SWR2 Forum Buch vom 30.11.2014

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Forum Buch
Mit neuen Büchern von: Güner Yasemin Balci, Bruno Preisendörfer,
Volker Leppin, Volker Reinhardt, Günther Rüther, Oliver Nachtwey,
Ulrike Guérot
Sendung: Sonntag, 17. Juli 2016
Redaktion: Wolfram Wessels
Produktion: SWR 2016
Güner Yasemin Balci: Das Mädchen und der Gotteskrieger
S. Fischer Verlag, 320 Seiten, 19,99 Euro
Rezension: Moritz Holler
Bruno Preisendörfer: Als unser Deutsch erfunden wurde.
Reise in die Lutherzeit.
Galiani Verlag, 472 Seiten, 24,99 Euro.
Rezension: Tobias Lehmkuhl
Volker Leppin: Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln
C.H.Beck, 248 Seiten, 21,95 Euro
Volker Reinhardt:Luther, der Ketzer. Rom und die Reformation
C.H.Beck, 352 Seiten, 24,95 Euro
Gespräch mit Christoph Fleischmann
Günther Rüther: Die Unmächtigen. Schriftsteller und Intellektuelle seit 1945.
Wallstein Verlag. 350 Seiten, 24,90 Euro
Rezension: Angela Gutzeit
Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft.
Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne
Suhrkamp. 262 Seiten, 18 Euro
Rezension: Günter Beyer
Ulrike Guérot: Warum Europa eine Republik werden muss!
Eine politische Utopie
Dietz Verlag, 308 Seiten, 18 Euro
Rezension: Conrad Lay
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des
Urhebers bzw. des SWR.
Güner Yasemin Balci: Das Mädchen und der Gotteskrieger
Rezension: Moritz Holler
In „Das Mädchen und der Gotteskrieger“ erzählt die Journalistin Güner Yasemin Balci das
Schicksal von Nimet Kaya aus Berlin-Neukölln. Die 16-Jährige tut, was alle Mädchen in ihrem Alter
so tuen: Sie geht mit ihrer besten Freundin Cayenne shoppen und feiern, flirtet mit Jungs, hat
manchmal Zoff zu Hause und schwänzt die Schule. Die Eltern sind geschieden, Nimet wächst mit
ihrer Schwester bei Mutter Sibel auf. Die arbeitet viel in einer Bäckerei, um den Lebensunterhalt zu
verdienen. Mit ihrer Rolle als alleinerziehende Mutter ist sie häufig überfordert und durchlebt
regelmäßige Stimmungstiefs. Eines Tages lernt Nimet Nour, die Cousine von Cayenne, in der
Schulcafeteria kennen. Nimet ist verunsichert und fasziniert von Nours vehementen religiösen
Überzeugungen.
Zitat 1 (S. 71)
„Wir haben Familie, in ihr finden wir unseren ganzen Lebenssinn – in Deutschland, ja in allen
ungläubigen Ländern gibt es bald keine Familien mehr. […] Ist euch schon einmal aufgefallen,
dass es in muslimischen Ländern keine Altenheime gibt – ganz anders als hier? Wisst ihr, warum
das so ist? Weil wir Respekt vor unseren Alten haben, weil wir sie nicht allein lassen. Das Leben in
Deutschland ist kalt und unbarmherzig.“
Mangelndem gesellschaftlichen Zusammenhalt setzen Konvertitin Nour und ihre Freundinnen ein
soziales Netz entgegen: Man hilft Flüchtlingen und besucht Moslems im Krankenhaus. Als Nimet
Nour ihre Handynummer gibt, ahnt sie noch nicht, dass sich ihr Leben dramatisch verändern wird.
Aus heiterem Himmel wird sie über WhatsApp von einem gewissen Saed kontaktiert. Jene Person
behauptet, eine zufällige Zahlenkombination gewählt zu haben. Er sei 22 Jahre alt und lebe in der
Türkei, wo er sich um Flüchtlinge kümmere. Nimet will zunächst keinen Kontakt, doch die Neugier
siegt. Denn Saed wirkt sanft, gütig, verantwortungsvoll und prinzipientreu. Es dauert nicht lange,
da tut Nimet alles, um dem religiösen Saed zu gefallen. Sie leistet unter Nours Obhut
gemeinnützige Arbeit. Es folgen Koranlesungen, das Anschauen religiöser Fernsehsendungen und
YouTube-Kanäle, sowie das regelmäßige Frequentieren von Moscheen und Betkreisen. Ihre
brüchige Familie kann ihr nicht den Zusammenhalt bieten, den sie in der Glaubensgemeinschaft
findet. So eignet sie sich bald die Wertevorstellung eines radikalen Islams an. All die Grau-Stufen
des großstädtischen Miteinanders verblassen angesichts absoluter Kategorien, die Halt zu bieten
versprechen. Und ihre Mutter bringt sie immer mehr mit ihren Moralpredigten zur Weißglut.
Zitat 2 (S. 149/150)
„Sibel konnte jetzt doch nicht mehr an sich halten. Sie stand auf, ging zur Vitrine und zeigt mit
spitzem Finger auf die Atatürk-Bronze, die glänzend auf einem marmornen Sockel hinter der
Glasscheibe stand. „Das ist es, woran wir glauben. Wir glauben an die Freiheit, an die Demokratie.
