SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Glauben WER SIND DIE ZEUGEN JEHOVAS? GEFÄHRLICHE SEKTE ODER FRIEDLIEBENDE CHRISTEN VON LUKAS MEYER-BLANKENBURG SENDUNG 17.07.2016 / 12.05 UHR Redaktion Religion, Kirche und Gesellschaft Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR SWR2 Glauben können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/glauben.xml Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de Redaktions-Atmo [Telefonklingeln, Tastaturklappern] Computer piept Sprecher [leise vorlesend, dann von Frauenstimme abgenommen]: „Sehr geehrter Herr Meyer-Blankenburg, als regelmäßige...“ Frauenstimme: „Sehr geehrter Herr Meyer-Blankenburg, als regelmäßige Hörerin Ihres Programms und als Zeugin Jehovas muss ich Ihnen heute schreiben: Ihre Berichterstattung über die Zeugen Jehovas ist unfair und hetzerisch. Statt uns vom Schreibtisch aus als Sekte zu verleumden, sollten Sie uns mal besuchen kommen. Dann sehen Sie, dass wir ganz normale Leute sind. Mit vielen Grüßen, Ihre …“ Computer piept Sprecher: „Oh, noch eine. Hallo Herr Meyer-Blankenburg...“ Männerstimme: „Hallo Herr Meyer-Blankenburg, mir ist aufgefallen, dass in Ihrer Berichterstattung die Zeugen Jehovas viel zu gut wegkommen. Für mich als ehemaliger Zeuge Jehovas ist es nur schwer erträglich, wie sie diese Sekte verharmlosen. Sie sollten sich mal mit ein paar Aussteigern darüber unterhalten, was sie durchgemacht haben, bevor Sie so unbedarft losquatschen. Mit freundlichen Grüßen, ein besorgter Hörer.“ Sprecher (seufzt): „Also gut….was sagt denn das Internet dazu?“ [Tastaturklappern] Computerstimme: „Ich schlage vor, dass du dich mit spirituellen Fragen an jemand anderes wendest. Wie wäre es mit einem menschlichen Wesen?“ Musikakzent [Sprecherin drüber] Sprecherin [Schlagzeile]: Die Zeugen Jehovas – Auf Spurensuche zwischen den Extremen. Atmo Versammlung Koblenz [5 Sek. freistehend, dann Sprecher drüber] Sprecher: Sonntagvormittag im Industriegebiet von Koblenz. Eine ehemalige KfZ-Werkstatt ist der Versammlungsort für die Zeugen Jehovas aus der Umgebung. Ihr Königreichsaal: ein heller, länglicher Raum, ordentliche Stuhlreihen, eine kleine Bühne mit Rednerpult. Rund sechzig Frauen und Männer, auch ein paar Kinder und Jugendliche stehen zusammen und plaudern. Die Männer in Anzug und Krawatte, die Frauen, die meisten mit langen, geflochtenen Zöpfen, tragen Röcke. OT 1 Ingo Fey: „(Ja, also) mein Name ist Ingo Fey, ich bin Teil der Gemeindeseelsorger, die also ne Gruppe von zehn Männern in dem Fall bei 2 uns hier bilden, die die Aufsicht und natürlich die Betreuung über die Gemeinde haben.“ Sprecher: Ingo Fey, kurze braune Haare, hellblaue Krawatte, erklärt die sogenannte Wochenends-Zusammenkunft. OT 2 Ingo Fey: „Die besteht darin, dass nach Lied und Gebet ein Vortrag für die Öffentlichkeit gehalten wird, zu dem auch immer von uns gerne eingeladen wird. Im Anschluss wird dann noch aus der bestimmt vielen bekannten Zeitschrift der Wachtturm ein Artikel gemeinsam betrachtet, wo sich alle Anwesenden beteiligen können, um ihre Gedanken, die sie vorher vorbereitet haben, zu äußern.“ Sprecher: Heute geht es um das Thema Frieden. OT 3 Vortrag: „Der Versuch des Menschen, Frieden herbeizuführen, ist bis auf den heutigen Tag kläglich danebengegangen oder hat versagt.“ Atmo Applaus Sprecher: Auf der Bühne liest ein junger Mann den Wachtturm-Artikel vor. Dann trägt ein Anderer die Fragen vor, die bereits unter den einzelnen Absätzen des Artikels vermerkt sind. Die Mitbrüder und –schwestern antworten. Atmo Bibelstudium Moderation: „Wollen wir uns gleich den nächsten Absatz anschauen.