Handy und sah, dass noch keine Nachricht von Jerry
oder Mick angekommen war. Dann wappnete er sich
innerlich und wählte die Nummer seines Vaters. Als er
dessen aufgebrachte Stimme hörte, wusste Noel, dass sein
Vater bereits durch den Rat informiert worden war.
»Sohn, was hast du getan?«
Noel schwieg.
»Du hast noch immer eine Chance, deine Aufgabe zu Ende
zu bringen. Du musst es tun.« Die Stimme seines Vaters war
eindringlich, aber zeigte auch, dass es ihn emotional nicht
kalt ließ. »Es wird euch beide zerstören. Lass Mick es tun und
du wirst Elara haben und in deiner Erinnerung wird
Cassandra auf ewig deine Cara sein.«
»Ich habe dich nie gefragt, warum du für Mutter das
Ritual erbeten hast.«
35
Sein Vater zögerte, dann sprach er leise und mit müder
Stimme: »Noel, Marisa war etwas Besonderes. Bei unserer
ersten Begegnung wusste ich, dass sie ein Teil von mir war
und ich mich ohne diesen Teil nie wieder vollkommen fühlen
würde. Sie liebte und bewunderte mich von ganzem Herzen
und dich liebte sie ebenfalls. Als der Abend gekommen war,
an dem ich ihr das Leben nehmen sollte, fiel sie vor mir auf
die Knie und flehte mich an, sie leben zu lassen. Sie wollte
dich aufwachsen sehen und das Leben mit mir nicht
aufgeben. Sie wusste ganz genau, worauf sie sich einließ. Ich
wollte sie ebenfalls nicht hergeben, deshalb sprach ich beim
Rat vor und erbat das Ritual. Auch wenn ich genau wusste,
dass sie es nie schaffen würde, dass sie daran zerbrechen
würde, war ich doch selbstsüchtig genug es zu tun. Ich habe
ihr nicht die Gnade erwiesen sie gehen zu lassen, auch wenn
es für sie das Beste gewesen wäre. Ihre Schreie verfolgen
mich bis heute in jeder Nacht.« Seine Stimme erstarb.
Noel parkte vor Cassandras Haus. Er brauchte einige
Sekunden um das Gehörte zu verarbeiten, dann sprach er
überzeugt: »Cara ist anders, sie ist stark. Sie kann es schaffen,
sie muss es einfach schaffen. Bitte hilf mir, sie vorzubereiten.
Ich habe nur noch vier Stunden und ich brauche deine Hilfe
als Vater, bitte.«
»Wenn es das ist, was du wirklich glaubst und willst,
werde ich für dich, nein für euch, da sein. Gib mir eine
Stunde. Du weißt, dass ich Cassandra als Schwiegertochter
sehr geschätzt habe. Sie hat mehr als einmal gezeigt, dass sie
eine würdige Gefährtin für dich ist. Bis gleich.«
Kaum hatte sein Vater das Gespräch beendet, rief er seine
Schwester Aline an.
»Noel, wie geht es Dir?« Und etwas leiser: »Ging es
schnell?« Sie klang traurig. Cassandra war ihre beste
Freundin gewesen und sie litt damals mit Noel, als sie ihn
verlassen hatte.
36
»Aline, sie lebt.« Er hörte, wie sie nach Luft schnappte.
»Aber …«
»Aline, ich brauche dich hier. Ich habe nur wenig Zeit sie
vorzubereiten und kann alle Hilfe brauchen, die ich
bekommen kann.«
»Noel, sag, dass es nicht wahr ist, dass du nicht …«
»Doch, heute Abend schon. Deshalb bitte ich dich komm
her, so schnell du kannst.«
»Nein, okay … ja, ich komme.«
»Bringst du alles Wichtige für Cassandra mit? Ich denke,
Vater wird an die Dinge denken, die ich für das Ritual
benötige.« In diesem Moment erreichte ihn eine SMS von
Mick. »Aline, ich muss Schluss machen. Sprich dich mit Vater
ab und komm dann bitte mit ihm her.« Er wartete nicht auf
ihre Antwort und beendete das Gespräch. Cassandra wachte
auf.
Vertrau mir! Prophezeiung
Als Taschenbuch und eBook im Buchhandel erhältlich.
37
Vorschau:
Parker Jean Ford
Vertrau mir!