Dein Vater und ich sind froh, dass wir euch in Deutschland zur Schule schicken können. Jeder
kann von mir aus an Allah glauben, das muss jeder für sich entscheiden, aber es ist nicht deine
Aufgabe, den Menschen vorzuschreiben, woran sie glauben sollen. Amin“
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Nour und Saed überschütten Nimet förmlich mit Aufmerksamkeit. So werden die beiden ihre
engsten Vertrauten. Dass die beiden unter einer Decke stecken und sie manipulieren, soll sie erst
viel zu spät realisieren. Zunächst erliegt sie einem perfiden Ködersystem, das durch Belohnungen
- wie liebevolle Nachrichten von Saed - eine starke Abhängigkeit heraufbeschwört, und so eine
Mischung aus jugendlichem Leichtsinn und Reiz des Unbekannten einerseits sowie Gewissheit
und Stabilität durch die Glaubensmaximen andererseits befriedigt. Der Preis ist die Loslösung von
den alten sozialen Bindungen. Nour treibt einen Keil zwischen Nimet und ihre Familie.
Zitat 3 (S. 212)
„Sie haben Angst.“ „Wovor denn? Dass ich Saed heirate und eine glückliche Familie gründe?“
„Nein, vor Allah. Weil sie wissen, dass sie mit ihrem Unglauben in Sünde leben, und du erinnerst
sie jeden Tag daran. Aber sie sind zu schwach, um das zu ändern. Ich bete für deine Familie, dass
sie es eines Tages auch erkennen. […] Du musst dich nicht vor deiner Familie verantworten, nicht
einmal vor deinem Mann, niemand darf dir in dein Leben reinreden, solange du Gott gehorchst und
tust, was Er für dich bestimmt hat. Manchmal muss man sich dabei von seiner Familie
verabschieden.“
Nimets Radikalisierung vollzieht sich zügig. Autorin Güner Yasemin Balci bildet den Prozess in
Schlüsselmomenten plausibel ab. Durch ihre eigene türkischstämmige Neuköllner Herkunft, ihre
einstige Tätigkeit als Jugendarbeiterin und ihre journalistische Laufbahn ist sie eine Kennerin des
urbanen Jugendmilieus mit Migrationshintergrund. Sie zeichnet auch die Biografien von Nimets
Eltern nach und entwirft so ein realistisches Porträt des türkischen und arabischen Neukölln.
Mühelos gelingen Balci plastische Figuren. Die Dialoge bestechen durch eine authentische
Sprache und verdeutlichen das Einfühlungsvermögen der Autorin. Mit Saed träumt Nimet von einer
gemeinsamen Zukunft – auch wenn sie ihn noch nie zu Gesicht bekommen hat. Dieser gibt
mittlerweile vollkommen den Takt an und Nimet folgt bereitwillig. So sendet er ihr etwa
Anweisungen für die ausführlichen Waschungen und die anschließenden Gebete. Dann erzählt er,
dass er nach Syrien gehe und der sogenannte Islamische Staat eine gute Sache sei.
Zitat 4 (S.199)
„Er sei tagsüber auf dem Weg nach Syrien, hatte er sie wissen lassen, er wolle dort junge Männer
unterrichten. Nimet hatte ihm ihre Sorgen mitgeteilt, schließlich herrsche Krieg in dem Land, und
außerdem war dort der IS auf dem Vormarsch. Doch Saed hatte sie beruhigt: „Ich bin ein
aufrichtiger Muslim, hamdulillah, glaub nicht alles, was man dir in Deutschland über den IS erzählt.
Er kämpft für unseren Glauben, vor ihm brauchen wir uns nicht zu fürchten. Nur Ungläubige
fürchten sich.“
Nicht viel später ist auch vom Dschihad zum ersten Mal die Rede. Die Rettungsversuche von
Nimets Eltern werden immer dramatischer, bleiben aber vergeblich. Nimet geht von der Schule ab,
überzeugt von der Nutzlosigkeit eines Abschlusses. Saed hat ihr stattdessen einen Schnellkurs für
Krankenpflege vermittelt, denn er will, dass sie bald zu ihm kommt. Als eines Nachts ihr Handy
klingelt, überschlagen sich die Ereignisse. Eine fremde Stimme behauptet, Saed sei verletzt im
Krankenhaus und sie müsse unverzüglich nach Syrien reisen. Saed brauche sie vor Ort und habe
ihr ein Flugticket nach Istanbul gekauft. Und so wird Nimet von Nour Hals über Kopf zum
Flughafen gebracht. Über die Stationen Adana und Sanliurfa gelangt sie mit Hilfe von
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Mittelsmännern nach Rakka. Erst dort fällt ihr der Betrug wie Schuppen von den Augen … Laut
einem aktuellen Bericht des Verfassungsschutzes nutzt der IS mittlerweile verstärkt soziale
Netzwerke für professionelle Propaganda und aktives Anwerben – speziell auch von jungen
Mädchen. WhatsApp und andere Chatgruppen dienen als Radikalisierungsplattformen und virtuelle
Szene-Treffpunkte. Beratungsstellen und Netzwerke bestätigen einen Anstieg der Rekrutierungen.