“ [Atmo Bibelstudium geht unter Sprecher weiter.] Sprecher: Knapp zwei Stunden dauert die Zusammenkunft. Ein perfekt synchronisierter Gottesdienst. Weltweit lesen die Zeugen an diesem Tag denselben Wachtturm-Artikel, beantworten dieselben Fragen, und sie hören – wie hier in Koblenz – mit Gebet und Gesang zur gleichen Zeit auf. Atmo Versammlung Koblenz: Ende mit Musik. OT 4 Krüger: „Die Zeugen Jehovas sind eigentlich ein spätes Ergebnis des second awakening, also der zweiten großen Erweckungsbewegung Mitte des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten.“ Sprecher: Religionswissenschaftler Oliver Krüger von der Universität Freiburg in der Schweiz. OT 5 Krüger: „Und aus dieser großen Bewegung ergab sich dann eine bestimmte Richtung, das sind die Adventisten, die von einer Naherwartung der Parosie Christi ausgingen. Also der Wiederkunft Christi, einer Naherwartung des Jüngsten Gerichtes, des Weltenendes im Prinzip.“ 3 Sprecher: 1914, 1925, 1975 – Die Zeugen Jehovas haben aufgehört, sich auf ein Datum für die Wiederkunft Christi festzulegen. Und trotzdem ist das „Nah“ in Naherwartung zentral. OT Krüger: „Denn wenn das Ende nahe ist, das Jüngste Gericht nahe ist, dann gilt es jetzt, die Seelen zu retten.“ Sprecher: Deshalb sind die meisten Zeugen Jehovas ständig auf Missionstour: mit dem Trolley in der Fußgängerpassage. Oder mit dem Wachtturm in der Hand an der Haustür. Ihr Anspruch: den Menschen ihre Wahrheit der Bibel vermitteln. OT Krüger: „Dieser Anspruch, der, auf Deutsch hieß es dann Ernste Bibelforscher, im Englischen war es Bible-Students-Movement, die biblischen Texte wirklich genau zu lesen und zum Kern der Aussagen zurückzukommen. Es ergeben sich insbesondere in der Eschatologie, also in der Lehre der letzten Dinge, einige Folgerungen, dass man nicht davon ausgeht, dass es so etwas wie die Hölle gibt. Und die Paradiesvorstellungen, die unterscheiden sich dann auch natürlich.“ Musikakzent Sprecher: Vom jüngsten zu den irdischen Gerichten: Vor zehn Jahren haben die Zeugen Jehovas zum ersten Mal in Berlin den Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts verliehen bekommen. Ein Status, wie ihn die beiden großen Kirchen haben, verbunden mit besonderen Privilegien. Auch die Zeugen Jehovas dürfen Kirchensteuer einziehen, Schulunterricht an öffentlichen Schulen geben, haben Anspruch auf Sendeplätze im öffentlichrechtlichen Funk und Fernsehen. Mehr als elf Jahre haben die Zeugen Jehovas für diesen Status prozessiert. Von vielen Privilegien machen sie allerdings keinen Gebrauch. Eine Kirchensteuer zum Beispiel, also eine Art Zwangsbeitrag, widerspräche ihren religiösen Vorstellungen. Und auch Religionsunterricht wollen sie nicht anbieten, sagt Benjamin Menne, Leiter der Rechtsabteilung der Zeugen Jehovas Zentrale in Selters im Taunus. OT Benjamin Menne (M4): „Religionsunterricht für doch nicht so viele, es sind vielleicht 20.-30.000 Schüler in Deutschland, das wäre ein logistischer Aufwand, den wir im Moment nicht betreiben wollen und auch aus bestimmten religiösen Gründen nicht betreiben werden.“ Sprecher: Mit dem Körperschaftsstatus verbinden die Zeugen Jehovas vor allem eines: Rechtliche Sicherheit. OT Benjamin Menne (M3b): „…da eben viele Regeln des Wirkens in der Öffentlichkeit auch mit diesem Status verbunden sind, also wenn man mit Behörden spricht, wenn man mit Amtsträgern spricht, dann ist es eben ein 4 Unterschied, ob ich als Verein auftrete oder als Körperschaft öffentlichen Rechts. Dadurch ergeben sich sachlichere Gesprächssituationen. Und die können wir auch in der Praxis so erkennen.