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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR 2 Wissen
Japans ältester Roman
Die Geschichte vom Prinzen Genji
Von Isabella Arcucci
Sendung: Donnerstag, 19.12.2013
Wiederholung: Donnerstag, 21. Juli 2016
Redaktion: Anja Brockert
Regie: Maria Ohmer
Produktion: 2013
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Dieses Manuskript enthält Textpassagen in [Klammern], die aus Zeitgründen in der
ausgestrahlten Sendung gekürzt wurden.
Regie: Leise Musik, darüber:
Zitatorin:
Während ich, an dem vertrauten Fenster sitzend, zusehe, wie der Schnee sich auf
die Gebüsche vor dem Haus legt, erinnere ich mich, ach wie lebhaft, jener Jahre des
Elends und der Verwirrung…
Sprecher:
Der japanische Winter des Jahres 1008. Eine Frau schreibt in ihr Tagebuch. Sie ist
nicht mehr ganz jung. Silberne Strähnen ziehen sich durch ihr bodenlanges
lackschwarzes Haar, das ihr offen über die schmalen Schultern fließt. Die „Jahre des
Elends und der Verwirrung“ sind die Jahre nach dem Tod ihres Mannes, der sie als
junge Witwe zurückließ. Das Haus ihres Vaters wurde zeitweise zu ihrem
Zufluchtsort.
Zitatorin:
Damals pflegte ich Stunde auf Stunde an diesem Fenster zu sitzen, und ein Tag war
wie der andere (…). So sah ich Frühling und Herbst immer wieder einander folgen
(…) und immer wieder fragte ich mich „Was hat die Zukunft für mich aufgespart?“
Sprecher:
Die Zukunft brachte Murasaki Shikibu eine Stellung im Palast, als Hofdame der
Kaiserin Akiko. Ein Leben, das glanzvoll klang, aber von Eintönigkeit geprägt war.
Ein Leben, das sie selbst füllte: mit Poesie. Nach dem Tod ihres Mannes hatte
Murasaki begonnen, eine Geschichte zu schreiben.
Ansage:
Japans ältester Roman. Die Geschichte vom Prinzen Genji.
Eine Sendung von Isabella Arcucci.
Sprecher:
Die „Geschichte vom Prinzen Genji“ ist eine Erzählung von Liebe, Sehnsucht und
Verlust. Ein Text, der in deutscher Übersetzung länger ist als Tolstois „Krieg und
Frieden“. Er entstand vor tausend Jahren, Anfang des 11. Jahrhunderts, und gilt als
eines der wichtigsten Werke der japanischen Literaturgeschichte. Manche Philologen
sprechen vom ersten Roman Japans, ja sogar vom „ältesten psychologischen
Roman“ der Welt. Für den Schweizer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Adolf
Muschg ist die „Geschichte vom Prinzen Genji“ so etwas wie ein Lebensbuch.
O-Ton 1 (Muschg)
Ich bin in den 60er Jahren Lektor in einer japanischen Universität gewesen und da ist
mir dann der Genji begegnet und ich muss sagen, er hat Epoche gemacht, weil ich
eine Prosa dieser Art noch nie gelesen habe, und das geht mir eigentlich bis heute
so.
Regie: Leise Musik, darüber:
1
Zitatorin:
Am Hof eines Kaisers (…) war unter den vielen Damen (…) auch eine, die, obgleich
nicht von sehr hohem Rang, vor allen übrigen in Gunst stand; also dass die großen
Damen des Palasts, von denen jede insgeheim gehofft hatte, sie selbst werde die
Erwählte sein, mit Hass und Geringschätzung auf den Emporkömmling blickten, der
ihre Träume zerstört hatte.
Sprecher:
So beginnt Murasakis Erzählung: eine kaiserliche Konkubine gefangen in einem Netz
aus Eifersucht und Intrigen. Sie gebiert dem Herrscher einen Sohn. Auch jene, die
seine Mutter hassen, sind von dem Knaben hingerissen. Das Kind überstrahlt alle an
Schönheit. Der „leuchtende Prinz“ wird es genannt. Aber so sehr der Kaiser die
Mutter des Knaben auch liebt, so ist sie doch nur eine Konkubine von geringer
Herkunft. Ihr Sohn erhält den Familiennamen Genji und wird von der Thronfolge
ausgeschlossen.