Das Anwerben wird mit einem Schneeballsystem verglichen: Bereits Ausgewanderte sollen
Jugendliche in Deutschland mit einer authentischen Mischung aus Abenteuer, Romantik und dem
Kampf für die vermeintlich gute Sache ködern. Autorin Güner Yasemin Balci hat kraft ihrer
Neuköllner Milieu-Expertise die Rekrutierung zahlreicher Jugendlicher in Deutschland aus Sicht
eines Berliner Mädchens zu einer dokumentarischen Fiktion verarbeitet. „Das Mädchen und der
Gotteskrieger“ erzählt eine individuelle Geschichte, die in Muster und Ablauf jedoch durchaus
repräsentativ ist. Nimets Fall weist eine anfällige Familienstruktur auf, gekennzeichnet durch eine
kriselnde Ordnung und abwesende Bezugspersonen. Durch ein ebenso anschauliches wie
sachliches Psychogramm findet Balci einen unmittelbaren Zugang zu einem alarmierenden
Phänomen und macht so die vielfältige Verführungskraft des IS erfahrbar. „Das Mädchen und der
Gotteskrieger“ erscheint im S. Fischer Verlag, hat 320 Seiten und kostet 19,99 Euro.
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Bruno Preisendörfer: Als unser Deutsch erfunden wurde.
Reise in die Lutherzeit.
Rezension: Tobias Lehmkuhl
Wie sonst nur die Goethezeit, sei die Lutherzeit historischer Projektionsraum und Mythenreservoir
der deutschen Geschichte, schreibt Bruno Preisendörfer im Vorwort seines Buches über eben
diese Lutherzeit. Und Recht hat er damit; freilich ist es nicht allein Luthers Verdienst, dass das 16.
Jahrhundert uns weit bedeutsamer scheint als das 17.. Es ist auch das Jahrhundert Albrecht
Dürers oder Tilman Riemenschneiders. Die Fugger spielen in dieser Hinsicht ebenso eine Rolle
wie Hans Kohlhase, Götz von Berlichingen oder ein gewisser Johann Faust:
ZITAT: Die Historia vom „weitbeschreyten Zauberer“ Johann Fausten aus dem Jahr 1587, die
sowohl Marlowe als auch Goethe inspirierte, statuiert an dem Wittenberger Theologieprofessor
Faust ein Exempel zur Abschreckung von allen, „die eines hoffärtigen, stolzen, fürwitzigen und
trotzigen Sinnes und Kopfes sind“, wie es gegen Ende des anonym publizierten Volksbuches
heißt. Da hat der Teufel den Faust schon zerfleischt. „Das Hirn klebte an der Wand, weil der Teufel
ihn von einer zur anderen geschlagen hatte. Es lagen auch seine Augen und etliche Zähn allda,
ein greulich und erschrecklich Spektakel.“
Diese grausame Lehrstunde für alle aufwieglerischen Querköpfe weist freilich noch zurück auf die
Bauernkriege, die, wie Preisendörfer feststellt, recht eigentlich Kriege gegen die Bauern waren.
Der Autor lässt keinen Zweifel daran, auf wessen Seite er steht. Luthers Position ist da eine ganz
andere: Gegen die Bauern und für die Obrigkeit. Wobei diese Obrigkeit, dass muss der Reformator
eingestehen, sich nicht über die Entwicklungen zu verwundern braucht angesichts dessen, was sie
den Bauern aufbürdet.
ZITAT: Was hülfs, wenn eines Bauern Acker so viel Gulden wie Halme und Körner trüge, wenn die
Obrigkeit nur desto mehr nähme, und das Gut so verschleuderte mit Kleidern, Fressen, Saufen,
Bauen und dergleichen, als wäre es Spreu? Dazu tut ihr im weltlichen Regiment nicht mehr, als
daß ihr schindet und Geld eintreibt, euren üppigen und hochmütigen Lebenswandel zu führen, bis
es der gemeine Mann nicht länger ertragen kann und mag.
Viel erfährt man in Preisendörfers farbigem Buch über das Leben der Bauern, ihre Arbeit, ihre
Ernährung und Bekleidung, über die Nöte, die ihnen zuweilen das Wetter bereitet, über ihre
Gottesfurcht. Genauso nimmt der Autor die Handwerker, Kaufleute und Ritter in den Blick. Doch
interessiert ihn mehr der Pöbel und weniger der fürstliche Adel. Seine „Reise in die Lutherzeit“ ist
eben eine Kultur- und keine politische Geschichte. Es geht nicht darum, welche Schlacht wann
geschlagen wurde, sondern „Was die Bürgerinnen in der Truhe“ haben, welche
Geschlechtskrankheiten umgingen und wo man sich erleichterte.
ZITAT: Das Defäktieren und besonders das Beseitigen der Fäkalien war - vor allem in den Städten
- eine schwierige Sache. Die unter Privathäusern angelegten Senkgruben mussten von
Kloakenräumern geleert werden, von „heymelichkeitsfegern“, wie sie in Frankfurt genannt wurden.
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Die Gruben unter den Patrizierhäusern hatten mitunter riesige Ausmaße, bis zu acht Meter tief. Die
Wasserspiegel der Brunnen lagen häufig nicht tiefer.
Ungesund war das Leben zur Lutherzeit also nicht nur für aufmüpfige Bauern oder vermeintliche
Hexen, auch der gemeine Stadtbewohner sah sich angesichts der hygienischen Verhältnisse einer
Vielzahl von Krankheiten ausgesetzt. Gestorben wurde schnell, gerade auch unter Neugeborenen.
Da half ein fester Glaube meist mehr als der beste Arzt.