“ Sprecher: Der Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts ist für die Zeugen Jehovas eine späte Genugtuung. Weil sie Hitler den Treue-Eid verweigerten, wurden sie im Dritten Reich verfolgt. Die Zeugen Jehovas waren unter den ersten, die in den Konzentrationslagern der Nazis landeten. Nach Kriegsende wurden viele Zeugen Jehovas in der DDR diskriminiert, weil sie den Militärdienst verweigerten. Doch für ihre Kritiker sind die Zeugen Jehovas keine harmlose, verfolgte Religionsgemeinschaft. Der Sektenbeauftragte der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen schreibt: OT Zitat EZW-Einschätzung: „Hinter ihrer Fassade erweist sich diese Gemeinschaft sehr schnell als restriktive Organisation, die von den Anhängern blinden Gehorsam erwartet und für kritische Rückfragen, Einwände oder Bedenken keinen Raum hat. Die Wachtturmgesellschaft schuf ein geschlossenes ideologisches System (…) Ein Überleben des Weltendes wird einzig den eigenen Anhängern versprochen, die sich durch fortwährende Beteiligung an den Werbeaktivitäten für die Zeugen Jehovas zu bewähren haben. Dass die Organisation damit dem Gericht Gottes vorgreift, erscheint besonders kritikwürdig.“ Musik-Akzent [mit echohaften Satzfetzen]: „Hinter ihrer Fassade….restriktive Organisation…blinder Gehorsam…geschlossenes ideologisches System.“ OT Anouk: „Gewisse Zweifel hatte ich schon immer. Und ich glaube, es ist auch nicht unnormal, dass es Momente des Zweifels gab.“ Sprecher: Misha Anouk war von Kind auf Zeuge Jehovas. Mit zwanzig Jahren stieg er aus. Sein Buch „Goodbye, Jehova“ ist Kult in der Aussteigerszene. OT Anouk: „Ich glaube, was der Unterschied bei mir war und vielleicht auch bei vielen anderen, dass man diese Zweifel irgendwann nicht mehr verdrängen konnte. Ich hab zwar fest daran geglaubt. Ich hab daran geglaubt, dass ich in Harmageddon sterben würde, wenn ich den Glauben verlasse. Aber ich hab immer mehr gemerkt, dass das nicht das Leben ist, das ich führen möchte. Ich hab mich da immer unwohler gefühlt und dann war irgendwann der Leidensdruck für mich zu groß.“ Sprecher: Für Anouk gibt es zwei Sorten von Aussteigern. OT Anouk: „Es gibt zum einen die, die ausgestiegen werden, weil sie ne Sünde begangen haben. Da besteht natürlich immer die Chance, dass sie zurückkommen werden. Die werden auch immer noch anders behandelt. Und dann gibt es natürlich die sogenannten Abtrünnigen.“ 5 Sprecher: Also Menschen, die dem Glauben an Jehova abschwören. OT Anouk: „Das ist natürlich eine noch viel größere Stufe, man betrachtet sie auch als Antichristen. Und ich glaube, den Mut hatte ich damals nicht, mich so zu positionieren, so dass ich mir den Ausweg genommen habe über eine Sünde und dann einfach das Naheliegendste genommen. Bei den Zeugen Jehovas ist es ja so, dass Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe nicht toleriert wird, das führt zum Gemeinschaftsentzug, und diesen Weg habe ich dann genommen.