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Sarah Waters
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Sarah Waters
F REMDE
Roman
GÄSTE
Aus dem Englischen
von Ute Leibmann
Lübbe
Dieser Titel ist auch als E-Book erschienen
Titel der englischen Originalausgabe:
»The Paying Guests«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2014 by Sarah Waters
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG , Köln
Umschlaggestaltung: Massimo Peter
Einband-/Umschlagmotiv: © Arcangel/Nic Skertena
Satz: Dörlemann Satz, Lemförde
Gesetzt aus der Celeste
Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-7857-2565-8
54321
Sie finden uns im Internet unter: www.luebbe.de
Bitte beachten Sie auch: www.lesejury.de
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Für Judith Murray,
in Liebe und Dankbarkeit
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Erster Teil
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ie Barbers hatten angekündigt, dass sie gegen drei kommen wollten. Es ist, als würde
man auf den Beginn einer Reise warten, dachte
Frances. Ihre Mutter und sie hatten den ganzen Vormittag
immer wieder angespannt auf die Uhr geschaut. Gegen halb
drei hatte Frances noch einmal wehmütig die Zimmer durchgewischt – zum letzten Mal, wie sie glaubte –, anschließend
hatte sie versucht, sich innerlich für das zu rüsten, was da
kommen würde, darauf war eine Phase zunehmender Ernüchterung gefolgt, und nun, um beinahe fünf Uhr, war sie
schon wieder hier und lauschte dem Widerhall ihrer eigenen
Schritte. Sie verspürte keinerlei Sympathie für die karg möblierten Zimmer und wartete nur noch ungeduldig darauf, dass
das Ehepaar endlich ankam und einzog, damit sie es hinter
sich hatten.
Sie stand am Fenster des größten Raumes, der noch vor
Kurzem das Schlafzimmer ihrer Mutter gewesen war und jetzt
den Barbers als Wohnzimmer dienen würde, und blickte auf
die Straße hinaus. Es war ein sonniger, aber diesiger Nachmittag. Der Wind wehte kleine Staubwolken vom Bürgersteig
und der Straße auf. Die stattlichen Villen auf der anderen
Straßenseite starrten ihr mit sonntäglicher Leere entgegen –
doch das taten sie eigentlich an jedem Tag der Woche. Hinter
der nächsten Straßenecke befand sich ein größeres Hotel, und
gelegentlich kamen Autos und Pferdedroschken auf ihrem
Weg dorthin durch diese Straße; manchmal spazierten auch
Leute am Haus vorbei, vielleicht um frische Luft zu schnappen. Doch alles in allem blieb Champion Hill eher für sich. Die
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Häuser hatten große Gärten mit dicht belaubten Bäumen. Man
würde niemals vermuten, dass gleich am Fuße des Hügels das
schäbige Camberwell lag. Und man konnte sich erst recht nicht
vorstellen, dass nur ein paar Kilometer weiter nördlich London
war, Glanz und pralles Leben.
Sie hörte ein Motorengeräusch und wandte den Kopf. Ein
Lieferwagen näherte sich dem Haus. Das konnten sie doch
wohl nicht sein? Sie hatte mit einem Pferdewagen gerechnet
oder sogar damit, dass das Ehepaar zu Fuß ankommen würde.
Aber tatsächlich: Der Lieferwagen hielt mit ohrenbetäubend
quietschenden Bremsen am Straßenrand, und jetzt konnte sie
auch die Gesichter in der Fahrerkabine ausmachen, die zu ihr
emporschauten: der Fahrer, Mr Barber und in der Mitte zwischen beiden Mrs Barber. Plötzlich fühlte sie sich hinter ihrer
Fensterscheibe wie auf einem Präsentierteller und hob zaghaft lächelnd die Hand zu einem Gruß.
Dann ist es nun also so weit, sagte sie sich, das Lächeln immer noch im Gesicht festgefroren.
Es war ganz und gar nicht wie der Beginn einer Reise, eher
wie das Ende, wenn man gar nicht aus dem Zug aussteigen
will. Widerstrebend verließ sie ihren Platz am Fenster, ging
die Treppe hinunter in die Eingangshalle und rief mit übertriebener Fröhlichkeit in den Salon: »Sie sind da, Mutter!«
Während sie die Vordertür öffnete und auf die Vortreppe hinaustrat, waren die Barbers aus dem Lieferwagen gestiegen
und schon damit beschäftigt, ihre Sachen von der Ladefläche
herunterzuholen. Der Fahrer, ein junger Mann, half ihnen dabei. Genau wie Mr Barber trug er einen Blazer und einen gestreiften Schlips. Er hatte auch ein ähnlich schmales Gesicht
und leger frisiertes Haar ohne Pomade, sodass Frances einen
Moment lang unsicher war, bei welchem der beiden Männer es
sich eigentlich um Mr Barber handelte. Sie war dem Ehepaar
erst ein Mal begegnet, an einem regnerischen Aprilabend vor
knapp zwei Wochen, und da war der Ehemann direkt aus dem
Büro gekommen und hatte Regenmantel und Melone getragen.
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Doch jetzt erinnerte sie sich wieder an seinen rötlichen
Schnauzbart und den rotgoldenen Ton seiner Haare. Der
andere Mann hatte blondes Haar. Die Ehefrau, die beim letzten Mal eher schlicht und unscheinbar gekleidet gewesen
war, trug nun einen fransenbesetzten Rock und einen dunkelroten Pullover. Der Rocksaum endete bestimmt fünfzehn Zentimeter oberhalb ihrer Knöchel. Der Pullover war
lang, und obwohl er keineswegs eng anlag, betonte er doch
die Rundungen ihrer Figur. Ebenso wie die beiden Männer
trug sie keinen Hut. Ihr dunkles Haar war kurz geschnitten; vorn lockte es sich über ihre Wangen, im Nacken dagegen war es so kurz, dass es an eine raffiniert geschnittene
schwarze Kappe erinnerte.
Wie jung sie aussahen! Die Männer wirkten kaum älter
als Schuljungen, und dabei hatte Frances bei ihrer letzten Begegnung geschätzt, dass Mr Barber etwa in ihrem Alter war,
sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig. Mrs Barber hatte
sie auf dreiundzwanzig geschätzt. Jetzt war sie sich nicht mehr
so sicher. Während sie den gepflasterten Vorgarten durchquerte, hörte sie ihre aufgeregten, sorglosen Stimmen. Sie hatten einen Schrankkoffer vom Wagen geladen und so unvorsichtig abgesetzt, dass Mr Barber sich dabei offensichtlich die
Finger eingeklemmt hatte. »Jetzt lach doch nicht!«, rief er seiner Frau gespielt vorwurfsvoll zu. Da erinnerte sie sich wieder
an ihren aufgesetzt kultivierten Akzent, der klang, als hätten
sie ihn mühevoll in der Sprecherziehung eingeübt.