Neu ist diese Erkenntnis freilich nicht, aber um neue Erkenntnisse geht es Preisendörfer auch gar
nicht. Sein Buch will nicht mehr als ein farbiges Bild der Lutherzeit zeichnen, in vielen Beispielen
und Anekdoten erzählt. Die Kapitel sind meist sehr kurz gehalten und durchzogen von Zitaten.
Stellenweise gleicht der Text fast einer Zitatensammlung. Auf diese Weise setzt Preisendörfer das
eigentliche, im Titel formulierte Thema seines Buches um, bzw. in Szene: „Als unser Deutsch
erfunden wurde“.
In seiner ganzen Pracht erklingt hier die deutsche Sprache des 16. Jahrhunderts, die Sprache, an
deren Entwicklung Luther so großen Anteil hat.
ZITAT: Luther war ein großer Prediger, ein Volksredner und gewaltiger Abkanzler. Aufs Sprechen
kam es ihm an, nicht aufs Schreiben. Jedenfalls hat er das - geschrieben: „Es ist ein groß
Unterschied, etwas mit lebendiger Stimme oder mit toter Schrift an den Tag zu bringen.“ Und doch
hing Luthers ungeheurer Einfluss von seinen Schriften ab und die Verbreitung seiner Schriften
wiederum vom Buchdruck.
Das Deutsche war allerdings auch ohne Luther, das zeigen viele der Zitate in diesem Buch, auf
dem besten Weg, Latein als eigenständige und ebenbürtige Schriftsprache abzulösen. Ungeformt
wirkt es zuweilen noch, vor allem aber ungewohnt und häufig höchst pointiert, so in einem frühen
Werbespruch für Rattengift und ähnliches.
ZITAT: „Hab auch gut Salbn für Flöhe und Leuß/ Auch Pulver für Ratten und Meuß.“
Weitere Kapitel in Preisendörfers Buch tragen Titel wie „Die Post geht ab“, „Etwas über Hanse und
Hering“ oder „Rechnen nach Adam Ries“, andere behandeln das Reinheitsgebot beim Bier,
berichten vom Nürnberger Bordellsturm, vom Reliquienglauben oder der Erfindung der
humanistischen Universität. Es kommt also allerhand zusammen in „Als unser Deutsch erfunden
wurde“ und wird dem Leser in mundgerechten Portionen dargeboten. Wer will, kann in dem Buch
herumschmökern wie in einem alten Lexikon. Ein kurzweiliges Vergnügen.
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Günther Rüther: Die Unmächtigen. Schriftsteller und Intellektuelle seit 1945.
Rezension: Angela Gutzeit
Autorin:
Ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Mauer häufen sich die Publikationen und
Wortmeldungen, die mit auffallender Faszination die alte Bundesrepublik Revue passieren lassen.
Der Musiker und Schriftsteller Frank Witzel hatte 2015 mit seinem hochgelobten Romanungetüm
Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer
1969 so etwas wie eine schwarze Geschichte der Bonner Republik vorgelegt. Von diesem
kritischen Geist ist auch sein nachfolgender Gesprächsband „BRD Noir“ durchweht, den der
Romancier kürzlich zusammen mit dem Historiker Philipp Felsch veröffentlichte. Felsch wiederum
widmete sich in seinem Buch Der lange Sommer der Theorie der großen Bedeutung der
theoretischen Schriften und Diskurse für ein linkes intellektuelles Milieu in den 60er Jahren, das
sich von Anfang an als Gegenpol zum Akademiebetrieb wie zum politischen Establishment
positionierte. Andere wie der Historiker Heinrich August Winkler loben - zumindest retrospektiv die „geglückte Demokratie“ und ihre Ankunft „im Westen“. Es wird also zurzeit fleißig Bilanz
gezogen und damit gleichzeitig ein Bedürfnis offenbart nach Standortbestimmung. Wo sind wir
heute angekommen und wie lebendig ist unsere Demokratie heute? Das Urteil fällt da nicht immer
positiv und zukunftsfroh aus.
Auch nicht bei dem Bonner Politikwissenschaftler Günther Rüther. Dabei geht es ihm in seinem
neuen Buch Die Unmächtigen. Schriftsteller und Intellektuelle seit 1945 nicht ums Grundsätzliche.
Eine Kritik am westlichen Modell, am Kapitalismus und am Weg der alten Bundesrepublik ist von
dem ehemaligen Hauptabteilungsleiter „Begabtenförderung und Kultur“ bei der CDU-nahen
Konrad-Adenauer-Stiftung auch nicht unbedingt zu erwarten. Was ihn aber nach eigenem
Bekunden zu seiner jüngsten Publikation angetrieben habe, so Rüther, sei die mangelnde
Streitkultur in Deutschland seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten. In seinem Vorwort
ist zu lesen:
Zitat:
„..die politische Kultur hat sich im wiedervereinigten Deutschland verändert. Die großen Gemüter
erregenden Debatten sind seltener geworden. (…) Das Verhältnis von Geist und Macht hat sich in
den letzten Jahrzehnten gewandelt. Es hat sich entspannt. Es fehlt ihm an Leidenschaft. Doch die
Welt bleibt voller Themen und es mangelt weder an Problemen noch an Konflikten von großer
Bedeutung. Deshalb stellt sich die Frage: Woran liegt es? Ist die postmoderne Gesellschaft so mit
sich selbst beschäftigt?“
Autorin:
Um es gleich vorweg zu sagen: Rüther beantwortet diese Frage in seinem Buch nicht. Was er
stattdessen leistet, und das mit sehr viel Akribie und Fachwissen, das ist so etwas wie eine
Geschichte der Streitkultur zwischen Schriftstellern und Intellektuellen auf der einen Seite und der
politischen Macht auf der anderen Seite zu entwerfen. Er nimmt in seiner Publikation allerdings
nicht nur den alten Westen - mit Ausläufern in die Gegenwart - in den Blick, sondern auch die
DDR.