Erfüllung
Leseprobbe XXL
ELVEA VERLAG
38
Abschied
Cassandra wurde durch eine federleichte Berührung an ihrer
Wange geweckt. Verschlafen blinzelte sie und sah in Noels
lächelndes Gesicht.
»Guten Morgen du Schlafmütze.«
»Mmmmh.« Cassandra hatte noch keine Lust zu sprechen
und kuschelte sich enger an ihren Gefährten heran. Sie lagen
noch genauso, wie sie am Abend zuvor eingeschlafen waren.
Ihre Wange ruhte an seiner Brust und sie strich sanft mit den
Lippen über seine Haut.
»Wir haben noch etwas Zeit. Es ist jetzt ungefähr neun
Uhr und gegen elf werden wir aufbrechen.«
»Was, wir haben schon neun Uhr?« Sie war schlagartig
hellwach, sprang auf und stürmte ins Bad.
Noel konnte sie dort hantieren hören und lachte leise, als
sie vor sich hin schimpfte.
»Nur noch zwei Stunden, als ob eine Frau in der Zeit fertig
werden würde, wenn sie verreist.«
Gemächlich stand Noel auf und folgte ihr ins Bad.
»Cara, erstens bist du kein Modepüppchen und brauchst
keine drei Stunden im Bad. Zweitens hat dir, oder besser uns,
der Schlaf gutgetan und drittens ist schon alles für unsere
Reise arrangiert. Wir reisen nur mit leichtem Gepäck und
können über das Portal jederzeit das bekommen, was wir
brauchen. Mal ganz davon abgesehen, dass der Zirkel
wahrscheinlich nicht hinter dem Mond lebt und es dort alles
39
gibt, was wir für das tägliche Leben benötigen. Bis auf Blut
vielleicht.«
Der letzte Satz ließ Cassandra aufhorchen.
»Denkst du, dass das ein Problem werden könnte?« Allein
bei der Erwähnung von Blut fing ihr Magen an zu knurren.
Sie benötigte noch immer mehr Blut als die anderen, da sich
ihr Körper weiterhin in der Umstellungsphase befand.
Schließlich war sie erst seit wenigen Tagen kein Mensch
mehr. Sie war eine Fallen, ein Wesen, welches gefallenen
Engel und Dämon in sich vereinte. Erfahrungsgemäß würde
es noch ein bis zwei Wochen dauern, bis sich ihr Körper
vollkommen gewandelt hatte.
»Der Zirkel ist auf unsere Ankunft seit Jahrhunderten,
wenn nicht sogar schon seit über tausend Jahren vorbereitet.
Es sollte für ihn kein größeres Problem darstellen. Allerdings
könnte es sein, dass wir direkt von Spendern trinken müssen,
aber das hast du ja trainiert. Es verlangt eine besondere
Disziplin.«
Cassandra nickte. Die Erinnerung daran, welche
Beherrschung sie das erste Mal gekostet hatte, war noch
frisch.
Noel lehnte nackt, wie Gott ihn erschaffen hatte, am
Türrahmen und beobachtete sie. Cassandra wollte eigentlich
seinen Blick ignorieren, hielt dieses Vorhaben jedoch nicht
lange durch.
»Wie wäre es, wenn der Herr sich auch einmal wäscht und
fertigmacht? Das hier ist keine persönliche Showeinlage für
40
dich, sondern deine Frau, die ziemlich nervös und aufgeregt
ist. Wir haben nur noch zwei Stunden Zeit und …«
Er stieß sich am Türrahmen ab und schlenderte zu ihr,
nahm sie in den Arm und hielt sie einfach nur fest.
»Ganz ruhig. Wir haben noch genügend Zeit. Die anderen
warten mit dem Frühstück und werden uns anschließend
zum Portal begleiten.«
Allein Noels Stimme zu hören und ihn zu spüren,
beruhigte sie.
»Es ist nur …, was ist, wenn der Zirkel uns nicht aufnimmt,
oder abweist? Oder denkt, dass wir mit den Dämonen unter
einer Decke stecken?«
»Dann werden wir in aller Ruhe mit ihnen reden, unser
Bestes tun und sie davon überzeugen, dass wir diejenigen
sind, die sie laut Prophezeiung erwartet haben. Du musst
dich nicht verstellen oder schauspielern. Sei einfach du
selbst, so offen und ehrlich, wie du immer bist. Mir ist
bewusst, dass es nicht einfach werden wird. Trotzdem bringt
es nichts, wenn wir uns jetzt verrückt machen. Wir lassen es
einfach auf uns zukommen.«
Sie duschten zusammen, da Cassandra Noels Nähe
brauchte. Beide waren keine Personen die lange im Bad
benötigten. Ihre roten Locken bändigte Cassandra einfach
mit einer kupferfarbenen Haarspange.