“ Sprecher: Nach seinem Ausstieg fiel Anouk in ein tiefes Loch, brauchte therapeutische Hilfe. Ausstiegswilligen rät er dazu, sich gut auf die Zeit danach vorzubereiten und sich Hilfe zu suchen. Anouk: „Letztendlich ist das eine emotionale Erpressung durch soziale Isolation. (…) Ich hab von einem Tag zum nächsten 95 Prozent meines Freundeskreises verloren. Der Kontakt zu meinen Eltern hat sich natürlich radikal verändert in dem Augenblick. Er ist nie ganz abgebrochen, aber er hat sich natürlich zu vorher komplett verändert. Und zu meinem Bruder habe ich gar keinen Kontakt mehr seither, einseitig natürlich.“ Musikakzent OT Krüger: „Ich glaube, der Rechtsstreit, der von den Gerichten ja ziemlich eindeutig entschieden wurde, der zeigt die ganze Problematik der Spannung zwischen einerseits dem Anspruch der Religionsfreiheit und dass etablierte Religionsgemeinschaften durchaus diesen Körperschaftsstatus erlangen können…“, Sprecher: …sagt Religionswissenschaftler Oliver Krüger… OT Krüger: „…und andererseits einer theologischen Bewertung. Und diese theologische Bewertung von einigen Positionen, die die Zeugen Jehovas einnehmen, die ist eigentlich durch die Religionsfreiheit gedeckt, ob das nun einigen passt oder nicht. Also man kann juristisch keine Glaubensansichten bewerten.“ Sprecher: Vor Gericht haben sich die Zeugen Jehovas klar durchgesetzt. Den Juristen waren die Aussteigerberichte über soziale Isolation oder Fälle von besonders strenger Kindererziehung bei den Zeugen Jehovas zwar bekannt. Sie werteten diese jedoch als Einzelfälle. Ein System konnten sie nicht erkennen. Wie streng die Zeugen Jehovas Aussteiger behandelten, ihre Kindererziehung gestalteten oder das Leben mit Nicht-Gläubigen reglementierten, das sei sehr verschieden und müsse individuell und in den einzelnen Gemeinschaften betrachtet werden, sagt auch der Religionswissenschaftler Krüger. Atmo Besucher Veranstaltung in Frankfurt 6 Sprecher: Frankfurt an einem warmen Aprilabend. Die Sonne funkelt auf dem Main. Am Mainufer, vor dem Historischen Museum, steht eine dicke Menschentraube. Etliche hoffen noch auf Einlass, aber vergeblich. Die Veranstaltung der Zeugen Jehovas zum Thema Religionsfreiheit ist vollkommen überlaufen. Drinnen im Saal sitzen und stehen etwa 400 Menschen, Jung und Alt, dicht gedrängt und starren auf die Bühne. Die Luft ist zum Schneiden. Atmo Begrüßung: „Ich kann versprechen, das wird heute ein sehr spannender Abend. Heiß ist er schön [Gelächter], haltet durch.“ Sprecher: Gastredner ist Gerhard Besier, ehemaliger Gast-Professor der Stanford University, Ehrendoktor der schwedischen Universität Lund für sein Engagement für Religionsfreiheit. Ein Mann, der sich öffentlich gerne in die Nesseln setzt. Mal mit einer kurzen Karriere bei der Links-Partei, mal als Verteidiger von Scientology. Für die Zeugen Jehovas hat Besier wohlwollende Gutachten verfasst. Die Freude über so viel akademischen Zuspruch ist den Anwesenden im Saal anzuhören – besonders dann, wenn Besier gegen Christen stichelt, die nur Weihnachten in die Kirche gehen.“ Atmo Besier-Rede: „...also da, wo eigentlich nichts passiert.“ [Gelächter] OT Besier: „Ich muss sagen, ich bin in den Vereinigten Staaten sozialisiert und Religionsfreiheit hat für mich einen besonderen Stellenwert. Und das war eigentlich der Schlüssel. Ich hab es nicht fassen können, welche Geschichten, Skandalgeschichten man über Jehovas Zeugen verbreitet hat, und dafür gibt es keinen Grund. Es ist gar keine Frage, dass sie überall in allen Subkulturen Deutschlands immer Einzelne finden. Stellen Sie sich vor, man würde bei der katholischen Kirche Missbrauch von Knaben nehmen, dann wäre diese Kirche ein für alle Mal unten durch – es sind Minderheiten.