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Stammer, Stefan: Das Pferd in positiver Spannung – Biomechanik und Reitlehre in Bewegung
In den letzten Jahren häufen sich Veröffentli-
den als aktive Stabilisation
chungen zum Thema Reiten, Ausbildung und Trai-
des Pferdes gegen die Schwer-
ning des Pferdes. Warum gerade dieses Werk aus
kraft im dynamischen Zusam-
der Fülle der Neuerscheinungen herausragt, soll
menspiel von vorderem und
im Überblick über die sieben Kapitel und einer
hinterem, Bewegungszentrum
anschließenden Einschätzung deutlich werden.
(Vor- und Hinterhand). Die the-
Am Anfang steht eine kurze Analyse der mo-
oretischen
Zusammenhänge
mentanen Situation im Reitsport. Die hohe Ver-
von Bewegungsenergie, Kraft-
antwortung, die mit dem Besitz und der Nutzung
entwicklung und Übertragung
des Pferdes einhergeht, wird betont. Interes-
in Ruhe und Bewegung werden
sante Fragen werden aufgeworfen und altbe-
mithilfe zahlreicher, aussage-
kannte Umschreibungen hinterfragt. Stammers
kräftiger Abbildungen erklärt.
Sicht wird gleich zu Beginn in der Beleuchtung
Wie und warum diese Kräfte
der Begriffe „Entspannung“ und „Losgelassen-
in der Ausbildung vom Pferd
heit“ deutlich: sie seien nicht gleichzusetzen mit
zum Reitpferd zur Gesunder-
einem Zustand des unangestrengten Nichts-
haltung des Pferdes gerichtet werden müssen,
tuns des Reiters bzw. dem spannungslosen Da-
wird nachvollziehbar verdeutlicht. Hierzu wird
hinlaufen des Pferdes. Eine positive Spannung
das Denkmodell anschaulich auf die Analyse der
sei unumgänglich, um ein Pferd aus seinen na-
Bewegung des Pferdes auf geraden und geboge-
türlichen Bewegungsmustern heraus zu einem
nen Linien bzw. zur Erklärung der Begriffe „hohle“
„zufriedene[m], sich selbst tragende[m] und in Los-
Seite, Schiefe und Geraderichten angewendet.
gelassenheit schwingende[m] Pferd“ (S. 21) unter
Sehr gelungen ist die detaillierte Erläuterung der
einem Reiter werden zu lassen. Erreichbar sei
Wirkmechanismen der unterschiedlichen Kräfte
dieser Zustand weder durch negative Verspan-
in Schritt, Trab und Galopp sowie die Darstellung
nung (à la Rollkur) noch durch negative Entspan-
ungünstiger Bewegungskonzepte und woran sie
nung (à la braves Freizeitpferd, das „gemütlich“
am Muskelrelief des Pferdes und in der Bewe-
geritten wird). Um die gewünschte positive Span-
gungsanalyse erkennbar sind. Kurz angerissen
nung im Pferd zu er- und behalten, brauche es die
werden Schnittpunkte zu neueren Erkenntnis-
(je abgestimmte) aktive Einwirkung des Reiters
sen über Faszienstrukturen und die besondere
und ein grundlegendes, athletisches Training des
Bedeutung des Zwerchfells als Atemmuskel und
Pferdes – immer in Abhängigkeit von dessen indi-
Verbindungselement zwischen Vorhand und Hin-
viduellen psychischen und physischen Vorausset-
terhand.
zungen und seines Einsatzgebietes.
FN Verlag, Warendorf, 2015,
184 Seiten, 27,90 € (D)
In Kapitel vier wird die fundamentale Bedeu-
Die Kapitel zwei und drei sind der Entfaltung
tung der Dressurarbeit aus biomechanischer
der vom Autor entwickelten Überlegungen zu Bio-
Sicht weiter vertieft. Die vorangegangenen Über-
mechanik und Reitlehre in Bewegung gewidmet.
legungen werden in Beziehung gesetzt zur Skala
Grundpfeiler des Denkmodells sind Erkennt-
der Ausbildung der FN und auf die unterschiedli-
nisse aus der Trainingslehre, der Biomechanik
chen Einsatzgebiete des Pferdes angewendet. Es
und der funktionellen Anatomie. Dreh- und An-
wird hingewiesen auf unterschiedliche Zeitver-
gelpunkt ist die „positive Spannung“ – verstan-
läufe des Trainings bei unterschiedlichen Pferde-
mup 3|2016|129–131|© Ernst Reinhardt Verlag München Basel, DOI 10.2378 / mup2016.art21d | 129
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typen – ebenso wie auf die notwendige, individu-
(= positive Spannung), die Synchronisation des
elle Anleitung von Pferd und Reiter während des
vorderen und hinteren Bewegungszentrums als
gesamten Trainingsprozesses.