Noel war schon wieder im Schlafzimmer. Er hatte ihre
Kleidung auf das Bett gelegt und Cassandra war überrascht,
dass sie nicht das Kampfgewand anzogen. Sie hatte eigentlich
damit gerechnet, da sie es fest mit den Fallen verband. Das
Aufeinandertreffen mit dem Zirkel folgte eigenen Regeln.
Nach Noels Erklärung würden sie spezielle Gewänder tragen,
die in der Prophezeiung beschrieben waren. Auch wenn sie in
menschlicher Gestalt vor den Zirkel traten, war es dennoch
Kleidung, die auf die Bedürfnisse von Fallen ausgerichtet
war. Sowohl Noel als auch sie nahmen ihre menschliche
41
Gestalt an. Für einen Moment fühlte sich ihr menschlicher
Körper ungewohnt für Cassandra an. Es war verrückt, wie
schnell sie sich an ihre Fallengestalt gewöhnt hatte. Sanft ließ
sie ihre Finger über den Stoff gleiten. Ohne Krallen brauchte
sie zum Glück nicht übermäßig vorsichtig zu sein. Sie
bewunderte die feine Arbeit. Als Schneiderin hatte sie ein
besonders gutes Auge für diese Art von Kunstfertigkeit. Die
Gewänder waren aus Leinenstoff gefertigt und trugen das
Familienwappen der Sanders: Den geflügelten Löwen mit
Drachenschwanz. Das Wappen war nicht etwa aufgestickt
oder aufgenäht, sondern eingewebt, was spezielles
handwerkliches Geschick verlangte. Bei Noels Gewändern
war schwarz die dominierende Farbe. Er nahm seine Tunika
vom Bett und zog sie an. Dazu wählte er passende
Beinkleider, einen Ledergürtel und weiche Lederstiefel. Für
Cassandra lagen ein grünes, fast bodenlanges Kleid mit
einem braunen Gürtel sowie eine erdbraune Wildledertasche
bereit. Dazu passend standen vor dem Bett ebenso
erdfarbene Wildlederstiefeletten. »Warum euer Wappen?«
Noel lächelte.
»Es ist auch dein Wappen, Cara! Heute Morgen, als du
noch wie ein Murmeltier geschlafen hast, waren Rowena und
mein Vater hier. Ich war ebenso erstaunt wie du, dass sich
unser Wappen auf den Tuniken befindet. Man hatte mir zwar
gesagt, dass wir die spezielle, also überlieferte Kleidung
tragen müssen, doch nicht, wie sie aussehen würde. Dieser
Teil der Prophezeiung wurde bislang vor uns geheim
gehalten. Durch die Erwähnung unseres Wappens war es
dem Rat von jeher bekannt, dass unsere Familie mit der
Prophezeiung verbunden ist. Selbst mein Vater wusste nichts
davon. Der Rat war der Überzeugung, dass es so besser wäre.
Du siehst also, nicht nur du bist der Auslöser für das alles
hier. Meiner Familie war es auch vorherbestimmt. In
manchen Punkten ist die Prophezeiung sehr vage und in
42
anderen wiederum sehr deutlich. Der Rat hat die Geburt
einer Fallen mit grünen Augen erwartet, die die
Prophezeiung erfüllt. Es war nicht klar, dass die Grünäugige
Hoffnung ein gewandelter Mensch sein würde, sonst hätten
sie dich als meine Frau schon damals im Auge behalten. Bei
der in der Prophezeiung beschriebenen Frau hätte es sich
genauso gut um Jerrys Frau handeln können. So wäre ich
zum Feldherr bestimmt gewesen und nicht er. Rein
theoretisch hätten Rowena und Maximilian weitere Kinder
bekommen können und unter ihnen eine Tochter mit grünen
Augen. Selbst Elara wäre in Frage gekommen. Sie hat deine
grünen Augen, Cara.«
Cassandra war für einen Moment still. Ihr wurde einmal
mehr bewusst, wie sehr das Schicksal ihr Leben bestimmte.