Mrs Barber ergriff seine Hand. »Lass mal sehen. Ach, da ist
doch gar nichts!«
Er zog die Hand wieder zurück. »Ja, jetzt ist da nichts. Aber
warte mal ein paar Minuten ab. Menschenskind, das tut vielleicht weh!«
Der andere Mann rieb sich die Nase. »Seht mal.« Er hatte
Frances am Gartentor erblickt. Die Barbers wandten sich, immer noch lachend, um, sodass es plötzlich schien, als gelte das
Gelächter ihr, was nicht sehr angenehm war.
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»Da sind Sie ja«, sagte sie und trat zu den dreien auf den
Bürgersteig hinaus.
Mr Barber, immer noch halb lachend, erwiderte: »Ja, da
sind wir! Und wie man sieht, schaden wir schon dem Ansehen
der Straße!«
»Ach, das erledigen meine Mutter und ich schon.«
Mrs Barber sprach mit größerer Ernsthaftigkeit. »Es tut
uns leid, dass wir erst so spät kommen, Miss Wray. Ich weiß
gar nicht, wo die Zeit geblieben ist. Sie haben doch hoffentlich nicht auf uns gewartet? Man könnte wirklich meinen,
wir wären aus dem nördlichsten Winkel Schottlands angereist.«
Tatsächlich waren sie aus Peckham Rye gekommen, keine
zwei Meilen entfernt. »Manchmal dauern die kürzesten Reisen eben am längsten«, sagte Frances.
»In der Tat«, stimmte Mr Barber zu. »Vor allem, wenn
Lilian dabei ist. Mr Wismuth und ich waren Punkt eins abfahrbereit. – Das ist übrigens mein Freund Charles Wismuth,
der uns netterweise den Lieferwagen seines Vaters zur Verfügung gestellt hat.«
»Ihr wart gar nicht fertig!«, rief Mrs Barber, während Mr
Wismuth grinsend vortrat und Frances die Hand schüttelte.
»Miss Wray, die beiden waren wirklich nicht fertig!«
»Wir haben doch längst auf dich gewartet, während du immer noch deine Hüte sortiert hast!«
»Wie auch immer«, sagte Frances, »nun sind Sie ja hier.«
Möglicherweise hatte ihr Tonfall ein wenig kühl geklungen. Die drei jungen Leute wirkten plötzlich, als habe man sie
gescholten, und mit einem Blick auf seinen verletzten Fingerknöchel begab sich Mr Barber wieder zur Ladefläche des Lieferwagens. Über seine Schulter hinweg gelang es Frances,
einen Blick auf das zu erhaschen, was sich im Wagen befand:
ein Durcheinander von prall gefüllten Koffern, ineinander
verhakten Stuhl- und Tischbeinen, etliche Bündel Bettzeug,
gerollte Teppichläufer, ein tragbares Grammofon, ein Vogelkä12
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fig aus Weidenrohr, ein bronzeglänzender Aschenbecher auf
einem Marmorständer. Die Vorstellung, dass alle diese Gegenstände gleich in ihr Haus getragen würden – und dass diese
Leute, die nicht ganz dem Ehepaar aus ihrer Erinnerung entsprachen, die jünger und unbesonnener waren, sie gleich hereintragen und aufstellen und sich darin häuslich einrichten
würden –, diese Vorstellung löste einen Moment lang Panik in
ihr aus. Was um alles in der Welt hatte sie nur getan? Plötzlich
hatte sie das Gefühl, als öffnete sie Dieben und Eindringlingen
das Haus.
Aber es gab ja keine andere Lösung, um das Haus überhaupt zu halten. Mit einem entschlossenen Lächeln trat sie
zum Lieferwagen und bot ihre Hilfe an.
Die Männer wollten jedoch nichts davon wissen. »Kommt
gar nicht infrage, Miss Wray.«
»Nein, wirklich, das ist nicht nötig«, versicherte auch Mrs
Barber. »Len und Charlie kümmern sich darum. Es ist ja auch
kaum was zu tun.« Dabei betrachtete sie die Gegenstände, die
sich um sie herum sammelten, und tippte sich nachdenklich
mit dem Finger an den Mund.
Nun erinnerte sich Frances wieder an diesen Mund: ein
Mund, der, wie sie für sich gedacht hatte, mehr aus dem Außen als einem Innen zu bestehen schien. Heute trug er einen
Hauch Farbe, den sie beim letzten Mal nicht gesehen hatte,
und jetzt fiel ihr auch auf, dass Mrs Barbers Augenbrauen
schmal und in Form gezupft waren. Diese modischen Details
verstärkten noch ihr Gefühl der Unsicherheit; sie kam sich altjüngferlich vor mit ihren hochgesteckten Haaren, dem kantigen Körper und der Bluse, die sie in den Rock mit der hochgeschnittenen Taille gesteckt hatte, wie es zu Kriegszeiten
Mode gewesen war. Schließlich war der Krieg schon seit vier
Jahren vorüber. Als sie sah, wie Mrs Barber, ein Tablett voller Zimmerpflanzen im Arm, mühsam versuchte, ihre Hand
durch den Griff einer Basttasche zu schieben, sagte sie: »Lassen Sie mich wenigstens die Tasche tragen.«
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»Oh, das schaffe ich schon.«
»Also, irgendwas kann ich wirklich tragen.«
Schließlich bemerkte sie, dass Mr Wismuth ihr den hässlichen Standaschenbecher aus dem Wagen reichte. Sie nahm
ihn entgegen, ging damit durch den Vorgarten und hielt die
Haustür auf. Mrs Barber folgte ihr vorsichtig die Treppen zum
Eingang hinauf.
Auf der Schwelle zögerte sie jedoch einen Moment, schaute
an dem Farnkraut auf ihren Armen vorbei in die Eingangshalle und lächelte.
»Es ist genauso hübsch, wie ich es in Erinnerung habe.«
Frances wandte sich um. »Tatsächlich?« Wenn sie sich umblickte, schrie ihr von überall nur Unaufrichtigkeit entgegen:
die Schrammen und Risse im Putz, die sie mühevoll übertüncht hatte, die kahle Stelle, vor der einmal die große Standuhr platziert gewesen war, die sie bereits vor sechs Monaten
hatten verkaufen müssen; der blank geputzte Gong, der schon
seit Jahren nicht mehr genutzt wurde, um zu den Mahlzeiten
zu rufen. Sie wandte sich zu Mrs Barber um, die immer noch
zögerlich an der Schwelle stand. »Treten Sie doch ein. Es ist
jetzt auch Ihr Haus.«
Mrs Barber hob die Schultern, biss sich auf die Lippen und
hob die Augenbrauen, um ihre freudige Erregung anzudeuten. Als sie vorsichtig in den Flur trat, traf ihr Absatz sofort
eine lose Fliese und setzte diese in Bewegung. Sie kicherte verlegen: »Ach du je!«
Frances’ Mutter tauchte an der Tür zum Salon auf. Vermutlich hatte sie gleich dahinter gewartet und sich innerlich auf
ihren Begrüßungsauftritt vorbereitet.