Schlüssel zum Ausbalancieren des Pferdes zen-
Dies führt den Leser zu Kapitel fünf. Anhand
tral und notwendig sind für die Ausbildung und
eingängiger Beispiele wird hier aufgezeigt, wie
jegliches Training des Reitpferdes. Werden dem
tradierte Vorstellungen und Anweisungen „fal-
Pferd diese Bewegungsmuster unter dem Reiter
sche“ Bilder vermitteln können, die ungünstige
nicht nutzbar gemacht, steht seine Gesunder-
Bewegungsmuster und Verhaltensweisen beim
haltung von vornherein auf dem Spiel. Der Autor
Reiten zur Folge haben. In den Blick geraten auch
macht unmissverständlich deutlich, dass man als
die durch Bewegungs- und Trainingsmangel des
Reiter nicht an einer fundierten Ausbildung (der
Reiters entstehenden Probleme.
eigenen sowie der des Pferdes) vorbeikommt. Lö-
Kapitel sechs verdeutlicht nochmals den Zu-
sungsmodelle für Probleme werden im Buch kurz
sammenhang von Ausbildung und weiterführen-
vorgestellt – eine detaillierte Anleitung sucht
dem Training des Pferdes – auch als Grundlage für
man vergebens –, gerade hieran wird der Respekt
jedwede Therapie und Rehabilitation. Der Autor
Stammers vor der Verantwortung gegenüber dem
stellt in diesem Kapitel die Grundzüge des von
Pferd und der Komplexität der Thematik deutlich:
ihm entwickelten Therapiekonzeptes Stammer
Im Verzicht auf den Versuch, Wissen und Können,
Kinetics vor. Daneben finden sich einige Hinweise
das nur praktisch erfahren werden kann in einem
und Beispiele aus seiner Tätigkeit als Osteopath.
Buch vermitteln zu wollen. Stil und Inhalt des Bu-
Trotz der Kürze des Kapitels wird gerade hier die
ches lassen einen reichen und breiten Wissens-
Komplexität der gesamten Thematik deutlich.
und Erfahrungsschatz des Autors als Physiothe-
Abgerundet wird das Buch im Kapitel sieben
rapeut, Reiter und Osteopath für Pferde deutlich
mit Überlegungen zu pferdegerechter Aufzucht,
werden. Der Wechsel zwischen stringent fachli-
Haltung und Bewegung. Hier wird ein Weg aufge-
chen Beschreibungen, kurzen Fallbeispielen und
zeigt, der viel Spielraum aufdeckt und Hoffnung
Fragen macht das Buch durchweg flüssig lesbar.
weckt hinsichtlich der Entwicklung, die im Pfer-
Der Aufbau ist strukturiert, wichtige Aussagen
desport möglich sein könnte.
sind farblich hervorgehoben und jedes Kapitel
endet mit einer prägnanten Zusammenfassung.
Stammer gelingt es, in diesem Buch ein Denkmo-
Die zahlreichen Abbildungen illustrieren den In-
dell vorzulegen, das bereits vorhandenes Wissen
halt hervorragend – allerdings gibt es an zwei
funktionell erschließt bzw. erweitert und kon-
Stellen Fehler in den Bildunterschriften (S. 73,
sequent auf die Reitlehre (im Sinne der Skala
S. 112). Auf vertiefende physikalische, medizini-
der Ausbildung, FN) anwendet. Darauf beruhend
sche oder sportwissenschaftliche Ausführungen
sensibilisiert der Autor für praktikablere Bilder
wird verzichtet. Die Erläuterungen sind so auf-
und Beschreibungen im Reitsport. Ebenso ani-
bereitet, dass sie auch für Menschen ohne thera-
miert er, Aufzucht- und Haltungsbedingungen
peutisches / sportwissenschaftliches Vorwissen
sowie Trainingswege für Pferd und Reiter zu hin-
gut nachvollziehbar sind. Reiterliche – FN-orien-
terfragen und neu zu betrachten. Als Gefahren
tierte – Vorkenntnisse sind zum Verständnis al-
für die Gesunderhaltung der Pferde identifiziert
lerdings hilfreich und notwendig.
der Autor den häufig unzureichend athletischen
An einigen Stellen wird im Text explizit auf
Trainingszustand bei Pferd und Reiter sowie die
Quellen bzw. weiterführende Literatur hingewie-
Arbeit ungenügend ausgebildeter Therapeuten
sen – ein Literaturverzeichnis fehlt jedoch. Ein
und Trainer. Stammer begründet in seinem Denk-
solches hätte das Werk „runder“ gestaltet und
modell, warum die funktionelle Stabilisation
stärker den Anstrich eines Fachbuches unter-
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mauert sowie dem Leser als Handreichung zur
tergrund einer professionellen Tätigkeit ein
weiteren Vertiefung in die Thematik hilfreich sein
fundiertes Verständnis der biomechanischen
können. Nicht geschadet hätte auch ein Glossar –
Vorgänge im Pferd in Ruhe und Bewegung in
als Nachschlagemöglichkeit für Leser, die sich
Bezug zur Reitlehre aneignen wollen, werden hier
bislang noch nicht allzu sehr mit reitsportlichen
viele Informationen und Anregungen finden.
Begrifflichkeiten auseinandergesetzt haben und
Stammer liefert mit „Das Pferd in positiver
um die verwendeten Definitionen des vorgestell-
Spannung – Biomechanik in Reitlehre und Bewe-
ten Denkmodells nochmals übersichtlich zusam-
gung“ ein gelungenes Gebrauchswerk, dem zum
menzuführen.
Wohl der Pferde eine breite Kenntnisnahme zu
Von diesen Kritikpunkten abgesehen ist das
wünschen ist. Buch uneingeschränkt empfehlenswert. Menschen, die sich aus Interesse oder vor dem Hin-
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