Noel zuckte nur mit den Schultern.
»In der hochtechnisierten Welt der Menschen hat man
verlernt zu glauben. Jeder ist auf sich selbst fixiert, nicht auf
das Wohl des Ganzen. Niemand möchte mehr ein Risiko
eingehen, geschweige denn Verantwortung übernehmen.
Alles versucht man mit Wissenschaft zu belegen. Was
einerseits gut ist, doch andererseits verschließt man die
Augen für Phänomene, die nicht erklärbar sind. Für jene
kleinen Beweise, dass es mehr gibt zwischen Himmel und
Erde, als die Wissenschaft erklären kann. Entweder werden
sie aus Angst vor dem Unbekannten ausgeblendet, oder es
wird versucht sie zu vertuschen. Bei uns ist es anders. Einige
Dinge ›sind‹ einfach, oder besser gesagt, sind für uns Fakt.
Wir akzeptieren sie und verschwenden keine Zeit darauf, uns
darüber zu beklagen. Das Wissen über den bevorstehenden
Kampf der Kämpfe war immer ein Bestandteil unseres
Lebens. Unsere ganze Kultur baut darauf auf, dass wir eine
Aufgabe haben, nämlich die Menschheit zu schützen. Wir
wissen, dass jeder Kampf der letzte sein könnte. Deshalb
haben wir eine andere Lebensphilosophie. Wir leben
43
bewusster, genießen die Zeit, die wir mit unseren Familien
verbringen können. Während in der Menschenwelt alles auf
Geld und Profit abzielt, sind unsere größten Werte die
Familie und das Leben selbst. Beides ist unendlich kostbar.
Sie sind mit keinem Geld der Welt zu erkaufen. Darauf
konzentrieren wir uns. Wohin unser Weg uns letztendlich
führt, weiß nur unser Schöpfer und das ist gut so. Wir
erreichen unsere Ziele gemeinsam. Die einzelnen Häuser der
Fallen sind eng miteinander verbunden. Dass es jetzt unsere
Familie getroffen hat, ist zweitrangig. Wir werden unsere
Aufgabe mit Stolz erfüllen, für die Fallen und für die
Menschen.«
Cassandra holte tief Luft. Seine Worte gaben ihr viel Stoff
zum Nachdenken. Ihre Kulturen waren so grundverschieden.
Sie musste noch viel lernen.
Mittlerweile waren sie fertig angezogen. Neugierig öffnete
Cassandra die Wildledertasche, die zu ihrem Gewandt
gehörte und schaute hinein. In ihr fand sie ihren Dolch und
ein kleines, goldenes Samtkästchen. Sie konnte nicht
widerstehen und öffnete es. Darin lagen zwei breite Ringe aus
geschmiedetem Gold. Kunstvoll waren der Löwe aus dem
Familienwappen der Sanders und über ihm eine flammende
Sonne eingraviert worden. Es war klar, was das bedeutete.
Schnell klappte sie das Kästchen wieder zu und ließ es in der
Tasche verschwinden. Es waren die Trauringe für Aline und
ihren zukünftigen Ehemann, den Heerführer des Zirkels des
Lichts. Sie konnte es noch immer nicht glauben. Eine junge
Frau in eine Ehe zu zwingen war so rückständig. Auch Noels
Blick hatte sich beim Anblick der Ringe verfinstert. Sie
verstanden sich ohne Worte. Diese Zwangsheirat war für alle
ein Problem, auch wenn die Prophezeiung noch aus einer Zeit
stammte, in der arrangierten Ehen gang und gäbe waren.
44
»Wir sollten zu den anderen. Ich möchte mich gerne
verabschieden und ich spüre deinen Durst.« Er war kurz
angebunden.
Cassandra folgte Noel ins Esszimmer. Dort war die
Familie, bis auf Aline, bereits versammelt. Die Tafel war
reichhaltig gedeckt und alle waren festlich gekleidet.
Scheinbar würden sie sogar eine Abschiedszeremonie
bekommen.