»Herzlich willkommen, Mrs Barber«, grüßte sie mit einem
Lächeln. »Was für hübsche Pflanzen! Das ist doch Tüpfelfarn,
nicht wahr?«
Mrs Barber manövrierte Tablett und Tasche so in eine
Hand, dass sie ihr die andere reichen konnte. »Ich muss gestehen, ich habe keine Ahnung.«
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»Ich glaube schon. Es ist Tüpfelfarn – wirklich hübsch. Haben Sie gut hierhergefunden?«
»Ja, danke. Es tut uns leid, dass wir so spät dran sind.«
»Ach, das macht doch nichts. Die Zimmer laufen Ihnen ja
nicht weg. Jetzt müssen wir Ihnen unbedingt erst mal einen
Tee anbieten.«
»Oh, machen Sie sich bitte keine Mühe.«
»Aber Sie müssen einen Tee trinken. Man hat doch immer
gern Tee, wenn man umzieht, und dann kann man die Kanne
nicht finden. Ich bereite etwas vor, während meine Tochter Ihnen oben alles zeigt.« Sie betrachtete mit zweifelndem Blick
den Aschenbecher. »Du hilfst auch mit, Frances?«
»Es erschien mir nur recht, da Mrs Barber so schwer beladen war.«
»Aber nein, Sie brauchen wirklich nicht zu helfen«, sagte
Mrs Barber, kicherte wieder nervös und fügte hinzu: »Das
wäre wirklich zu viel verlangt.«
Frances, die vor ihr die Treppen emporstieg, dachte: Wie
sie lacht!
Am oberen Treppenabsatz angekommen, mussten sie
wieder kurz innehalten. Die Tür zu ihrer Linken war geschlossen – sie führte in Frances’ Schlafzimmer, das einzige
Zimmer im Obergeschoss, über das sie und ihre Mutter noch
verfügen würden –, doch alle anderen Türen standen offen,
und das sattgelbe Licht der Nachmittagssonne fiel durch die
beiden Zimmer an der Frontseite des Hauses bis fast zum
Treppenflur. Es zeigte unbarmherzig die Risse in den Teppichen, hob aber zugleich den Glanz des Regency-Parketts hervor, das Frances in dieser Woche mehrere Vormittage lang
mit gebeugtem Rücken gebohnert hatte, bis es leuchtete
wie dunkler Toffee. Mrs Barber zögerte, die polierten Dielen
mit ihren hochhackigen Schuhen zu überqueren. »Das macht
nichts«, sagte Frances. »Die Oberfläche wird ohnehin bald
wieder stumpf.« Doch Mrs Barber erwiderte entschlossen:
»Nein, ich will das Parkett nicht verderben«, stellte ihre Ta15
sche und das Tablett mit den Pflanzen auf den Boden und
streifte die Schuhe ab.
Sie hinterließ kleine feuchte Fußabdrücke auf dem Wachs.
Ihre Strümpfe waren schwarz, am dunkelsten im Zehen- und
Fersenbereich, wo die Seide mit aparten kleinen Verstärkungen versehen war. Während Frances in der Tür stehen blieb,
betrat Mrs Barber das größte der Zimmer, wo sie sich genauso
aufmerksam und anerkennend umblickte wie im Eingangsflur und jedem antiken Detail ein wohlwollendes Lächeln
schenkte.
»Was für ein hübsches Zimmer! Es kommt mir sogar noch
größer vor als beim letzten Mal. Len und ich werden uns darin
verlaufen! Bis jetzt hatten wir doch nur unser Schlafzimmer
bei seinen Eltern. Und deren Haus ist – nun ja – nicht wie dieses hier.« Sie ging durch das Zimmer zum linken Fenster, dem
Fenster, an dem Frances noch vor ein paar Minuten gestanden
hatte, und hielt die Hand zum Schutz gegen die Sonne vor die
Augen. »Sehen Sie nur, wie schön die Sonne scheint. Beim
letzten Mal, als wir hier waren, war es ganz bedeckt.«
Frances trat neben sie. »Ja, in diesem Zimmer hat man am
meisten Sonne. Ich fürchte bloß, der Ausblick ist nichts Besonderes, obwohl wir so weit oben sind.«
»Aber man kann doch ein bisschen Grün zwischen den
Häusern hindurch sehen.«
»Zwischen den Häusern, ja. Und wenn Sie nach Süden
schauen – da runter …«, sie deutete mit der Hand in die entsprechende Richtung, »dann können Sie die Türme vom
Chrystal Palace sehen. Sie müssen näher an die Scheibe kommen … Können Sie sie jetzt sehen?«
Einen Moment lang standen sie dicht nebeneinander, Mrs
Barbers Gesicht berührte fast die Scheibe, ihr Atem beschlug
das Glas. Ihre Augen unter den dunklen Wimpern blickten
suchend in die Ferne und verharrten dann. »Oh ja, da!« Sie
klang entzückt.
Doch im nächsten Moment trat sie einen Schritt zurück,
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blickte auf die Straße hinunter und sagte mit gutmütigem
Spott in der Stimme: »Da, schauen Sie sich nur Len an – wie
der herumjammert! Er ist richtig schwächlich!« Sie klopfte gegen die Scheibe und rief gestikulierend nach unten: »Lass
Charlie das lieber tragen! Komm rauf und schau dir die Sonne
an! Die Sonne. Siehst du nicht? Die Sonne!« Sie ließ die Hand
sinken. »Er kann mich nicht hören. Egal. Wie komisch es ist,
unsere Sachen da stehen zu sehen. Richtig armselig sieht das
aus – wie auf einem Flohmarkt! Was mögen sich bloß Ihre
Nachbarn denken, Miss Wray?«
Ja, was mochten die sich denken? Frances konnte schon
die neugierige Mrs Dawson von gegenüber sehen, die so tat,
als richtete sie etwas an der Verriegelung des Wohnzimmerfensters. Und da war auch Mr Lamb, der in High Croft ein
Stück hügelabwärts wohnte. Er hielt in seinem Spaziergang
inne und betrachtete verwirrt die prall gefüllten Koffer, die
verbeulten Blechkisten, die Taschen, Körbe und Teppichläufer,
die Mr Barber und Mr Wismuth der Bequemlichkeit halber an
die niedrige Gartenmauer gelehnt hatten.