“ Sprecher: Besier beobachtet, dass die Zeugen Jehovas in Deutschland sich immer stärker aus dem bürgerlichen Milieu zusammensetzen. OT Besier: „Man könnte vielleicht sagen, es ist etwas kleinbürgerlich. Aber diese Leute leben ansonsten – abgesehen von ihrem Glauben – in der Mitte der Gesellschaft, das wird man sagen müssen. Sie sind sittenstrenger als unsereiner, (…). Sie legen großen Wert auf Familienleben, Scheidungen sind verpönt. (…) Und in dem, was sie lehren und sagen, besteht eine verblüffende Nähe zu Evangelikalen. Natürlich sind die auch gegen Abtreibungen und Ähnliches. Das ist alles begründet in diesem unmittelbaren Bibelverständnis. Mit historisch-kritischer Forschung haben die alle nichts im Sinn.“ Atmo Spaziergang Selters und OT Golec (im Gehen): „Ja, wir haben die Druckerei, hier rechts von uns, das ist das größte Gebäude. Sprecher: Der Ort Selters im Taunus 7 OT Golec: „Wo wir jetzt herkommen, das ist das Zentralgebäude. Da ist der Speisesaal und auch viele Büros drin.“ Sprecher: Hier liegt die Europazentrale der Zeugen Jehovas. Ein Spaziergang mit dem Ehepaar Golec über das weitläufige Gelände. OT Golec: „Und dann haben wir noch neun Wohngebäude, in denen dann die circa 900 Leute wohnen.“ Sprecher: Andreas Golec und seine Frau Tabitha wohnen seit zwei Jahren in Selters. Ihre Wohnung liegt in einem der großen, braunen Klinkerhäuser. Atmo Eintritt in Wohnung… [Andreas]: Schritte, Türöffnen… „Herein!“… Sprecher: Rund 1.000 der deutschlandweit etwa 180.000 Zeugen Jehovas leben und arbeiten in Selters. Sie dienen, sagen die Zeugen. Ein Gehalt gibt es nicht. Dafür ein bisschen Taschengeld, kostenlose Verpflegung und eine EinZimmerwohnung, wie die von Andreas und Tabitha Golec. Ein Bett, ein Schrank, Fernseher und Einbauküche, alles auf rund 20 Quadratmetern. OT Golec: „[Andreas]Es gibt auch noch drei ältere Häuser, wo auch 2Zimmerwohnungen zur Verfügung stehen, aber die meisten sind mit einem Zimmer.“ „[Tabitha]… und außerdem muss ich noch sagen, so ein kleines Zimmer hat echt Vorteile, man muss nicht so viel putzen.“ Sprecher: Der Dienst in Selters ist freiwillig oder man wird zum Dienst gerufen, so wie das Ehepaar Golec. Wie lange sie noch bleiben, wissen sie nicht. Ihr Tagesablauf ist klar geregelt. OT Golec: „[Andreas] Man darf sich das nicht so wie im Kloster vorstellen, dass das ein komplett anderes Leben ist wie draußen. Wir führen hier auch ein ganz normales Leben, nur dass es eben zusammen mit anderen Zeugen ist.“ „[Tabitha]Das Frühstück ist um 7 Uhr und ein Teil von der Bethel-Familie isst im Speisesaal und die anderen essen zu Hause auf dem Zimmer, aber da gibt es einen Fernseher, da wird es übertragen. Weil da gibt es jeden Morgen extra ein biblisches Programm noch, wo wir zusammen Bibel lesen. Das heißt, das macht man eigentlich wie als Familie zusammen. Und Mittagessen können wir auch alle zusammen im Speisesaal essen und abends ist dann jeder auf seinem Zimmer. Und im Prinzip, was sich hier unterscheidet, ist, dass man hier wirklich den ganzen Tag damit beschäftigt ist, was für Gott zu tun.“ Musik-Akzent mit echohaften Satzfetzen: „Der Dienst in Selters ist freiwillig…ein ganz normales Leben…wie als Familie zusammen…den ganzen Tag was für Gott zu tun.“ OT Rolf: „Die ersten fünf Jahren waren euphorisch.“ 8 Sprecher: Ricarda Rolf lässt sich in den achtziger Jahren als Zeugin Jehovas taufen. OT Rolf: „Ich bin also mit großer Begeisterung von Haus zu Haus gegangen mit dem Anspruch möglichst viele Menschen retten zu wollen.