In Gedanken fragte sie Noel:
»Ist das wirklich nötig?«
»Es ist vom Rat festgelegt worden. Es war schon seit
jeher so, dass die Zurückbleibenden diejenigen, die in einen
Krieg ziehen, im Vorfeld gefeiert haben und gebührend
verabschieden. Man weiß nie, ob man im Nachhinein noch
die Gelegenheit dazu hat.«
»Klasse! Aber durchaus pragmatisch. Wenn man tot ist
kann man nicht mehr feiern. Wir ziehen aber nicht in einen
Krieg!«
»Doch, unser Besuch beim Zirkel des Lichts ist der Auftakt
dazu.«
»Ich sehe das eher als einen Besuch unter potentiellen
Verbündeten.«
»Ja und nein, wenn wir dort eintreffen, erfüllt sich ein
weiterer Teil der Prophezeiung. Es bedeutet, dass wir in
diesem Krieg aktiv werden, indem wir den Zirkel aufsuchen
und im günstigsten Fall das Menschenheer mit dem unseren
vereinen.«
Cassandra schnaubte.
»Hey, könntet ihr uns bitte an eurer stummen
Meinungsverschiedenheit teilhaben lassen?«
Noel und Cassandra bemerkten gleichzeitig, dass sie die
anderen während ihrer mentalen Unterhaltung völlig
vergessen hatten.
45
»Guten Morgen, entschuldigt bitte.« Verschämt sah sie zu
Noel der gerade so aussah, als ob ihm die Augen aus dem
Kopf fallen würden. Cassandra sah in die Richtung, in die
Noel blickte und sah Jerry und Maximilian entgeistert an.
»Na, wie gefällt euch unsere schicke und trendige
Kurzhaarfrisur? Wir haben uns sagen lassen, dass das der
letzte Schrei unter den Kriegsherren ist.« Jerry zwinkerte
Cassandra zu.
»Dein Gatte ist auch noch an der Reihe. Eigentlich wollte
ich mich heute Nacht zu euch ins Schlafzimmer schleichen
und ihn rasieren. Ich wette, nach euren Aktivitäten von
gestern Abend wäre er dabei noch nicht einmal wach
geworden.«
»Pass auf, dass ich dir nicht noch etwas ganz anderes
rasiere!« Cassandra wurde zwar rot, aber sie hatte sich
vorgenommen, sich nicht mehr von Jerrys frechen
Bemerkungen aus dem Konzept bringen zu lassen. Früher
hatte sie ihm schließlich immer gut Kontra geben können. So
etwas verlernte man nicht!
»Ist das bei euch auch Sitte die Haare schneiden zu lassen,
wenn man in den Krieg zieht?« Cassandra betrachtete Jerry
genauer. Ohne seine Lockenpracht sah er älter aus,
erwachsen und seiner Aufgabe angemessen. Maximilian
stand die Kurzhaarfrisur ebenfalls sehr gut. Trotzdem
vermisste sie die längeren Haare auch bei ihm.
»Ja, es ist so praktischer. Der Feind kann sie nicht so
schnell greifen.« Maximilian fuhr sich durch sein Haar und
lachte.
»Und wir setzen ein Zeichen. Wir zeigen, dass wir mit
einer Episode in unserem Leben abschließen und bereit sind,
eine neue zu beginnen. Wir sind bereit für den Kampf!«
Cassandra atmete tief durch. Der Krieg wurde immer
greifbarer, hielt Einzug in ihr Leben. Und doch war es so, dass
er nicht über sie hereinbrach. Ihm wurden Tür und Tor
46
geöffnet, damit sein Schrecken sie nicht überrollen konnte.
Die Fallen waren ein eigenes Volk mit einer sehr eigenen
Sichtweise auf das Leben. Cassandra war nun ein Teil des
Ganzen und würde sich nicht von ihren noch menschlichen
Empfindungen lähmen lassen! Sie nahm sich wiederum fest
vor zu lernen, Leben und Tod wie die Fallen zu sehen.
Niemand geriet in Panik, niemand leugnete. Jeder Umstand
und jedes Ereignis wurde angenommen und aktiv damit
gearbeitet. Gut, wenn sich alle ›normal‹ verhielten, dann
würde sie es ebenfalls tun!
Cassandra musterte Jerry auffällig lange und meinte
dann:
»Deine Frisur hat übrigens etwas von einem gewissen
Teenie Idol. Wie heißt er noch gleich? Es war irgendein
Nagetier.« Sie tat so, als ob sie nachdenken würde, dann
zuckte sie mit den Schultern.
»Egal, dir werden die Mädchen jedenfalls reihenweise zu
Füßen liegen.«
Jerry wurde blass. Erwischt! Mühsam unterdrückte
Cassandra ein Grinsen und versuchte gleichzeitig ernst zu
bleiben.