Zitatorin:
Im Sommer dieses Jahres wurde die Mutter von großer Schwermut befallen. Sie
erbat wiederholt die Erlaubnis zur Rückkehr in ihr Heim (…). Der Kaiser erwiderte auf
alle ihre flehentlichen Bitten nur: „Versuch es noch eine kleine Weile!“ Allein, ihr
Zustand verschlimmerte sich immer mehr.
Sprecher:
Zermürbt von der Boshaftigkeit ihrer Rivalinnen fällt die Konkubine in eine tiefe
Depression. Ihre Kräfte schwinden und der Kaiser sieht ein, dass er ihrem Bitten
nachgeben muss. Die Kranke kehrt heim zu ihren Eltern. Ihr kleiner Sohn bleibt
mutterseelenallein im Palast zurück. Der Kaiser bangt um das Leben seiner
Geliebten, bald tut sie tatsächlich ihren letzten Atemzug. Ihr Tod lässt selbst den
mächtigen Kaiser fassungslos zurück. Wie aber soll ein dreijähriges Kind wie Prinz
Genji den Verlust der eigenen Mutter verkraften?
Zitatorin:
Er begriff nicht was geschehen war, aber da er gewahrte, wie die Diener alle die
Hände rangen und der Kaiser selbst beständig weinte, fühlte er, dass es etwas sehr
Schreckliches gewesen sein müsse. Er wusste, dass sogar ein ganz gewöhnlicher
Abschied die Menschen unglücklich machte; hier aber ertönte so verzweifeltes
Weinen und Klagen, wie er nie zuvor vernommen, und er schloss daraus, dass es
wohl eine ganz besondere Art von Abschied sein müsse.
Sprecher:
Es ist der erste einschneidende Abschied, den Prinz Genji erfährt. Im Laufe der
Geschichte werden noch viele weitere hinzukommen. Der hübsche Knabe wächst zu
einem bildschönen Mann heran, der sich wie ein Getriebener von einer
Liebesbeziehung in die nächste stürzt. Der Verlust der Mutter ist das Trauma, dessen
Bewältigung die Autorin Murasaki Shikibu ihrem Titelhelden zur Lebensaufgabe
macht. [Dem westlichen Leser erschließt sich durch die „Geschichte vom Prinzen
Genji“ eine andere kulturelle Sichtweise auf vertraute Fragen, Nöte und Ängste.]
O-Ton 2 (Muschg)
2
Wenn ich sagen müsste, was mich daran so besticht: die vollkommen fremde
Perspektive, die in der völligen Fremde so viel Vertrautes erlaubt. Und in dieser
Hinsicht ist das für mich, ja, so fast ein Leitbuch meines Lebens geworden.
Sprecher:
Zugleich lädt uns die „Geschichte vom Prinzen Genji“ dazu ein, in eine fremde Welt
einzutauchen: in die alte Kaiserstadt Kyôto zur Zeit ihrer größten Blüte, in das Japan
des frühen 11. Jahrhunderts, in dem es weder Sushi noch Samurai gab. Damals hieß
die Kaiserstadt Kyôto Heian-kyô: „Stadt des Friedens und der Ruhe“. Die breite
Prachtstraße, die zum Kaiserpalast führte, war gesäumt von Weidenbäumen, deren
Wipfel sich anmutig zu verneigen schienen, wenn eine der prunkvollen
Ochsenkarossen vorbei gerollt kam, und durch die feingewebten Vorhänge der
Kutsche sah man vielleicht das Seidengewand einer Hofdame rosenholzfarben
aufleuchten. Das Palasttor, welches sich hinter der Karosse schloss, bewachte die
Welt des Kaisers. In ihr regierte vor allem die Liebe zur Kunst. Gedichtwettbewerbe,
nächtliches Geschichtenerzählen und Musizieren gehören auch zum Zeitvertreib des
Prinzen Genji.
Regie: Leise Musik, darüber:
Zitatorin:
Der Mond war nun emporgestiegen. Man trug das Abendessen auf, und nachher
wurden von den verschiedenen Teilnehmern der Gesellschaft Geschichten erzählt.
(…) Der Regen vom Vormittag hatte eine leichte Brise hinterlassen, die in die schon
schwer durchdufteten Räume des Hauses beständig frischen Wohlgeruch von den
Bäumen des Gartens hereinwehte. Aus dem Musikraum drangen die Klänge von
Flöten und Saiten.