Sie sah, wie die beiden Männer ihm zunickten, und hörte
sie grüßen. Mr Lamb zögerte und konnte sie offenbar nicht
recht einordnen, vielleicht wegen ihrer gestreiften Krawatten.
»Wir sollten helfen gehen«, schlug sie vor.
Mrs Barber erwiderte: »Ja, ich gehe schon.«
Doch als sie das Zimmer verlassen hatte, ging sie nicht
nach unten, sondern schlenderte in das benachbarte Schlafzimmer. Und von dort aus betrat sie das letzte Zimmer, das
kleine Hinterzimmer, das gegenüber von Frances’ Schlafzimmer an der Biegung der Treppe lag. Frances und ihre Mutter
nannten diesen Raum immer noch »Nellys und Mabels Zimmer«, obwohl dort seit 1916 weder Nelly noch Mabel noch
irgendwelche anderen Hausmädchen gewohnt hatten, denn
alle waren damals in die Munitionsfabriken gegangen. Inzwischen war das Zimmer in eine Küche umgewandelt worden,
mit Anrichte und Spülbecken, mit Gasbeleuchtung und einem
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Gasofen sowie einem münzbetriebenen Gaszähler. Frances
hatte selbst die Tapete überstrichen und den Boden abgebeizt.
Den Küchenschrank und den Tisch mit der Aluminiumplatte
hatte sie aus der Spülküche im Erdgeschoss nach oben geschleppt, als ihre Mutter einmal unterwegs war und ihr nicht
dabei zuschauen konnte.
Sie hatte ihr Bestes getan, alles richtig zu machen. Doch als
sie jetzt sah, wie Mrs Barber umherging und alles in Besitz
nahm, wie sie überlegte, was hierhin und was dorthin sollte,
kam sie sich eigenartig überflüssig vor, so als sei sie ein Geist
ihrer selbst geworden. Verlegen sagte sie: »Ja, wenn Sie jetzt
alles haben, was Sie brauchen, werde ich mal nach dem Tee
schauen. Ich bin unten, falls es irgendwelche Probleme gibt.
Am besten kommen Sie gleich zu mir, wenn etwas ist, und
nicht zu meiner Mutter. Und … ach ja …« Sie hielt inne und
griff in ihre Tasche. »Die gebe ich Ihnen lieber jetzt gleich, ehe
ich es vergesse.«
Sie zog die Hausschlüssel aus der Tasche, zwei separate
Schlüsselbunde. Es kostete sie Überwindung, die Schlüssel
abzugeben, sie tatsächlich dieser Frau in die Hand zu legen –
dieser jungen Frau, einer nahezu völlig fremden Person, die
erst durch ein Inserat in der South London Press in ihr Leben
getreten war. Doch als Mrs Barber den Schlüssel entgegennahm, neigte sie den Kopf in einer Geste der Anerkennung,
die zeigte, dass sie die Tragkraft des Moments erkannte. Und
sie sagte mit überraschendem Zartgefühl: »Danke, Miss Wray.
Vielen Dank, dass Sie alles so hübsch hergerichtet haben. Ich
bin sicher, dass Leonard und ich uns hier sehr wohlfühlen
werden. Ja, das werden wir bestimmt. Ach ja, ich habe Ihnen
natürlich auch was mitgebracht«, fügte sie hinzu, während sie
die Schlüssel in ihre Basttasche räumte. Sie reichte ihr einen
zerknitterten braunen Umschlag.
Darin befand sich die Miete für zwei Wochen. Achtundfünfzig Schilling. Frances konnte schon das Knistern der Geldscheine und das Klimpern der Münzen hören. Sie bemühte
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sich um einen geschäftsmäßigen Gesichtsausdruck, während
sie den Umschlag von Mrs Barber entgegennahm und ihn
dann betont beiläufig in die Tasche steckte – als könne sie
dadurch den Eindruck vermitteln, dass das Geld eine reine
Formsache sei und nicht das Wesentliche, das Herzstück, der
schäbige Kern der ganzen Angelegenheit.
Während die Männer unten keuchend eine schwere Nähmaschine mit Tretkurbel vorbeischleppten, schlüpfte sie kurz
in den Salon, um einen raschen Blick auf das Geld zu werfen.
Sie löste die Gummierung des Umschlags – und da war es, das
ganze Geld, so wirklich, so ganz und gar ihres, dass sie am
liebsten die Lippen gesenkt und die Scheine geküsst hätte. Sie
faltete den Umschlag wieder zusammen, steckte ihn in die Tasche und ging mit beflügelten Schritten durch die Eingangshalle und den Flur in die Küche.
Ihre Mutter stand am Herd und hob gerade den Kessel
von der Kochplatte. Dabei hatte sie den leicht gehetzten Gesichtsausdruck, den sie immer bekam, wenn sie allein in der
Küche war, wie ein Passagier auf einem havarierten Kreuzfahrtschiff, den man gerade in den Maschinenraum gerufen
und damit beauftragt hat, die Druckluftanzeigen zu beaufsichtigen. Sie reichte den Kessel in Frances’ ruhigere Hände weiter
und machte sich daran, das Teegeschirr, Milchkännchen und
Zuckerdose zusammenzusuchen. Sie stellte drei Tassen mit
Untertassen auf ein Tablett für die Barbers und Mr Wismuth,
dann zögerte sie mit zwei weiteren Untertassen in der Hand.
Mit gesenkter Stimme fragte sie Frances: »Was meinst du,
sollten wir mit ihnen Tee trinken?«
Frances zögerte ebenfalls. Wie waren die Gepflogenheiten
in einem solchen Falle?
Ach, wen scherte das schon. Schließlich hatten sie das
Geld. Sie nahm ihrer Mutter die Untertassen ab. »Nein, damit
wollen wir lieber gar nicht erst anfangen. Nachher wird das
noch zur Gewohnheit. Wir bleiben im Salon, die können ihren
Tee oben bei sich trinken. Ich stelle ihnen noch einen Teller
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mit Keksen dazu.« Sie nahm den Deckel von der Keksdose
und wollte hineingreifen.
Doch dann zögerte sie wieder. War Gebäck wirklich notwendig? Sie legte drei Kekse auf einen Teller, stellte diesen neben die Teekanne – im nächsten Moment jedoch überlegte sie
es sich anders und nahm ihn wieder herunter.