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Was von Anfang an bei Rüther irritiert, um nicht zu sagen stört, das ist diese schlagwortartige
Polarisierung in „Unmächtige“, einem von Hans Joachim Schädlich entliehenen Begriff, und in
Mächtige der politischen Klasse. Zumal Rüther ja dieses Kontrastbild selbst immer wieder einreißt.
Zum Beispiel, wenn er auf die Phase vor dem Machtwechsel von Hans Georg Kiesinger zu Willi
Brandt eingeht. Das war in der zweiten Hälfte der 60er Jahre. In der Bundesrepublik vollzog sich in
der Tat für eine kurze Zeit eine, wie Rüther ausführt, einzigartige Verschmelzung von „Geist“ und
„Macht“. Günter Grass, Siegfried Lenz und der Politikwissenschaftler Eberhard Jäckel gründeten
die Sozialdemokratische Wählerinitiative. Andere blieben allerdings auf Abstand – wie z.B. Hans
Magnus Enzensberger. - Aber erst recht funktioniert diese Gegenüberstellung nicht in Bezug auf
die DDR. Wie der Autor ja zur Genüge kritisiert, hätten nicht wenige Schriftsteller und Intellektuelle
im sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat mit der Einheitspartei paktiert und selbst in
Verbänden, Verlagen und im Parlament Macht ausgeübt.
Das Hauptproblem ist allerdings, dass Rüther zu der wechselvollen Geschichte und dem durchaus
gebrochenen Selbstverständnis der Schriftsteller und Intellektuellen in Ost und West seit 1945
keine klar erkennbare Haltung findet. Irgendwie sind sie ihm suspekt in ihrer Anpassung wie in
ihrem Protestgebaren. Vor allen Dingen, wenn der kritische Geist von links weht. Erkennbar ist das
nicht nur an der gehäuften Wortwahl wie „ideologisch“ und „linksintellektuell“, sondern auch an
Rüthers Neigung zu pauschalen Urteilen, die er dann im Nachhinein nicht selten stückchenweise
wieder relativiert. So schreibt er über die DDR-Verhältnisse:
Zitat:
„Trotz dieser offensichtlichen Enttäuschung über die politische Entwicklung blieben Schriftsteller,
Künstler und Wissenschaftler der DDR treu. Warum? Eine Fahrkarte über die Grenze von Ostnach Westberlin kostete nur wenige Pfennige. Ausschlaggebend dafür war, dass sie trotz alledem
in der DDR das bessere Deutschland erblickten.“
Autorin:
Die Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler, Intellektuellen blieben der DDR nicht einfach treu. Sie
haben mit ihr immer wieder gerungen wie Bertolt Brecht, Christa Wolf, Stefan Heym. Sie sind
eingesperrt worden wie der Philosoph Wolfgang Harig, der Dramaturg und Verleger Walter Janka,
der Schriftsteller Erich Loest. Sie sind weggegangen wie Thomas Brasch, Sarah Kirsch, Günter
Kunert, Monika Maron. Etliche sind auch geblieben - und haben den Traum von einem
sozialistischen und gerechteren Deutschland sehr lange noch geträumt - oder sie haben
geschwiegen. Das alles kommt auch bei Rüther vor. Nur ist seine Position zu den DDRIntellektuellen undeutlich, um nicht zu sagen: sehr oft beschwert durch Ressentiments.
Ähnlich ist es bei seinem Blick auf das Verhältnis von „Geist“ und „Macht“ in der frühen
Bundesrepublik. Dabei liefert der Politologe wieder sehr viel wichtiges Material und auch
Einschätzungen, die heute unstrittig sind. Zum Beispiel, was das schwierige Verhältnis der Gruppe
47 zu den Emigranten angeht, aber auch im positiven Sinne ihre stilbildende Form der
Literaturkritik und öffentlichen Gegenrede, an der Günter Grass ganz maßgeblich beteiligt war.
Auch ist Rüthers Kritik am damals unter Intellektuellen weit verbreiteten Restaurations- und
Faschismusvorwurf gegen die Adenauer-Regierung und den „CDU-Staat“ nachvollziehbar. Aber
warum führt Rüther z.B. gegen diesen - Zitat - „Chor der Nonkonformisten“, gemeint sind
Rühmkorf, Raddatz, Walser, Gollwitzer und viele andere, nun ausgerechnet den Lyriker und
Essayisten Hans Egon Holthusen als Gegenredner und Verteidiger der Macht ins Feld. Holthusen
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war literarisch nicht nur ein kleines Licht, sondern auch ein Mann mit SS-Vergangenheit. Und von
diesen belasteten Gestalten gab es damals bekanntlich noch sehr viele. Und sie waren in kurzer
Zeit wieder in wichtigen Positionen, z.B. der ehemalige Rassenideologe Hans Globke als
Kanzleramtschef Adenauers. Hinzu kamen ein strammer Antikommunismus, die Remilitarisierung
und das Schweigen über die vielen Leichen im Keller. Das war noch nicht gleichbedeutend mit
Restauration und neuem Faschismus. Aber die sogenannten Nonkonformisten hatten allen Grund
zu Kritik und Gegenwehr. Um es noch einmal zu betonen, Rüther verschweigt das alle
keineswegs. Aber umso unverständlicher ist es, dass er beispielsweise schreibt:
Zitat:
„Rückblickend war es bedauerlich, dass gerade auf dem emotionsgeladenen, schwierigen Feld der
Aufklärung nationalsozialistischen Unrechts die Zusammenarbeit von Geist und Macht versagte.