Sprecher:
„Heian-Zeit“, so wird jene traumwandlerisch anmutende Epoche heute in Japan in
Anlehnung an die damalige Kaiserstadt Heian-kyô, genannt. Die Heian-Zeit
erstreckte sich über 400 Jahre, von 794 bis 1192. Zu Beginn dieser Ära orientierte
sich der Hofadel in seinen kulturellen Spielarten am Vorbild des kaiserlichen China.
Man schickte Gesandtschaften ins Reich der Mitte und lernte in allen Bereichen:
Architektur und Verwaltungswesen, Buddhismus, Dichtkunst, Musik und Schrift. Doch
als Murasaki Shikibu die Geschichte vom Prinzen Genji schrieb, hatte der japanische
Kaiserhof die Gesandtschaften nach China bereits eingestellt. Der japanische Adel
begann nun - aufbauend auf der chinesischen Kultur - eine neue japanische
Hochkultur zu erschaffen. Dazu gehörten auch umfangreiche Erzählungen,
Monogatari genannt. Evelyn Schulz, Japanologin an der Ludwig Maximilians
Universität München.
O-Ton 3 (Schulz)
Monogatari bedeutet wörtlich: Dinge erzählen. Also mono – „Dinge“, gatari kommt
von dem Verb kataru – „erzählen“. Das sind Werke erzählender Prosa, die aus
unserer Sicht eher sequenziell angeordnet sind, das heißt es handelt sich um eine
Aneinanderreihung von Anekdoten, von Passagen, von Ereignissen.
[Sprecher:
Auch die „Geschichte vom Prinzen Genji“ zählt zu den Monogatari.
3
O-Ton 4 (Schulz)
Die Autoren sind meist anonym, man kann sie nicht mehr rekonstruieren. Und wir
wissen, dass von den Monogatari, die mal geschrieben wurden, etwa nur noch 10
Prozent erhalten sind. Das heißt: der Korpus an Texten war früher viel, viel größer,
aber im Laufe der Zeit, durch Naturkatastrophen und so weiter, sind die Werke, die
erhalten sind, relativ reduziert.]
Sprecher:
Über das Leben der Verfasserin des Genji-Monogatari liegt vieles im Dunkeln.
Informationen liefert vor allem ihr Tagebuch. Doch selbst ihr echter Name ist
unbekannt. Der Name Murasaki ist wohl eine Anspielung auf eine gleichnamige
Frauenfigur im Genji, und „Shikibu“ war die Amtsbezeichnung des Vaters der Autorin.
Manche Wissenschaftler nehmen an, dass Teile des Genji-Monogatari auch von
Murasakis Tochter und ihrem Vater verfasst wurden. Der Vater war es auch, der
schon früh den Intellekt seiner Tochter erkannte. In ihrem Tagebuch erinnert sich
Murasaki, wie sie als kleines Mädchen ihrem Bruder beim Chinesisch lernen über die
Schulter lugte – und die Sprache bald besser beherrschte als er.
Zitatorin:
Da seufzte dann mein Vater und sagte zu mir: „Wenn du nur ein Knabe wärst – wie
stolz und glücklich könnte ich sein!“
Sprecher:
Japan hatte zunächst kein eigenes Schriftsystem. Chinesisch war die Sprache, mit
der wichtige Gesetzestexte, religiöse Schriften oder auch Gedichte geschrieben
wurden. Für Frauen allerdings galt das Beherrschen des Chinesischen als
unschicklich. [Murasaki lernte es trotzdem. Im Genji-Monogatari jedoch lässt sie
einen Freund des Titelhelden eine Empfehlung für die Bildung der Frau abgeben:
Zitatorin:
Das Beste für sie ist wohl, (…) hier und da ein weniges aufzuschnappen (…) Sie
möge damit zufrieden sein und nicht darauf bestehen, ihre Briefe mit chinesischen
Schriftzeichen zu überschwemmen, die gar nicht zu ihrem weiblichen Stil passen.
Sprecher:
Wenn die chinesische Schrift nicht zum weiblichen Stil passte, dann musste eben ein
weiblicher Stil geschaffen werden! Statt der komplizierten chinesischen
Schriftzeichen, bei denen jedes Zeichen ein Bild mit einer Bedeutung ist, benutzten
die Hofdamen eine neue Silbenschrift, die bis heute in Japan verwendet wird.]