Aber dann musste sie an die freundliche Mrs Barber denken, wie sie behutsam über den gebohnerten Boden gegangen
war; sie dachte an die raffiniert genähten Fersenverstärkungen ihrer Strümpfe – und stellte den Teller wieder auf das Tablett zurück.
Die Männer liefen eine weitere halbe Stunde die Treppen rauf
und runter, und danach konnte man längere Zeit hören, wie
Möbel über den Boden geschleift und Kisten und Koffer hinund hergeschoben wurden. Mitunter riefen sich die Barbers
von einem zum anderen Zimmer etwas zu, und einmal
dröhnte kurz laute Musik aus dem tragbaren Grammofon, woraufhin Frances und ihre Mutter sich entsetzt ansahen. Doch
um sechs machte sich Mr Wismuth auf den Heimweg, klopfte
kurz an die Salontür, um sich höflich zu verabschieden, und
nachdem er fort war, wurde es ruhiger im Haus.
Allerdings war deutlich zu spüren, dass das Haus nicht
mehr dasselbe war wie noch vor zwei Stunden. Frances und
ihre Mutter saßen mit ihren Büchern an der Flügeltür zum
Garten, um noch das letzte bisschen Tageslicht zu erhaschen,
denn in den letzten Jahren hatten sie sich solche kleinen Sparmaßnahmen angewöhnt. Doch über diesem Zimmer – einem
hübschen Raum, der sich über die gesamte Tiefe des Hauses
erstreckte und durch Doppeltüren unterteilt wurde, die sie im
Frühjahr und Sommer offen ließen – lagen zwei Zimmer der
Barbers, ihr Schlafzimmer und ihre Küche, und während
Frances die Seiten ihres Buches umblätterte, wurde sie sich
der Anwesenheit des Ehepaares über ihnen zunehmend bewusst, störend und ungewohnt wie ein Staubkorn im Auge.
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Eine Zeit lang gingen sie im Schlafzimmer auf und ab,
sie hörte, wie Schubladen geöffnet und wieder geschlossen
wurden. Doch dann betrat einer von ihnen die Küche, und
nach einer gezielten Pause erklang ein schepperndes Geräusch, wie das uhrwerkartige Schlucken eines Monsters aus
Metall. Ein Schluck, zwei Schlucke, drei Schlucke, vier. Sie
starrte verwirrt zur Decke empor, bis sie begriff, dass dort
oben Schillingstücke in den Zähler geworfen wurden. Kurz
danach hörte man Wasser laufen, und dann erklang ein weiteres eigenartiges Geräusch, eine Art Pulsieren oder Hecheln,
vermutlich wieder der Zähler, durch den nun das Gas lief.
Wahrscheinlich hatte Mrs Barber einen Kessel Wasser aufgesetzt. Nun war ihr Mann bei ihr. Man hörte gedämpfte
Stimmen und Gelächter … Frances ertappte sich bei dem Gedanken: Die fühlen sich offenbar ganz wie zu Hause.
Dann wurde ihr die Tragweite dieser Worte bewusst, und
ihre Stimmung sank.
Während sie in der Küche ein kaltes Abendbrot improvisierte, kam das Ehepaar herunter und klopfte an die Küchentür; zuerst sie, dann er: Die Toilette war draußen im Hof,
nur über die Hintertür zu erreichen, und sie mussten jedes
Mal die Küche durchqueren, um dorthin zu gelangen. Sie
verzogen entschuldigend das Gesicht, Frances entschuldigte
sich ebenfalls. Vermutlich war diese Gegebenheit den Barbers ebenso unangenehm wie ihr. Doch bei jeder neuerlichen
Begegnung nahm ihre Zuversicht ein bisschen mehr ab.
Selbst die achtundfünfzig Schilling in ihrer Tasche verloren
allmählich ihre Zauberkraft, und ihr schwante, wie hart sie
sich dieses Geld würde verdienen müssen. Sie war einfach
nicht auf den Anblick und die Geräusche der Barbers vorbereitet gewesen, die von Zimmer zu Zimmer gingen, als gehörte das Haus ihnen. Als Mr Barber beispielsweise von
seinem Besuch auf dem stillen Örtchen zurückkehrte, hörte
sie, wie er in der Eingangshalle stehen blieb. Sie fragte sich,
was ihn da wohl aufhalten könne, riskierte einen Blick in den
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Durchgangsflur zwischen Küche und Eingangshalle und sah,
dass er die Bilder an den Wänden musterte wie ein Museumsbesucher. Während er sich vorbeugte, um einen Kupferstich
der Kathedrale von Ripon aus der Nähe zu betrachten, griff er
in seine Hosentasche und zog ein Streichholz hervor, mit
dem er sich dann in aller Seelenruhe zwischen den Zähnen
herumstocherte.
Ihrer Mutter gegenüber ließ sie nichts von alldem verlauten. Sie hielten sich ungerührt an ihr gewohntes Abendprogramm, spielten nach dem Abendessen einige Partien
Backgammon, tranken um Viertel vor zehn jede eine Tasse
wässrigen Kakao und machten sich dann an ihre allabendliche
Runde – das Zusammenräumen, Falten, Aufschütteln, Zuziehen und Abschließen –, die das Zubettgehen einleitete.
Frances’ Mutter verabschiedete sich als Erste. Frances verbrachte noch einige Zeit in der Küche, räumte auf und kümmerte sich um den Herd. Sie ging zur Toilette, deckte den
Frühstückstisch; sie brachte die Milchkanne in den Vorgarten
und hängte sie neben das Gartentor. Doch als sie wieder im
Haus war und das Gaslicht im Flur herunterdrehte, sah sie,
dass unter der Schlafzimmertür ihrer Mutter noch ein Lichtschein hervordrang. Obwohl sie für gewöhnlich nicht mehr
zu ihrer Mutter hineinging, wenn diese sich für die Nacht zurückgezogen hatte, schien das Licht sie zu rufen. Sie klopfte an
die Tür.
»Darf ich reinkommen?«
Ihre Mutter saß aufrecht im Bett, die Haare gelöst und zu
Zöpfen geflochten, die herabhingen wie ausgefranste Seile.
Vor dem Krieg war ihr Haar braun gewesen, so sattbraun wie
Frances’ Haare, doch im Laufe der letzten Jahre war es immer stärker ausgeblichen und spröde geworden, und jetzt, mit
fünfundfünfzig Jahren, hatte sie das weiße Haupt einer alten
Dame. Einzig ihre Augenbrauen schwangen noch dunkel und
entschlossen über ihren hübschen nussbraunen Augen. Sie
hatte ein Buch auf dem Schoß, ein Reisebüchlein mit dem Ti22
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tel Kreuzworträtsel und andere Denksportaufgaben, und versuchte sich gerade an der Lösung eines Akrostichons.