Daran haben beide Seiten ihren Anteil. Dieser Mangel wurde zum Stigma der politischen Kultur der
fünfziger Jahre.“
Autorin:
Diese Zusammenarbeit gab es im Westen wie im Osten aus unterschiedlichen und guten Gründen
eben nur partiell. Und da Rüther besonders Schriftsteller ins Visier nimmt, muss man doch sagen:
Es ist auch keineswegs ihre Aufgabe, mit der Macht zusammenzuarbeiten - egal wo sie steht.
Nach der Lektüre von Günther Rüthers Buch bleiben viele Fragen offen: Geht es ihm stärker nun
um Zusammenarbeit von Geist und Macht oder mehr um produktiven Streit zwischen beiden? Und
da er ja die heutige mangelnde Streitkultur beklagt, war sie damals besser? Und ist sie heute
unwirksamer, weil sie sich auf vielen Schauplätzen und Foren abspielt, z. B. auch im Internet?
Führt diese Diversifizierung notwendigerweise zur Entpolitisierung? Rüther gibt den Autoren und
Denkern in dieser Republik am Schluss seines Buches einen gutgemeinten Rat: Sie sollten Europa
zu ihrem „Mega-Thema“ machen. Zum Glück weht der kritische Geist wohin er will. Gerade geht es
um die Meinungsfreiheit. Die Debatte ist engagiert wie schon lange nicht mehr.
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Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft.
Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne
Rezension: Günter Beyer
TAKE 01 (INTERVIEW ERHARD 1957)
„Wohlstand für alle! Nicht Wohlfahrt durch den Staat, sondern Wohlstand aus eigener Kraft und
aus eigener Leistung. Und dabei bin ich davon überzeugt, dass das, was wir soziale Sicherheit
nennen und was ein Anliegen breitester Volkskreise ist, eben nicht durch den Staat garantiert
werden kann, sondern nur durch den wirtschaftlichen Aufschwung, durch immer bessere
Leistungen und durch die fruchtbare Eingliederung Deutschlands in die Weltwirtschaft.“
AUTOR
Im Jahre 1957 erschien ein Buch, dessen Titel das westdeutsche Nachkriegs-„Wirtschaftswunder“
auf seinen Begriff zu bringen suchte: „Wohlstand für alle“. Sein Autor war Ludwig Erhard, Konrad
Adenauers Wirtschaftsminister. Erhards Motto blieb bis in die frühen 70-er Jahre richtungsweisend.
Für den Frankfurter Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen Oliver Nachtwey ist die
Herausbildung des Sozialstaats in jenen frühen Jahren eine „zentrale Instanz des sozialen
Fortschritts“. Der Nachkriegsaufschwung gilt ihm als gelungene Phase der „sozialen Moderne“ als Etappe, in deren Mittelpunkt das „Normalarbeitsverhältnis“ - sprich: die 40-StundenArbeitswoche stand. Es gab damals wenig Teilzeitbeschäftigung, befristete Arbeitsverhältnisse
waren nur sehr eingeschränkt möglich, Leiharbeit war bis 1972 überhaupt verboten. Die Anzahl
geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse blieb überschaubar. Die gesetzliche Mitbestimmung und
das Betriebsverfassungsgesetz gaben Arbeitnehmern bestimmte Rechte - oder, in Oliver
Nachtweys Worten:
ZITATOR:
„Aus Proletariern werden Bürger. (…) Es entstand keine Gesellschaft der Gleichen,
aber eine Gesellschaft der Gleichgestellten.“ (26)
AUTOR
Der im vergangenen Jahr verstorbene Soziologe Ulrich Beck hat diesen Vorgang mit dem Begriff
„Fahrstuhleffekt“ beschrieben: Zwar bestehen nach wie vor soziale Ungleichheiten. Aber im
Fahrstuhl bewegen sich arm und reich gemeinsam nach oben. Die „soziale Moderne“ Erhardscher
Prägung ist für den 1975 geborenen Oliver Nachtwey Bezugsrahmen für die weitere Entwicklung
Deutschlands bis in unsere Tage. Und gemessen daran geht es heute abwärts: Wir leben in einer
„Abstiegsgesellschaft“. Nachtwey unterschlägt nicht, dass die scheints paradiesischen Segnungen
der „sozialen Moderne“ an großen Teilen der Gesellschaft vorbei gingen: Frauen waren durchweg
„schlechter gestellt“ (40), ihre Wirkungsstätte blieb meist auf Haushalt und Familie beschränkt.
Migranten, damals „Gastarbeiter“ genannt, steckten im Niedriglohnsektor fest und konnten
keinesweg auf „Wohlstand für alle“ pochen. Anfang der 70er-Jahre schlägt der Abschwung der
Weltwirtschaft auf das erfolgsverwöhnte Westdeutschland durch. Die Ölpreise steigen, der „Club of
Rome“ warnt vor den „Grenzen des Wachstums“, und tatsächlich sinkt das Wachstum des
Sozialprodukts deutlich. Die Realwirtschaft wirft weniger Rendite ab, das Kapital flüchtet in
aussichtsreichere Sphären.