O-Ton 5 (Schulz):
Man muss sich vorstellen, in der Heian-Zeit schrieb man zunächst nur auf
Chinesisch, Männer schrieben auf Chinesisch amtliche Dokumente. Und im Laufe
der Zeit bildete sich eine japanische Schriftsprache heraus, und an deren
Entwicklung haben eben die Hofdamen, die literarisch tätig waren einen enorm
großen Einfluss. Weltgeschichtlich betrachtet ist die Heian-Zeit eine ganz besondere
Epoche, weil hier Frauen die kulturellen Träger waren.
Sprecher:
4
[Während Männer in erster Linie gelehrte Schriften auf Chinesisch kritzelten, waren
es besonders die Frauen, die ihre Muttersprache dazu nutzten, Geschichten,
Tagebücher und Gedichte zu verfassen.] Denn in ihrem eintönigen Leben, verborgen
hinter Wandschirmen und Prunkvorhängen, waren Kunst und Literatur der einzige
Zeitvertreib. Im flackernden Halbdunkel des Kohlebeckens wurden an
Winterabenden im Kreis der Hofdamen seufzend kostbare Bildrollen bewundert. In
Sommernächten saßen die Damen mit ihren großen Fächern auf der Veranda, um
den Tanz der Glühwürmchen zu bestaunen und dem Spiel der japanischen Zither zu
lauschen. Dabei hingen die Gedanken der ein oder anderen Dame nicht selten einem
schönen Kavalier nach - und der Frage, ob er vielleicht auch heute Nacht zaghaft an
die Tür ihres Gemachs pochen würde. Denn der Adel der Heian-Zeit lebte polygam.
Ein Mann von Rang hatte in der Regel eine Hauptfrau sowie mehrere Nebenfrauen
und Geliebte, die er meist abwechselnd besuchte. Für die Frauen galt das Recht der
Polygamie freilich nicht. Doch prickelnde Affären gehörten zum Alltagsleben der
Oberschicht, und Murasakis Prinz Genji ist ein Meister darin, mehrere Damen
gleichzeitig in sein Verführungsnetz zu verstricken.
O-Ton 6 (Muschg):
Bei uns würde eine Figur wie der Prinz Genji ein Casanova-Typ sein. Und es würde
dazu auch ein bestimmtes Pathos der, ja der Eroberung gehören. Das ist nicht völlig
abwesend beim Prinzen Genji, aber es ist eigentlich paradoxerweise von
Unkörperlichkeit bestimmt. Das heißt, die körperliche Berührung mit der Frau scheint
im Vergleich zu unserer Neugier und unseren Hemmungen und unseren Komplexen
als solche kaum der Rede wert. Es ist viel, viel wichtiger was sie anhat, es ist sehr
viel wichtiger wie sie duftet, es ist vor allem wichtiger wie sie schreibt, wie sie dichtet.
Sprecher:
So der Schriftsteller Adolf Muschg. In der Adelswelt der Heian-Zeit begann jede
Liebesbeziehung mit einem Gedicht. [Die Frauen hielten sich hinter Vorhängen und
Wandschirmen vor den Blicken der Männer verborgen. Zunächst war da oft nur das
Gerücht über die Schönheit einer Dame, oder man sah ihr vielversprechendes Profil
im Dämmerlicht hinter dem Wandschirm. Um mehr zu sehen, musste man sich erst
das Vertrauen der Herzdame erdichten. Und das ging so:]
Regie: Leise Musik, darüber:
Zitatorin:
Könnt ich nur aus der Nähe sie betrachten, nicht länger wären sie ein Rätsel mir, die
Blumen, die ich allzu schwach im Dämmerlicht erblickte.
Sprecher:
Dieses Gedicht schickt Prinz Genji einer Dame - über die er rein gar nichts weiß. Er
ist sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt existiert. Allein der Verdacht, dass in
diesem oder jenem Haus eine junge Schöne wohnen könnte, genügt schon, um die
Fantasie von Prinz Genji zu beflügeln, der zwanghaft neue Abenteuer sucht. Nach
der poetischen Kontaktaufnahme hieß es nun: warten auf die Antwort. Denn das
Gedicht einer Frau konnte mehr über sie verraten als eine Berührung oder gar ein
Kuss. Die Farbe und der Duft des Papiers, das sie wählte, die Falttechnik, die
Raffinesse, mit der sie ein Gedicht nach strengen formalen Regeln komponierte und
5
natürlich: ihre Handschrift. Aus alldem schloss der Empfänger auf Charakter und
Bildung der Absenderin.