»Was? Sag, dass das nicht wahr ist! Mutter?« Jerry sprang
auf und lief in den Flur, wo ein Spiegel hing.
Daraufhin fingen alle lauthals an zu lachen und Jerry kam
leise grummelnd zurück.
»Danke für das Veralbern. Ehrlich gesagt habe ich mich
nicht getraut in den Spiegel zu schauen, nachdem Mutter mir
die Haare geschnitten hat. Mein ganzes Leben hatte ich lange
Haare, aber ich finde, es sieht gar nicht so übel aus.«
Cassandra lachte.
»Ja, stimmt, es steht dir wirklich. Aber ein bisschen
musste ich dich schon ärgern, du hattest es eindeutig
verdient!«
Dann kam er auf Noel zu und sah ihn von unten herauf an.
47
Noel war der größte in der Familie, sogar einige
Zentimeter größer als sein Vater. Rowena war dagegen klein
und zierlich, ihre Kinder von normaler Statur. Man merkte
deutlich, dass Noel eine andere Mutter hatte, denn er hatte
viel von Marisa geerbt.
»So großer Bruder, bereit für einen Haarschnitt vor dem
Frühstück?«
Gespielt seufzend nickte er.
»Es scheint, dass ich sonst kein Frühstück bekommen
werde und ich habe Hunger. Cara, würdest du mir bitte meine
Haare schneiden?«
Huh … okay … sie hatte so etwas noch nie getan, aber
einmal war immer das erste Mal. Noel fasste seine Haare mit
einem Gummi zu einem Pferdeschwanz zusammen und
Rowena reichte ihr die Schere.
»Setz dich hier auf den Stuhl.« Sie hatte schon alles
vorbereitet.
»Zuerst schneidest du den Pferdeschwanz ab und dann
kürzt du die Haare an den Seiten. Wir Frauen stecken uns
übrigens die Haare im Kampf fest hoch.« Rowena
schmunzelte.
»Jericho wollte schon von mir lernen, wie das geht.«
»Mutter!« Jerry sah seine Mutter halb bittend und halb
warnend an. Scheinbar hatte er wirklich an seinen Haaren
gehangen.
»Furchterregender Kriegsherr, was?« Mit einem Lachen
ließ Cassandra die Schere fallen und lief blitzschnell davon,
als Jerry den ersten Schritt auf sie zu machte. Bald lagen sie
lachend auf dem Sofa, wo Jerry sie mühelos gestellt hatte. Sie
wuschelte ihm wie üblich durch die Haare, was mit den
kurzen Haaren nicht so richtig gelang.
»Ha, zumindest ein Gutes hat das ganze!« Triumphierend
sah er sie an.
Schmunzelnd ließ sie sich von ihrem Schwager aufhelfen.
48
»Ja, wenn deine böse Schwägerin dir nicht die Haare in
Unordnung bringen kann, dann kann auch kein Feind sie zu
deinem Nachteil nutzen. Sie sind sozusagen ›Carry-erprobt‹
und für gut befunden worden!«
Wieder wunderte sich Cassandra, wie normal dieser
Morgen ihrer Abreise doch war. Normal bis auf das Fehlen
von Aline. Sie konnte es der Schwägerin, die auch eine gute
Freundin war, nicht verübeln, dass sie Zeit für sich brauchte.
Eine Hochzeit mit einem Unbekannten …
Noel saß noch immer lachend auf seinem Stuhl. Rowena
reichte ihr die Schere. Zuerst schnitt Cassandra Noels
Pferdeschwanz ab und hielt das noch mit dem Gummi
zusammengebundene Haar für einen Moment in der Hand.
Rowena trat mit einer Holzkiste an ihre Seite und öffnete
diese. Darin lagen schon zwei Haarbündel, das eine von Jerry
und das andere von Maximilian. Cassandra legte Noels
abgeschnittenen Pferdeschwanz zu den anderen und Rowena
stellte das Kästchen auf das Sideboard.
»Du musst mit deinen Fingern durch das Haar gehen und
alles, was länger ist, abscheiden.«
Konzentriert folgte sie den Anweisungen und am Ende
reichte Rowena ihr eine Schüssel mit Wasser. Cassandra
befeuchtete ihre Hände und fuhr Noel durch die nun kurzen
Locken, die sich durch das Wasser stärker kringelten.