“ Sprecher: Aber nach ein paar Jahren verfliegt die Euphorie. OT Rolf: „Meine beiden ältesten Kinder kamen dann in die Pubertät. Und haben die ersten Zweifel gehabt. Besonders mein ältester Sohn als er so 13 war. Und er hat gefragt: Mama, das kann doch so nicht sein, das kann doch gar nicht stimmen.“ Sprecher: Erst steigen die Kinder aus, dann Ricarda Rolfs Ehemann und schließlich auch sie selbst. OT Rolf: „Als wir eingestiegen sind, haben sich Verwandte Freunde langjährige Klassenkameraden von uns abgewandt, weil sie mit den Zeugen Jehovas nichts zu tun haben wollten. Das heißt, ich habe einmal komplett mein soziales Umfeld verloren. Und das passiert dann beim Ausstieg noch einmal. Also ich baue mir ja dann über viele Jahrzehnte meine Kontakte innerhalb der Zeugen Jehovas auf und habe nur Freunde, die Zeugen Jehovas sind. Und wenn ich dann aussteige, verliere ich die noch einmal. Das heißt, ich bin zwei Mal völlig sozial isoliert. Und das ist das Schlimme.“ Sprecher: Rolf betreibt heute eine Aussteiger-Beratung im Internet, geht aktiv gegen die Zeugen Jehovas vor. Sie bereut ihre Zeit in der Religionsgemeinschaft – vor allem auch wegen ihrer Kinder. OT Rolf: „Kinder von Zeugen Jehovas dürfen sich an vielen Dingen nicht beteiligen. Sie sollen kein Teil der Welt sein. Sie bezeichnen alle Nicht-Zeugen Jehovas als Weltmenschen. Und das ist der Feind, das ist der, der mit Satan dem Teufel im Bunde ist. Und von daher sind die Möglichkeiten für ein Kind sich frei zu entfalten, sehr sehr stark eingeschränkt.“ Musikakzent Atmo Küche Familie Niestroj Sprecher: Zuhause bei Familie Niestroj in der pfälzischen Provinz. Felizitas, Mutter von sechs erwachsenen Kindern, deckt den runden Holztisch. Ihr Mann Wolfgang hat Eintopf gemacht. Die beiden Söhne Raimund und Alexander sind zu Besuch. Im Gegensatz zu ihren Eltern sind sie keine Zeugen Jehovas. OT Sohn Alexander: „Für mich gibt’s in der Hinsicht keinen höheren in dem Fall Jehova oder Gott; für mich zählt nur die Eltern über mir.“ 9 OT Sohn Raimund: „Es musste sich auch nie einer von uns dafür rechtfertigen. Also warum er das nicht möchte. Weil es auch von den Eltern her nie einen Druck gab oder einen Zwang, dass wir in diese Richtung tendieren müssen.“ OT Mutter: „Also eine gewisse Trauer ist da schon dabei. Aber mein Mann und ich wir möchten ja weiterhin mit unseren Kindern liebevoll verbunden bleiben und da gehört gegenseitiger Respekt dazu. Sie respektieren unseren Lebensweg und wir respektieren ihren Lebensweg. So kann das gut gehen.“ OT Vater: „Wenn ich den Lebensweg meiner Kinder betrachte, es gibt natürlich Dinge, die anders gelaufen wären, wenn sie auch Zeugen geworden wären. Sie hätten sich nicht so viel mit Schmerzen durchbohrt. Ich will jetzt nicht ins Detail gehen...“[Sohn Raimund:] „Ja, er meint mit meiner Scheidung, das war ne schwere Zeit…“[Vater:] „Meine jetzt nicht die Scheidung, egal. Aber auch die Scheidung, viele Zeugen lassen sich heute scheiden, das ist klar. Davor ist keiner gefeit.“ Musikakzent mit echohaften Satzfetzen: „Die ersten fünf Jahre waren euphorisch…Mama, das kann doch gar nicht stimmen…Kinder von Zeugen Jehovas…als Eltern das wünscht, dass die Kinder einem im Glauben folgen…Wenn sie Zeugen Jehovas wären....sie hätten sich nicht so viel mit Schmerzen durchbohrt.