Regie: Leise Musik
Sprecher:
Nicht selten folgte solch einem Briefwechsel der Liebesakt. Doch die Erotik in
Mursakis Erzählung ist vor allem eine Erotik der Andeutung. Überhaupt: nackte Haut
und tiefe Dekolletés waren nicht die Reize, mit denen die Damen der Heian-Zeit den
Herren den Kopf verdrehten. Glänzendes schwarzes Haar, das offen und üppig bis
zum Boden wallte, galt als wichtigstes Attribut einer schönen Frau. Dazu ein rundes,
weißes Gesicht mit zwei gemalten Punkten statt Augenbrauen. Die Zähne wurden
geschwärzt. Weiße Zähne, die beim Lachen raubtierartig blitzen, waren verpönt! Die
Körperform verschwand unter bauschigen Gewändern. Und zu einer schönen Frau
gehörte natürlich ein ebenso attraktiver Mann, glatt rasiert, bis auf ein winziges
Bärtchen am Kinn mit sanften, schmale Augen in einem pausbackigen, gepuderten
Gesicht. Der Inbegriff dieses androgynen Ideals ist Prinz Genji.
Zitatorin:
Im Licht der Lampe, gegen die er lehnte, sah er so schön aus, dass man fast
gewünscht hätte, er wäre ein Mädchen.
Sprecher:
Der in seiner Schönheit mädchenhaft, ja fast kindlich anmutende Prinz Genji sucht in
Beziehungen zu Frauen vor allem das, was ihm mit drei Jahren entrissen wurde: die
Liebe seiner Mutter. Ihr gleichen jene Frauen, für die er im Laufe seines Lebens die
stärksten Gefühle entwickelt.
O-Ton 7 (Muschg)
Die Mutterbindung des Titelhelden ist überhaupt nicht zu übersehen. In unserem
Kontext gäbe es eine Spaltung zwischen der heiligen Mutter und der verworfenen
Dirne. Und genau diese Spaltung gibt es in diesem japanischen Roman nicht.
Sondern die Trauerarbeit an dieser Mutter wird komplexfrei an neuen Objekten
geleistet. An neuen Objekten der Begierde, in denen man die Mutter wiedererkennt.
Und, was ja bei uns hoch anstößig wäre, man erkennt auch die eine Liebe immer in
der nächsten wieder.
Sprecher:
So erkennt Prinz Genji seine Mutter in der Dame Fujitsubo wieder, die ausgerechnet
seine Stiefmutter ist. An die Dame Fujitsubo wiederum erinnert ihn später das
Mädchen Murasaki, die „Veilchenfarbene“. Die Figur der Murasaki, von der die
Autorin des Genji vermutlich ihren Namen erhielt, ist noch ein kleines Kind, als der 20
jährige Prinz ihr das erste Mal begegnet – und von der Lieblichkeit der Halbwaise
hingerissen ist.
Zitatorin:
Ihre Züge waren von erlesener Feinheit. Aber vor allem war es die Art, wie ihr Haar
wuchs, die ihm bezaubernd erschien: über den Schläfen, wie in dichten Wolken, aber
nach Kindesart von der Stirn zurückgestrichen. Während er sie beobachtete und sich
ausmalte, wie sie wohl als Erwachsene aussehen werde, fiel ihm plötzlich ein, dass
6
sie keine geringe Ähnlichkeit mit einer zeigte, die er mit seinem ganzen Wesen
geliebt hatte.
Sprecher:
Nämlich seine Stiefmutter Fujitsubo. Mit ihr zeugt Genji heimlich einen Sohn, der als
Kind des Kaisers gilt. Doch es ist weniger der Betrug an seinem eigenen Vater, der
Genji quält, als vielmehr die Tatsache, dass sich Fujitsubo aus Scham immer mehr
zurückzieht und - genau wie einst die Mutter - unerreichbar für ihn wird. Die kleine
Murasaki aber, da ist Genji fest entschlossen, soll ganz ihm gehören! Er nimmt das
kleine Mädchen zu sich und wartet ihre erste Monatsblutung ab, um sie zu seiner
Geliebten zu machen. Die Entjungferung ist für die noch kindliche Murasaki ein
Schock. Prinz Genji zeigt dafür wenig Verständnis.
