Für Erdogan schlägt die Stunde der Rache - lu

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AKTUELL
17. Juli 2016
Für Erdogan schlägt
die Stunde der Rache
Ankara und Istanbul erholen sich von Stunden brutaler
Gewalt. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan nutzt den
Sieg über die Putschisten, um seine Macht auszubauen.
FRANK NORDHAUSEN AUS ISTANBUL
D
a schlägt ein bärtiger
Mann wie wild mit seinem
Gürtel auf Soldaten ein,
die sich gerade auf der BosporusBrücke «ergeben» haben und nun
vor ihm knien. Noch schrecklicher der Anblick eines Soldaten
auf dem Boden, dessen Kopf offenbar abgetrennt wurde. Die Fotos zeigen die Rache der Sieger
einer Nacht, in der das türkische
Militär zum fünften Mal gegen
eine demokratisch gewählte Regierung putschte – und verlor.
In Istanbul sehen sich die Leute die Bilder am Tag auf ihren
Smartphones an; sie bleiben erstaunlich ungerührt. «Es ist vorbei, wir haben gewonnen», sagt
eine Frau. Doch es sind deutlich
weniger Menschen auf der
Strasse als sonst, nur am Denkmal für Republikgründer Atatürk
stehen 30 Männer mit roten türkischen Fahnen und skandieren
den Namen des Staatspräsidenten: «Recep Tayyip Erdogan!»
Noch immer überschlagen sich
die Meldungen: Die Agenturen
melden 265 Tote und mehr als
1400 Verletzte, fast 3000 Militärs sollen festgenommen worden sein. Der von den Putschisten festgesetzte Leiter
des General-
Putsch mit Panzerkraft: In Ankara
blockierten die Erdogan-Gegner
wichtige Strassen.
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Fotos: Getty Images, Keystone
wesen. Sie betreibt eigene Schulen
und sichert sich so ihren Einfluss.
2013 hat sich Erdogan mit Gülen
angelegt. Womöglich ist dieser
Putschversuch die Folge davon.
Wie ich über Erdogan und den
Putsch denke? Ich finde es schwierig, die Situation zu beurteilen.
Schliesslich habe ich mein ganzes
Leben in der Schweiz verbracht.
Was ich sagen kann: Gewalt kann
nicht der richtige Weg sein. Ein
Machtwechsel müsste demokratisch erfolgen.
Inzwischen hat sich die Lage in
unserem Quartier normalisiert. Es
hat Autos und Taxis auf der Strasse.
Fast wie an einem ganz normalen
Samstag.» l
stabs Hulusi Akar
Die AKP-Regierung
(64) ist befreit, sieben
nutzte den Putschvertürkische Soldaten
such umgehend für
und ein Zivilist setzeine Säuberung des
ten sich per MilitärJustizapparats von
helikopter nach Griemutmasslichen Gegchenland ab und benern, die sie zumeist
antragten politisches
den Fethullahisten
Asyl. Die Türkei verzurechnet.
2745
langt die sofortige
Richter wurden susAuslieferung
der Der Prediger Fethullah pendiert. MinisterGülen gilt als Erdogans präsident Binali Yil«Verräter».
Der mutmassliche mächtigster Gegner.
dirim (60) erklärte,
Anführer der Putschisten, Oberst dass die Nation den Putschisten
Muharrem Köse, soll im März «die richtige Antwort» gegeben
entlassen worden sein – wegen habe. Im Parlament verurteilen
enger Verbindungen zu dem im alle Parteien den Putschversuch.
US-Exil lebenden moderaten IsDramatische Stunden liegen
lamprediger Fethullah Gülen hinter dem Land. Ein Teil des Mi(75). Erdogan (62) forderte die litärs, vorwiegend aus dem mittAuslieferung Gülens, den er noch leren Offizierskorps, versuchte
in der Nacht für den Putschver- am späten Freitagabend, die
such verantwortlich gemacht hat- Kont­rolle zu übernehmen. Soldate. Der frühere Imam bestreitet ten sperrten die Bosporusbrücken
dies vehement. Dennoch will Wa- in Istanbul und besetzten den
shington gemäss US-Aussenminis- staatlichen TV-Sender TRT Türk.
ter John Kerry dessen Ausliefe- In Ankara schoss ein Kampfjet eirung an die Türkei prüfen. Am nen Polizeihelikopter ab, Panzer
Samstagmorgen fordert ein feuerten aufs ParlamentsgebäuSprecher der islamisch-konser- de, Zivilisten wurden getötet.
vativen Regierungspartei AKP
Nach Mitternacht meldete sich
für die Putschoffiziere die Todes- Erdogan per Facetime-Telefonat.
strafe, obwohl die in der Türkei Er wirkte panisch, als er seine
seit über zehn Jahren abgeschafft Landsleute aufrief, sich den Putist.
schisten entgegenzustellen.
Als er gegen vier Uhr morgens
im Präsidentenjet auf dem Atatürk-Flughafen in Istanbul landete und eine Pressekonferenz
abhielt, war Erdogan wieder so
maskenhaft selbstbewusst wie
gewohnt. Offenbar glaubte er,
die Lage unter
Kontrolle zu
Am Samstag wendet sich
Erdogan an seine Anhänger und verspricht, das
Militär radikal zu säubern.