“ Sprecher: Zurück in der Europazentrale der Zeugen Jehovas. Wer in Selters arbeitet, ist meist entweder in der Verwaltung tätig oder arbeitet in der großen Druckerei. Atmo Druckereimaschinen Sprecher: Mehrere Millionen Wachtturm-Exemplare werden hier gedruckt – für gerade einmal acht Millionen Zeugen Jehovas weltweit. Der Wachtturm ist die weitverbreitetste Zeitschrift der Welt. Die Missionstätigkeit der Zeugen Jehovas ist enorm, auch im Internet. Den Wachtturm gibt es digital in hunderten Sprachen, dazu unzählige Bibelübersetzungen, und die Website der Zeugen Jehovas, JW.org, ist die meistübersetzte Website der Welt. OT Krüger: „Was wir jetzt sehen ist eigentlich der größte Medienumbruch, den es bei den Zeugen Jehovas seit Bestehen gab.“ Sprecher: Religionswissenschaftler Oliver Krüger befasst sich intensiv mit der Mediennutzung der Zeugen Jehovas. OT Krüger: „Was wir seit zwei Jahren erleben, ist eben eine neue Sichtbarkeit des governing bodys, die bis vor wenigen Jahren, ich würde sagen, von einigen Zeugen Jehovas Gemeinden als weitestgehend anonym wahrgenommen wurde. Und jetzt gibt es monatliche Fernsehsendungen über jw.org, wo einzelne Mitglieder des governing body zu verschiedenen Themen 10 und auch einzelnen Ereignissen aus der weltweiten Gemeinschaft berichten. Und das ist jetzt absolut neu.“ Sprecher: Die neuen Medien werden nicht nur genutzt, sie verändern auch die Zeugen selbst. OT Krüger: „Während früher es klar war, dass die Ältesten wirklich auch die Ältesten waren, werden grade auch mit dem Medienumbruch, neue Kompetenzen und dann auch neue Generationen mit ihren Expertisen, mit ihren Spezialitäten verlangt. Und wir hatten mehrere Gemeinden, wo auch unter 40jährige schon zu Ältesten gewählt wurden, und die bringen natürlich auch durch ihre Generation wieder ganz andere Fragen, Standpunkte und Bewegung in die Gemeinden hinein.“ Atmo Musik Versammlung Koblenz [5 Sek. frei, dann Sprecher drüber] Sprecher: Bei der Wochenend-Zusammenkunft in Koblenz. Es fällt auf, wie viele Zeugen Jehovas während der Versammlung Computer oder Smartphone nutzen. Auch Ingo Fey hat sein Tablet dabei: OT Ingo Fey: „…also hier sind übrigens die ganzen Sprachen, in denen es diese App gibt. Des sind mittlerweile 110. Nur die App. Sind alles auch andere Bibelübersetzungen, die man also auch hier dann über diese App runterladen kann.“ OT Oliver Krüger: „Ich glaube, die Öffnung gegenüber dem Internet hat gezeigt, dass man im governing body, also in der Leitenden Körperschaft, hat gezeigt, dass man das Internet, also die Welt da draußen, nicht ignorieren kann, sondern dass man sich mit ihr auseinandersetzen kann, aber auch muss. Und das hat eigentlich in allen religiösen Gemeinschaften, die wir so betrachten in den letzten fünfzig, sechzig Jahren immer zu einer größeren Dynamik, zu einer größeren Diskussion auch mit Blick auf die globale Gemeinschaft der Zeugen Jehovas geführt, oder das kann man erwarten.“ Musikakzent [Sprecher drüber] Sprecher: Werden sich die Zeugen Jehovas also weiter öffnen? Ihre Kritiker und viele Aussteiger werfen den Zeugen Jehovas immer noch vor, eine restriktive Organisation zu sein, streng regiert von der Leitenden Körperschaft in den USA. Die Zeugen Jehovas wiederum fühlen sich falsch verstanden, sehen sich unfair behandelt. Der Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts hat die Gemeinschaft bereits dazu gezwungen, sich in einigen Bereichen zu öffnen. Umgekehrt haben die Zeugen Jehovas genau davon profitiert. Während die großen Kirchen stetig Mitglieder verlieren, wachsen die Zeugen Jehovas, zwar auf niedrigem Niveau, aber stetig. Fin. 11
© Copyright 2025 ExpyDoc