Zitatorin:
„Warum behandelst Du mich so mürrisch? (…)“ damit zog er die scharlachrote Decke
beiseite, unter die sie sich verkrochen hatte. Zu seinem Erstaunen sah er, dass sie in
Schweiß gebadet war. Sogar ihr Haar, das ihr über die Wangen hing, war triefend
nass. „Nein, das ist zu viel!“ sagte er. „In was für einen Zustand du dich
hineingesteigert hast!“
Sprecher:
Der schöne Prinz Genji, der dichten kann wie kein Zweiter und mit so viel Zartgefühl
die Zither spielt – ein Vergewaltiger? Den Lesern der Heian-Zeit kam Genjis
Verhalten sicherlich nicht ungewöhnlich vor. Doch die Autorin zeigt mit ihrem klaren
Blick auf den Schrecken des Mädchens Verständnis für seine seelische Not.
Mit ihren Monogatari und Tagebüchern schufen Murasaki Shikibu und unzählige
andere Hofdamen nicht nur einige der ältesten Werke der japanischsprachigen
Literatur. Sie drückten damit auch ihre weibliche Sichtweise auf eine von Männern
dominierte Welt aus. Denn literarisches Schreiben war auch ein Mittel des
Gedankenaustauschs. Einen Buchmarkt im heutigen Sinne gab es damals nicht. Es
waren vor allem die Hofdamen selbst, die die Monogatari immer wieder durch
Abschrift vervielfältigten und sich im geselligen Kreis gegenseitig daraus vorlasen.
Das Genji-Monogatari fesselte die weiblichen Zuhörer, weil es kein Märchen war,
sondern von ihrer Lebensrealität erzählte, von ihren Sehnsüchten und Qualen. Auch
von jener Qual, die in einer polygamen Gesellschaft die tiefsten Wunden riss: der
Eifersucht. Als Genjis Hauptfrau Aoi schwanger ist, wird sie von einer sonderbaren
Krankheit befallen. Genji tritt an ihr Lager und macht eine grausige Entdeckung:
Zitatorin:
„Ich habe auf dich gewartet, bis meine ganze Seele vor Sehnsucht verbrannt ist.“ (…)
Die Stimme, mit der diese Worte gesprochen wurden, war nicht die Stimme Aois. Er
kannte jemand, dessen Stimme sehr ähnlich klang. Wer konnte es sein? Ach ja,
gewiss nur sie – Rokujô.
Sprecher:
Die Dame Rokujô ist eine Geliebte Genjis. Ihr eifersüchtiger Geist hat von Aoi Besitz
ergriffen. Im alten Japan war man überzeugt, dass der Geist einer eifersüchtigen
Frau in ihre Rivalin fährt und diese peinigt. Die Dame Rokujô tut dies nicht
absichtlich. Es geschieht durch ihr Unterbewusstsein, im Schlaf.
7
Zitatorin:
Es schien ihr, dass sie in einem großen, prächtigen Gemach gewesen sei, wo ein
Mädchen lag, in dem sie die Prinzessin Aoi erkannte. Sie hatte die hingestreckte
Gestalt beim Arm ergriffen und sie gezerrt und misshandelt, in einem Ausbruch roher
Wut, wie er ihr im Wachen völlig fremd gewesen wäre. Seither hatte sie denselben
Traum mehrere Male gehabt. Wie schrecklich!
Sprecher:
[Trotz all der seelischen und körperlichen Qualen, die Genji durch sein
rücksichtsloses Verhalten den Frauen zufügt: in den Augen von Murasaki Shikibu
und ihren Zeitgenossinnen war der schöne, gebildete und charmante Prinz dennoch
ein Idealmann, den man am wirklichen Kaiserhof vergeblich suchen konnte.]