10
ZITATOR:
„Der Finanzkapitalismus entstand, weil die Profitraten in der Realwirtschaft
gesunken waren.“ (61)
AUTOR
Die Errungenschaften der „sozialen Moderne“ werden - so Nachtwey - zunächst kaum merklich
ausgehöhlt. Dem Staat kommt immer mehr die Aufgabe der Krisenintervention zu, die
Staatsverschuldung steigt. Nun schlägt die Stunde des Neoliberalismus. Er beerbt und schröpft
zugleich die „soziale Moderne“. Nachtwey versteht ihn als …
ZITATOR: „… Revolte des Kapitals gegen die soziale und demokratische Einhegung des
Kapitalismus.“ (49)
AUTOR
Das beschreibt die zweite Phase von Nachtweys Modell, den „Postwachstums-Kapitalismus“ der
1980er- und 1990er-Jahre. Das Wirtschaftswachstum, das lange Zeit den Strom für Ulrich Becks
Fahrstuhl geliefert hat, ist in eine „säkulare Stagnation“ übergegangen. Respektable
Wachstumsraten melden nur noch Schwellenländer wie China. Zudem greift in entwickelten
Ländern wie Deutschland ein „gewachsene(s) Bedürfnis für nachhaltiges Wirtschaften“ um sich.
1986 erscheint Ulrich Becks viel beachtetes Buch „Risikogesellschaft“, dessen Thesen über die
risiko-behaftete Produktionsweise in der so genannten „zweiten Moderne“ mit der Katastrophe von
Tschernobyl im selben Jahr makaber illustriert werden. Nachtwey lässt wenig Gespür für die von
Beck angestoßenen kühnen Prognosen erkennen. Beck sei „zu weit gegangen“ (73); er habe die
Marxsche Analyse der Klassengesellschaft zu früh beerdigt.
ZITATOR:
„Das vollständige Verschwinden der Klassengesellschaft zugunsten von
individuellen Ungleichheiten war eine Chimäre.“ (74)
AUTOR
„Normalarbeitsverhältnis“ und „Normalarbeitstag“ erodieren. Teilzeitarbeit, befristete Jobs,
Leiharbeit, gratis abverlangte Praktika - überhaupt alle möglichen Spielarten von atypischer
Beschäftigung nehmen zu. Frauen drängen in den Arbeitsmarkt, fordern den gleichen Lohn wie die
Männer. Heimarbeit, Scheinselbständigkeit und Ich-AGs verstärken die Ungleichheit der meist
schlecht bezahlten Erwerbstätigen. Man gewinnt bei der Lektüre den Eindruck, die monopolartige
Stellung des alleinverdienenden männlichen „Haushaltsvorstandes“ und Familienernährers zu
Zeiten der „sozialen Moderne“ sei Nachtwey lieber.
ZITATOR:
„Häufig ist es also die ökonomische Inklusion, die statt einem Mehr an Gleichheit ein
Mehr an Ungleichheit produziert.“ (77)
AUTOR
Die Schuld dafür trägt der Neoliberalismus. Er habe einen „faustischen Pakt“ (84) mit den
Beschäftigten geschlossen, um deren Wunsch nach mehr Eigenständigkeit in höhere
Leistungsbereitschaft umzumünzen. Der Neoliberalismus ist ein gewiefter Gegner, denn er war …
11
ZITATOR:
„…äußerst erfolgreich in der Herstellung einer (heimlichen) Komplizenschaft mit
einer im Grunde emanzipativen Kritik an der sozialen Moderne, weil er an dessen Paradoxa
anknüpfen konnte…“(80)
AUTOR
Solch ein Paradoxon ist Nachtwey zufolge etwa die Forderung nach Chancengleichheit auf dem
Stellenmarkt. Denn dort setzen sich letztlich stets die Kinder der Eliten durch.
ZITATOR:
„Je mehr eine Gesellschaft auf Chancengleichheit setzt, desto ungleicher wird sie
und desto legitimer werden die Ungleichheiten (…) Die Verlierer sind dadurch die verdienten
Verlierer und die Gewinner die verdienten Gewinner. Die Leitnormen der Moderne existieren
deshalb häufig nur noch als leere Hülle.“ (114)
AUTOR
Also nicht für Chancengleichheit eintreten? Keine flexibleren Arbeitszeitmodelle und mehr
Autonomie fordern? Kein Einsatz für die ökonomische Inklusion von oft Benachteiligten wie
Behinderten, Flüchtlingen, Bewerbern mit minoritärer sexueller Orientierung, ethnischer Herkunft
oder religiöser Überzeugung? In Nachtweys Philippika gegen das Wüten des Neoliberalismus
fehlen dazu die Antworten.
Wer die Verknöcherungen der „sozialen Moderne“ angreift, baut - so Nachtwey - der neoliberalen
Politik „Korridore für die Komplizenschaft mit dem Markt“. Mit dem Ergebnis:
ZITATOR:
„Damit wurden Liberalisierungen und insbesondere Privatisierungen zu Triebfedern
der Abstiegsgesellschaft.“ (89)
AUTOR
Ulrich Becks Fahrstuhl nach oben ist außer Betrieb, Oliver Nachtwey benutzt statt dessen das Bild
der Rolltreppe: Dort können zwar die Benutzer ihre Positionen zueinander verändern, aber am
Ende der Fahrt landen sie unweigerlich im Keller.