Prüfend begutachtete sie ihr Werk. Seine Züge traten nun
markanter hervor, aber sie konnte nicht sagen, dass ihm das
kurze Haar schlechter stand, als die längeren Haare.
Cassandra lächelte und er lächelte zurück.
»Gut, aber jetzt bekomme ich endlich mein Frühstück,
oder?«
Das Frühstück verlief ruhig und Cassandra trank
ausnahmsweise zwei Becher Blut, da sie nicht wussten, wann
sie wieder welches bekommen würde. Sie erfuhren, dass
49
Aline bereits zur Ratshalle aufgebrochen war und Elin sie
dort auf die Zeremonie vorbereitete.
Gemeinsam machten sie sich im Anschluss auf den Weg
zur Ratshalle. Im Gegensatz zu ihrem ersten Gang dorthin
säumten Reihen von Fallen den Weg. Sie standen stumm am
Straßenrand und verbeugten sich, als die Sanders vorüber
gingen. Cassandra war das unangenehm. Noch
unangenehmer war, dass die Menge ihnen folgte. Als sie auf
dem großen gepflasterten Platz vor der Halle ankamen,
führten sie eine stattliche Prozession an. Die Fallen
versammelten sich auf dem Platz und warteten auf etwas.
Scheu sah sie zu Noel, der ihr aufmunternd zulächelte und
ihre Hand hielt.
»Du solltest zu ihnen sprechen, Cara. Sie warten darauf,
denn du bist die Grünäugige Hoffnung. Sie haben ihr ganzes
Leben lang auf dich gewartet.«
Geschockt sah sie Noel an. In Gedanken sagte sie:
»Warum hast du mir das nicht gesagt? Wenn ich das
gewusst hätte, dann hätte ich mich darauf vorbereiten
können.« Sie war es nicht gewohnt vor Fremden zu sprechen.
Noch dazu vor Fremden, für die sie mit ihren dreißig Jahren
noch in den Kinderschuhen stecken musste.
»Wenn ich dir davon erzählt hätte, hättest du dich den
ganzen Morgen lang verrückt gemacht. Ich dachte mir, ein
Schubs ins kalte Wasser wäre da besser.«
Der Blick, den sie ihm zuwarf, war ziemlich eindeutig, aber
es half nichts. Sie hatte ihre Rolle zu spielen, das wurde von
ihr erwartet.
Cassandra wandte sich der Menge zu, die sich vor ihr
versammelt hatte. Frauen, Männer und Kinder sahen sie
erwartungsvoll an. Sie räusperte sich, um den Kloß im Hals
los zu werden.
»Hallo.« Ihre Stimme zitterte etwas.
50
»Ich meine, seid gegrüßt.« Himmel, was sollte sie sagen?
Am besten die Wahrheit!
»Ich bin erst seit wenigen Tagen eine von euch und hatte
vorher keinerlei Ahnung von eurer Welt und der schweren
Bürde, die ihr tragen müsst. Es ist noch immer nicht einfach
für mich das alles zu verstehen und doch bin ich bereit, meine
Rolle in der Prophezeiung zu erfüllen. Ich bin die Grünäugige
Hoffnung! Es ist mein Schicksal, den Kampf der Kämpfe
einzuläuten. Aber es ist mir auch ein Anliegen, euch
Hoffnung zu schenken. Die Hoffnung, diesen Kampf für die
Menschheit und die Fallen zu entscheiden und einen neuen,
dauernden Frieden sicherzustellen.«
Für einen Moment war es ruhig, dann begannen die
erwachsenen Fallen, mit ihren Flügeln zu schlagen. Unsicher
sah Cassandra wieder zu Noel, der ihr bestätigend zunickte.
Leise sagte er:
»Das ist bei uns ein Zeichen der Hochachtung. Verbeuge
dich, du hast sozusagen bestanden.«
Cassandra zögerte nicht, lächelte zaghaft und verbeugte
sich vor der Menge.
»So, nun solltest du an die Tür klopfen, du bist die
Anführerin unserer Mission.« Noel drückte Cassandras Hand
fester. Wenn sie eine Rede vor gefühlten tausend Fallen
geschafft hatte, dann würde sie es auch schaffen, an eine Tür
zu klopfen. Kaum hatte sie die Hand vom Klopfer genommen,
öffnete sich die Tür und sie wurden hereingebeten.
...
Lesen sie weiter in:
Vertrau mir! Erfüllung.
51