Als Frances eintrat, ließ sie das Buch sinken und betrachtete sie über die Gläser ihrer Lesebrille hinweg.
»Alles in Ordnung, Frances?«
»Ja. Ich wollte bloß mal hereinschauen. Aber mach ruhig
mit deinem Rätsel weiter.«
»Ach, das ist nur ein bisschen Zeitvertreib, damit ich gleich
besser einschlafen kann.«
Doch sie blickte wieder auf die Seite herab, und anscheinend war ihr eine Lösung eingefallen, denn sie probierte das
Wort lautlos vor sich hin buchstabierend aus, während sie
den Stift über die Kästchen bewegte. Die ungenutzte Betthälfte neben ihr war flach wie ein Bügelbrett. Frances streifte
die Hausschuhe ab und legte sich darauf, die Hände hinter
dem Kopf verschränkt.
Dieses Zimmer war noch vor einem Monat das Esszimmer
gewesen. Frances hatte die alte rote Tapete überstrichen und
die Bilder umgehängt, doch genau wie bei der neu eingerichteten Küche im Obergeschoss war das Ergebnis nicht ganz zufriedenstellend. Die Schlafzimmermöbel ihrer Mutter standen so unbehaglich herum wie unwillkommene Besucher bei
einer Abendeinladung; es schien ihr, als sehnten sie sich nach
ihren gewohnten Dellen im Boden des oberen Zimmers. Zudem hatten einige Esszimmermöbel in diesem Raum bleiben
müssen, weil sich im Haus kein anderer Platz für sie fand, und
infolgedessen wirkte der Raum vollgestellt, irgendwie unzeitgemäß, und ließ – wenn auch nur vage – an das Krankenzimmer eines älteren Menschen denken. Es erinnerte sie an
die Besuche bei siechen Großtanten während ihrer Kindheit.
Eigentlich fehlt nur noch der schwache Geruch nach Nachtstuhl und eine Glocke, mit der sie die altjüngferliche Tochter
herbeiklingeln kann, dachte sie.
Schnell verdrängte sie dieses Bild wieder. Aus dem Obergeschoss konnte man hören, wie einer der Barbers durch das
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Wohnzimmer lief – Mr Barber, vermutete sie, nach dem forschen, kräftigen Klang der Schritte zu urteilen. Mrs Barbers
Gang klang gemessener. Sie schaute zur Zimmerdecke empor
und folgte den Schritten mit ihrem Blick.
Ihre Mutter blickte ebenfalls empor. »Ein Tag der Veränderungen«, sagte sie mit einem Seufzer. »Packen sie immer noch
aus? Wahrscheinlich sind sie ganz aufgeregt. Ich kann mich
noch erinnern, wie dein Vater und ich hier eingezogen sind,
damals waren wir auch ganz aufgeregt. Das Haus scheint ihnen zu gefallen, meinst du nicht?« Sie senkte die Stimme.
»Das ist ja immerhin etwas.«
Frances erwiderte in ebenfalls gedämpftem, beinahe verschwörerischem Tonfall: »Ihr jedenfalls gefällt es, sie scheint
ihr Glück kaum fassen zu können. Bei ihm bin ich mir da nicht
so sicher.«
»Es ist ja auch ein schönes altes Haus. Ein eigener Hausstand – das ist viel wert, wenn man frisch verheiratet ist.«
»So ganz frisch verheiratet sind sie doch eigentlich nicht,
oder? Haben sie nicht gesagt, dass sie schon seit drei Jahren
verheiratet sind? Gleich nach dem Krieg, nehme ich an. Aber
Kinder haben sie nicht.«
Der Tonfall ihrer Mutter änderte sich beinahe unmerklich.
»Nein.« Und einen Moment später, so als ob der eine Gedanke
unweigerlich zum nächsten führte, fügte sie hinzu: »Ein Jammer, dass die jungen Frauen von heute alle meinen, sie müssten sich schminken.«
Frances nahm das Buch in die Hand und betrachtete das
Akrostichon. »Ja, das ist es. Und noch dazu an einem Sonntag!«
Sie spürte den prüfenden Blick ihrer Mutter. »Denk bloß
nicht, dass ich es nicht merke, wenn du dich über mich lustig
machst, Frances!«
Im Obergeschoss lachte Mrs Barber. Irgendein leichter Gegenstand fiel herunter oder wurde auf den Boden geworfen
und rutschte über das Parkett. Frances gab die Beschäftigung
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mit dem Rätsel auf. »Was glaubst du, aus welchen Verhältnissen sie wohl kommt?«
Ihre Mutter klappte das Buch zu und legte es beiseite.
»Wer?«
Sie deutete mit dem Kinn nach oben. »Na, Mrs B. natürlich.
Ich könnte mir vorstellen, dass ihr Vater so eine Art Filialleiter
ist, oder? Die Mutter ist wahrscheinlich sehr bemüht, zu
Hause hören sie »Indian Love Lyrics« auf dem Grammofon.
Vielleicht hat sie noch einen Bruder, der es in der Handelsmarine zu was gebracht hat. Klavierunterricht für die Mädchen. Einmal im Jahr ein Ausflug in die Royal Academy.« Sie
gähnte, verbarg das Gähnen hinter ihrem Handrücken und
fuhr fort: »Ein Gutes hat es ja, dass sie so jung sind! Sie können uns nur mit dem Leben bei seinen Eltern vergleichen. Sie
werden nicht merken, dass wir keine Ahnung von dem haben, was wir hier machen. Solange wir unsere Rolle als Hauswirtinnen überzeugend spielen, wird man sie uns auch abnehmen.«
Ihre Mutter zog ein gequältes Gesicht. »Musst du das denn
so drastisch formulieren? Man könnte meinen, du wärest die
Pensionswirtin vom ›Haus Meerblick‹ in Worthing.«
»Aber es ist doch keine Schande, Hauswirtin zu sein, jedenfalls nicht in der heutigen Zeit. Ich für meinen Teil habe
vor, als Hauswirtin mein Bestes zu geben.«
»Wenn du nur dieses Wort nicht dauernd benutzen würdest!«
Frances musste lächeln. Doch ihre Mutter zupfte nervös
an der seidenen Einfassung der Bettdecke herum, und ihr Gesicht hatte einen Ausdruck echter Verzweiflung angenommen. Frances wusste genau, dass sie kurz davor war auszurufen: »Ach, das hätte deinem Vater das Herz gebrochen!« Und
da Frances beim Gedanken an ihren Vater selbst jetzt, fast vier
Jahre nach seinem Tod, noch immer den Drang verspürte, mit
den Zähnen zu knirschen, zu fluchen oder etwas entzweizuschlagen, wechselte sie rasch das Thema. Ihre Mutter war an
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der Organisation von zwei oder drei Wohlfahrtsaktivitäten
der Gemeinde beteiligt, nach deren Entwicklung sie sich jetzt
erkundigte. Sie unterhielten sich einige Zeit über den nahenden Wohltätigkeitsbasar.