Murasaki Shikibu wurde mit ihren Schriften zu einer Art Chronistin des höfischen
Lebens. Sie selbst fühlte sich in diesem Leben nicht wohl. [So meisterlich sie
zwischenmenschliche Beziehungen zu analysieren und beschreiben vermochte, so
schwer fiel es ihr in der Realität, sich auf ihr Umfeld einzulassen. Was hinter den
Wandschirmen über sie getuschelt wurde, wusste sie nur zu gut: eitel sei sie, und
ungesellig, eingesponnen in ihre eigene poetische Welt.] Ständig von Menschen
umgeben und doch einsam - das war seit dem Tod ihres Mannes das Schicksal der
Dichterin. Auch durch das Leben ihres Helden Genji, des Vielgeliebten, ziehen sich
Einsamkeit und Verlassenheit wie ein roter Faden. Nach dem Tod der Mutter muss
der Prinz noch von vielen Menschen, die er liebt, Abschied nehmen – auch von
Murasaki. Je älter und reifer Murasaki wird, desto stärker fühlt sich Genji zu ihr
hingezogen. Die Kindfrau entwickelt sich zu einer Mutterfigur, die nachsichtig über
Genjis Beziehungen zu anderen Frauen hinweg sieht. Eine Nachsicht, die sie nur
nach und nach erwirbt und die sie große seelische Schmerzen kostet. Als Murasaki
mit Ende 30 an einer Krankheit stirbt, ist Genji am Boden zerstört.
Regie: Leise Musik, darüber:
Zitatorin:
Tausendmal fragte er sich, was sie ihm je genützt hatten – seine Schönheit, von der
so viel geredet worden war, seine Geistesgaben, die ihn angeblich über
seinesgleichen erhoben. Kaum war er auf die Welt gekommen, als Einsamkeit und
Kummer sein Teil wurden.
Sprecher:
Neben allem Schwelgen in Schönheit und feinsinniger Erotik ist die Gedankenwelt
des Genji-Monogatari tief von der buddhistischen Erkenntnis durchdrungen, dass
Leben Leiden bedeutet. Für Prinz Genji ist dieses Leiden nach Murasakis
Hinscheiden bald vorbei.
Zitatorin:
Der leuchtende Prinz war tot.
Sprecher:
Mit diesen Worten beginnt das 42. Kapitel. Die letzten 13 Kapitel des japanischen
Klassikers handeln von Genjis Söhnen, wobei nicht sicher ist, ob dieser Teil noch von
Murasaki verfasst wurde. Doch entscheidender ist die Frage nach der inneren
Entwicklung, die Genji in den über 1000 Seiten durchlaufen hat. [Nach dem
8
traumatischen Verlust der Mutter hat der Prinz durch seine zahlreichen
Liebesbeziehungen gelernt, Bindungen einzugehen, die nicht nur erotisch geprägt
sind, sondern vor allem emotional. Das polygame Beziehungsgeflecht bietet ihm die
Chance, durch das Kennen- und Liebenlernen verschiedener Frauen auch sich
selbst kennen zu lernen.] Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Adolf
Muschg:
O-Ton 8 (Muschg):
Ob uns das Leben gelingt oder ob es nicht gelingt heißt ja auch: wie sehr fallen wir
immer wieder auf uns herein. Und bei Genji ist deutlich eine Abnahme des Zufalls
seiner Begegnungen erkennbar und eine Intensivierung der Beziehungen, der lernt
dazu. Und das seinem Lernen gewissermaßen keine Zügel angelegt werden, das ist
für den modernen Leser durchaus befreiend. Es ist irgendwo im tiefsten Sinne auch
ein pädagogischer Roman, ohne jeden Zeigefinger.
Sprecher:
Und nach Meinung einiger Wissenschaftler sogar der älteste psychologische Roman
der Weltliteratur. Evelyn Schulz, Professorin für Japanologie:
O-Ton 9 (Schulz):
„Das Genji“ wird ja sehr gerne mit Superlativen in Verbindung gebracht. Man muss
sagen, für die damalige Zeit ist es von einer enormen Psychologisierung
gekennzeichnet. Also der Autorin ist es wirklich gelungen, die Konflikte der
Menschen, ihr Träume, ihre Wünsche, ihre Ängste, doch sehr nachvollziehbar
aufzuzeichnen. Wenn wir von einem psychologisierenden Roman sprechen, dann
denken wir natürlich an die großen Romanciers des späten 19. Jahrhunderts, allen
voran eben Zola, Flaubert oder Dostojewski, die wirklich also die Seele des
Menschen sezieren. Davon ist „das Genji“ allerdings weit entfernt. Ich würde sagen,
es bewegt sich irgendwo in der Mitte.