„Abstiegsgesellschaft“ ist kein Buch, das neue Horizonte öffnet. Methodisch ist zudem fragwürdig,
dass sich Oliver Nachtwey ausschließlich auf Westdeutschland beziehungsweise die alten
Bundesländer bezieht. Die dramatischen Prozesse in der ehemaligen DDR nach 1989 bleiben
völlig unbeachtet. Und schließlich werden mögliche Erwartungen des Publikums an den Untertitel „Aufbegehren in der regressiven Moderne“ nicht erfüllt. Soziale und politische Strömungen, die
sich der Abwärtsspirale entgegenstemmen - Occupy, „Wutbürger“, Pegida oder AfD - werden nur
knapp und ohne analytische Schärfe aufgezählt.
„Abstiegsgesellschaft“ - das wäre ein griffige These! Aber analytisch kann sie nicht überzeugen.
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Ulrike Guérot: Warum Europa eine Republik werden muss!
Eine politische Utopie
Rezension: Conrad Lay
Ulrike Guérots Buch besticht durch den Schwung und die Begeisterung, mit denen es geschrieben
ist. Ein Buch mit einer weit in die Zukunft reichenden Utopie. Die Autorin fragt sich: wie könnte
Europa 100 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aussehen, im Jahr 2045? Könnte es
eine Europäische Republik geben, die die bisherigen Nationalstaaten ersetzt?
Die Autorin sieht Europa an einer kopernikanischen Wende angekommen. Im ersten Teil des
Buches formuliert sie ihre Kritik an der bisherigen Europäischen Union und deren
undemokratischem „Exekutivföderalismus“, wie dies Jürgen Habermas genannt hat. Die
Maastrichter Idee einer immer engeren Union sei schon seit Jahren zerstoben; doch wo eine
politische Union nicht habe entstehen können, habe sich das Ökonomische verselbständigt. In der
Folge sei nur noch von Währungsunion, Stabilitätspakt, Austeritätspolitik die Rede gewesen. Die
EU mache nur Binnenmarktintegraton, politisch und sozial sei sie amputiert. Jedoch würden in
einem Währungsraum mit ungleichen sozialen Standards, mit ungleichen Steuern und Löhnen die
Staaten und ihre Bürger zueinander in Konkurrenz gesetzt. Die EU treibe mit ihrer einseitigen
Binnenmarktphilosophie die meist ländlichen Globalisierungsverlierer geradezu in jenen
Populismus, der anschließend an ihr nage und sie auszehre. Immer wieder, so warnt die Autorin,
werde „unterschätzt, wie mitleidlos diejenigen, die vom System nie profitieren konnten, es zum
Einsturz bringen“. Ulrike Guérot gibt sich nicht mit der Forderung nach „mehr Europa“ zufrieden, ihr
geht es nicht um Gurkenkrümmung, Ölkännchen oder Glühlampenverbot, sondern um die Idee von
Europa. Zentrale politische Begriffe wie „Regierung“, „Exekutive“, „Legislative“ seien von der EU
nicht besetzt. Heute seien es die Populisten, die starke politische Begriffe wie „Bürger“, „Macht“
und „Regieren“ gekapert hätten.
Im zweiten Teil des Buches entwickelt die Autorin die postnationale Utopie einer „Europäischen
Republik“; sie beruht nicht auf einer Föderation von Nationalstaaten, sondern der Souveränität
ihrer Bürger. Mit ihrer Betonung einer „Republik der Regionen“ will sie auch jenen ein Angebot
machen, die sich bisher als Verlierer sehen. Um den Begriff der Republik zu erläutern, geht sie
weit in die Philosophiegeschichte zurück; sie sieht ihn aufs Engste mit dem Begriff des
Gemeinwohls verbunden. Die „Europäische Republik“ soll nach dem Willen von Ulrike Guérot ein
neues Institutionengefüge bekommen: ein Zweikammersystem mit einem Abgeordnetenhaus, in
dem jeder Bürger – anders als heute – nach dem Grundsatz „Eine Person, eine Stimme“ vertreten
sei, sowie eine zweite Kammer, in der die europäischen Regionen vertreten seien. In der heutigen
EU seien die Prioritäten einfach falsch gesetzt: Die EU-Kommission gehöre komplett entschlackt
und entbürokratisiert. Ein Großteil ihrer Arbeit umfasse heute die Wettbewerbsaufsicht als einen
der Grundpfeiler des Binnenmarktes, doch Wettbewerbsaufsicht sei keine Aufgabe einer
Regierung, sondern einer nachgeordneten Behörde, das deutsche Kartellamt sitze auch nicht in
der Regierung. Die EU sei im Kleinen zu bürokratisch und wage sich an die großen Fragen, etwa
die Steuerhoheit, nicht heran.
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Die Autorin räumt ein, die Utopie einer europäischen Republik nicht ausbuchstabiert zu haben. Ob
ein Europa nach dem Motto „Small is beautyful“, in dem 60 Regionen die bisherigen
Nationalstaaten ersetzen, regierungsfähig ist? Man kann daran seine Zweifel haben, doch wichtig
ist es der Autorin, eine Diskussion anzustoßen. Das ist ihr mit ihrem anregenden, erfrischenden
und dem Zeitgeist des Euro-Pessimismus klug widersprechenden Buch ausgezeichnet gelungen.
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