Als Frances merkte, dass sich die Gesichtszüge ihrer Mutter wieder entspannten und sie lediglich müde und alt aussah,
erhob sie sich vom Bett.
»Hast du alles, was du brauchst? Möchtest du vielleicht einen Keks, falls du nachts aufwachst?«
Ihre Mutter bereitete sich auf das Einschlafen vor. »Nein,
ich möchte keinen Keks. Aber könntest du bitte das Licht ausschalten, Frances?«
Sie hob die Zöpfe von den Schultern und ließ den Kopf in
die Kissen sinken. Ihre Brille hatte kleine Abdrücke auf ihrem
Nasenrücken hinterlassen. Als Frances die Hand ausstreckte,
um die Lampe zu löschen, hörte sie wieder Schritte aus dem
Zimmer über ihnen, und ihre Mutter richtete ihre braunen
Augen zur Decke.
»Man könnte fast denken, dass Noel oder John Arthur da
oben wären«, murmelte sie, während das Licht erlosch.
Ja, tatsächlich, dachte Frances einen Augenblick später, als
sie im dämmrigen Flur verharrte, das hätte man wirklich denken können, denn nun roch es auch nach Zigarettenrauch, und
sie hörte Männergemurmel aus dem oberen Korridor, gefolgt
von klappernden Männerpantoffeln. Und plötzlich, ohne jede
Vorwarnung, als habe sie einen unerwarteten Stoß an der falschen Stelle erhalten, verspürte sie ein schmerzhaftes Ziehen im Herzen. Wie die Trauer einen immer noch überfallen
konnte, nach all der Zeit. Sie musste am Fuß der Treppe innehalten, während der Schmerz sie durchfuhr. Wenn doch nur,
dachte sie beim Emporsteigen der Stufen, wenn doch nur oben
am Treppenabsatz einer ihrer Brüder wäre: der hagere, belesene, aber ein bisschen weltfremde John Arthur zum Beispiel,
der in seinem braunen Bademantel von Jaeger und den derben
Sandalen immer wie ein schrulliger Mönch gewirkt hatte.
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Doch oben stand nur Mr Barber, eine Zigarette in den Mundwinkel geklemmt. Er hatte das Jackett abgelegt, die Hemdsärmel hochgekrempelt und machte sich an einem abscheulichen
Objekt zu schaffen, das er offenbar gerade im oberen Flur aufgehängt hatte, eine Mischung aus Barometer und Kleiderbürste, in grellem Orange lackiert. Solche grellen Farbtupfer
gab es überall, stellte sie zu ihrer Bestürzung fest. Es war, als
hätte ein riesiges Maul eine Tüte bunter Bonbons gelutscht
und dann das Haus abgeleckt. Der verblichene Teppich im
ehemaligen Schlafzimmer ihrer Mutter war unter falschen
Perserteppichen verschwunden. Rund um den schönen Trumeauspiegel war ein fransenbesetzter indischer Schal drapiert worden. Ein Bild an der Wand schien ein weiblicher
Akt im Stile Lord Leightons zu sein. Der Vogelkäfig aus Weidenrohr drehte sich langsam an einem Band, das mit einem
Haken an der Decke befestigt war. Im Käfig thronte ein künstlicher Papagei aus Seide und gefärbten Federn auf einer Pappmascheestange.
Das Licht im Treppenhaus war voll aufgedreht und zischte
wie ein wütendes Tier. Frances fragte sich, ob das Ehepaar bedacht hatte, dass sie und ihre Mutter dafür zahlen mussten.
Sie begegnete Mr Barbers Blick und sagte in einem Tonfall,
der die grelle Fröhlichkeit der Einrichtung spiegeln sollte: »Haben Sie sich schon fertig eingerichtet?«
Er nahm die Zigarette aus dem Mundwinkel und unterdrückte ein Gähnen. »Fix und fertig, Miss Wray – ich jedenfalls. Mir reicht’s für heute. Ich habe meinen Teil getan und
die Heiligtümer nach oben geschleppt. Das Hübschmachen
überlasse ich Lilian. Sie liebt das – sie ist Weltmeisterin im Dekorieren!«
Frances hatte ihn zuvor noch gar nicht genauer betrachtet. Sie hatte sein Auftreten auf sich wirken lassen – die
scherzhafte Nörgelei, die ihn begleitete wie ein musikalisches
Thema – und dabei kaum auf seine körperliche Erscheinung
geachtet. Im schwachen Licht des Korridors nahm sie nun
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auch sein Äußeres wahr, die penible Gepflegtheit des Büroangestellten. Ohne Schuhe war er nur ein paar Zentimeter
größer als sie. »Schwächlich«, hatte seine Frau ihn genannt,
doch dafür wirkte er zu lebhaft. Er hatte rötliche Bartstoppeln
und winzige Pickelnarben im Gesicht, seine Kieferpartie war
schmal, die Zähne standen ein wenig zu dicht aneinander. Er
hatte rotblonde, kaum wahrnehmbare Wimpern. Die Augen
selbst waren von einem durchdringenden Blau und machten
ihn irgendwie zu einer attraktiven Erscheinung, beinahe gut
aussehend – jedenfalls attraktiver, als sie zunächst gedacht
hatte.
Sie wandte den Blick ab. »Also, ich gehe jetzt zu Bett.«
Er kämpfte mit einem neuerlichen Gähnen. »Sie Glückliche! Ich fürchte, Lily ist immer noch dabei, unseres zu dekorieren!«
»Ich habe die Lichter unten gelöscht. Der Glühstrumpf im
Flur ist ein bisschen schwierig zu bedienen, deshalb dachte
ich, ich mache das Licht selbst aus. Aber wahrscheinlich hätte
ich Ihnen lieber zeigen sollen, wie es funktioniert.«
»Dann zeigen Sie es mir doch jetzt«, schlug er vor.