Sprecher:
Ein klarer Spannungsbogen, wie er für den Roman typisch wäre, fehlt im GenjiMonagatari. Das macht Murasakis Erzählung für den westlichen Leser zu einer zwar
faszinierenden, aber nicht gerade leichten Lektüre. Immer wieder verlieren sich die
Figuren in Schwelgereien über Naturschönheiten und Kunst. Doch in diesem
Schwelgen liegt ein Hauch von Wehmut. Denn alle irdische Schönheit ist nur ein
vergängliches Trugbild, so der buddhistische Blick auf die Welt. Murasaki und ihre
Zeitgenossen glaubten zudem, am Vorabend einer Endzeit zu leben, in der das
Gesetz Buddhas an Kraft verliert und die ganze Welt im Verfall begriffen ist. Auch die
Herrschaft des Hofadels ging langsam ihrem Ende entgegen. Bereits zu Murasakis
Lebzeiten erschienen Gewitterwolken am politischen Horizont. Die vom Kriegergeist
geprägten Zeiten der Samurai folgten, und es sollte Jahrhunderte dauern, bis Frauen
in Japan wieder Literaturgeschichte schrieben. Doch Murasaki Shikibus Werk
überdauerte alle Stürme der Geschichte. Als die Japaner Ende des 19. Jahrhunderts
versuchten, wirtschaftlich und politisch mit den westlichen Ländern mitzuhalten,
entdeckten sie das Genji-Monogatari neu: als den Text, der Japan in der Welt
einzigartig machte.
O-Ton 10 (Schulz)
9
Man hat es neu aufgelegt, es wurden sozusagen Volksausgaben des Genji
herausgegeben und es wurde zu einem Monument der höfischen Kultur Japans und
damit auch zu einem Monument der japanischen Kultur.
Sprecher:
Der „leuchtende Prinz“ Genji ist längst Kult: ob als schmachtender Beau auf der
Kinoleinwand oder als pastellfarbig strahlender Zeichentrick-Held. Vor allem in der
ehemaligen Kaiserstadt Kyoto, dem Schauplatz der Erzählung, gibt es einen
regelrechten Genji-Tourismus - und Souvenirs in allen Varianten:
O-Ton 11 (Schulz)
Nur ein Beispiel: es gibt Genji-Kekse, es gibt Genji-Glasuntersetzer, es gibt GenjiMousepads, es gibt Genji-Bildschirmschoner. Wir müssten uns das mal in
Deutschland vorstellen, wir hätten das Nibelungenlied als Bildschirmschoner! So ist
das in Japan.
Sprecher:
Das Genji-Monogatari selbst ist von all diesem Kitsch weit entfernt. Denn in Murasaki
Shikibus Erzählung kommt ein feines Gespür für Ästhetik zum Ausdruck, das die
japanische Kultur über ein Jahrtausend hinweg prägte. Für den Schriftsteller Adolf
Muschg liegt darum gerade in den zahlreichen handlungsarmen Passagen des Genji
einer der besonderen Reize dieses Textes.
Regie: Leise Musik, darüber:
O-Ton 12 (Muschg):
Mir genügt es im Grunde wenn es regnet, oder wenn es schneit und der Schnee sich
auf den Ärmel setzt, dass sich eine Welt von Assoziationen auftut und dass die
Geschichte dann merkwürdig zweitrangig wird, also die Fabel, gegenüber der
Stimmung, die sie verkörpert.
Zitatorin:
Um diese Zeit lag der Schnee sehr hoch (…). Die Formen der Föhren und des
Bambusrohrs verschwanden nicht, sondern die schwere Schneedecke schien nur
noch stärker ihre verschiedenen Umrisse zu betonen, die mit seltsamer Deutlichkeit
ins Abendlicht ragten. (…) Der Mond war nun ganz aufgegangen und übergoss den
Garten mit seinem stillen, gleichmäßigen Licht. (…) Und siehe da, der Fluss war halb
erstickt von Eis, während der ganze zugefrorene Teich unter seinem Mantel von
Schnee unaussprechlich einsam und verlassen dalag.
Regie: Musik bitte noch einmal kurz frei, dann weg
*****
Literaturhinweis:
Die Geschichte vom Prinzen Genji, nach der englischen Übertragung von Arthur
Waley, Deutsch von Herbert E. Herlitschka
Insel Verlag (1995)
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