»Nun ja, meine Mutter versucht gerade einzuschlafen. Ihr
Zimmer ist gleich unten neben der Treppe.«
»Ach so. Ja, dann zeigen Sie es mir morgen.«
»Das mache ich. Ich fürchte bloß, dass es im Treppenhaus
dunkel ist, wenn Sie oder Mrs Barber heute noch mal nach unten müssen.«
»Ach, wir finden uns schon zurecht.«
»Vielleicht nehmen Sie sich eine Lampe mit?«
»Das ist natürlich eine Idee! Oder – wissen Sie was?« Er
grinste. »Ich schicke Lil vor, an einem Seil. Und wenn’s irgendwelche Schwierigkeiten gibt, dann … zieht sie einmal kurz!«
Er hielt den Blick auf sie gerichtet, während er den kleinen
Scherz äußerte. Doch irgendetwas an seiner Art war befremdlich und verunsicherte sie. Sie zögerte mit der Antwort, und
er führte die Zigarette zum Mund, wandte sich ab, um da28
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ran zu ziehen und den Rauch in eine andere Richtung zu blasen, fixierte sie dabei aber immer noch mit seinen lebhaften
blauen Augen.
Dann änderte sich sein Verhalten von einem Moment zum
anderen. Die Tür zum Schlafzimmer wurde geöffnet, und
seine Frau stand da, mit einem Bild in den Händen – einem
weiteren Akt Lord Leightons, wie Frances befürchtete –, woraufhin ihr Mann den nächsten spöttischen Kommentar abgab.
»Mein Gott, Weib, bist du immer noch zugange!«
Sie lächelte Frances zu. »Ich möchte doch nur, dass es überall hübsch aussieht!«
»Die arme Miss Wray möchte aber schlafen gehen. Sie ist
gekommen, um sich über den Lärm zu beschweren.«
Ein Schatten senkte sich über Mrs Barbers Miene. »Oh,
Miss Wray, das tut mir leid!«
»Sie haben gar keinen Lärm gemacht«, beeilte sich Frances
zu sagen. »Mr Barber macht nur Spaß.«
»Eigentlich wollte ich den Rest morgen machen. Aber jetzt,
wo ich einmal angefangen habe, finde ich einfach kein Ende.«
Plötzlich kam es Frances im oberen Flur unglaublich eng
vor, wie sie zu dritt da standen. Würden sie sich jetzt jeden
Abend hier begegnen und Höflichkeiten austauschen müssen? »Lassen Sie sich ruhig Zeit«, sagte sie mit aufgesetzter
Fröhlichkeit. »Allerdings …«, sie hatte sich schon auf ihre Tür
zubewegt und hielt wieder inne, »Sie denken doch bitte daran,
dass meine Mutter unten in dem Zimmer schläft?«
»Aber ja, natürlich«, sagte Mrs Barber. Und »Ja, selbstverständlich denken wir daran«, wiederholte ihr Mann betont
ernsthaft.
Frances wünschte, sie hätte kein Wort darüber verloren.
Mit einem verlegenen »Na dann, gute Nacht« öffnete sie die
Tür zu ihrem Schlafzimmer. Sie ließ sie einen Moment offen
stehen, während sie die Kerze auf dem Nachttisch anzündete,
und als sie die Tür wieder schließen wollte, sah sie Mr Barber,
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der im Flur an seiner Zigarette zog und zu ihr herüberschaute;
er lächelte sie an und wandte sich dann ab.
Nachdem sie die Tür geschlossen und den Schlüssel leise
im Schloss gedreht hatte, fühlte sie sich schon wohler. Sie
streifte ihre Hausschuhe ab, zog Bluse, Rock, Unterwäsche
und Strümpfe aus – und war schließlich wieder sie selbst. Wie
eine korpulente Matrone, die sich ihres Korsetts entledigt. Sie
reckte die Arme empor und blickte sich im Halbdunkel des
Zimmers um. Wie herrlich ruhig und leer es hier drinnen war!
Auf dem Kaminsims standen zwei silberne Leuchter und
sonst gar nichts. Das Bücherregal war zwar voll mit Büchern,
aber alle standen ordentlich in Reih und Glied, auf dem dunklen Dielenboden lag ein einziger kleiner Teppich; die Wände
waren hell – sie hatte die Tapete entfernt und sie weiß getüncht. Selbst die gerahmten Drucke strahlten Ruhe aus: ein
japanisches Zimmer, eine Landschaft von Caspar David Friedrich, verschneite Berggipfel vor einem blassvioletten Hintergrund, die man im Kerzenlicht gerade eben noch erahnen
konnte.
Gähnend tastete sie nach den Haarnadeln auf ihrem Kopf
und zog sie heraus. Sie füllte die Waschschüssel, wusch sich
mit einem Lappen das Gesicht, den Hals und die Achseln,
putzte sich die Zähne und rieb sich Vaseline auf die Wangen
und die angegriffenen Hände. Da sie die ganze Zeit über Mr
Barbers Zigarette gerochen und der Geruch sie ganz unruhig
gemacht hatte, öffnete sie schließlich die Schublade ihres
Nachtschränkchens und holte eine Dose Tabak und ein Päckchen Zigarettenpapier heraus. Sie drehte sich eine kleine Zigarette, zündete sie an der Kerze auf dem Nachttisch an, stieg ins
Bett und pustete die Kerze aus. Sie rauchte gern so – nackt
zwischen den kühlen Bettlaken, während nur die glühend rote
Zigarettenspitze ihre Finger in der Dunkelheit erhellte.
Heute war das Zimmer natürlich nicht ganz dunkel: Vom
Korridor fiel ein dünner Streifen Licht unter ihrer Tür herein.
Was machten sie da draußen gerade? Sie konnte das Gemur30
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mel ihrer Stimmen hören. Womöglich diskutierten sie, wo
sie das schauderhafte Bild aufhängen sollten. Wenn sie jetzt
einen Nagel in die Wand hämmerten, würde sie hingehen und
etwas sagen müssen. Wenn sie das Licht auf dem Treppenabsatz so stark aufgedreht ließen, würde sie ebenfalls etwas
sagen müssen. Sie probierte im Geiste verschiedene Satzanfänge aus.
Es tut mir leid, aber ich muss Sie darauf hinweisen …
Erinnern Sie sich noch, dass wir kürzlich besprochen haben …
Vielleicht könnten wir …
Es wäre besser, wenn …
Ich fürchte, ich habe einen Fehler gemacht.
Nein, das durfte sie nicht denken. Dafür war es nun zu spät.
Dafür war es eigentlich schon seit Jahren zu spät.
Schließlich schlief sie doch noch gut. Sie wachte um sechs am
nächsten Morgen auf, als in der Ferne die ersten Fabriksirenen
losgingen. Sie döste noch eine Stunde vor sich hin und wurde
schließlich von einem hektischen, an einen Bohrer erinnernden Ton aus ihrem verworrenen Traum gerissen. Verschlafen
wie sie war, konnte sie das Geräusch erst gar nicht einordnen,
doch dann ging ihr auf, dass es sich um den rasselnden Wecker der Barbers handelte. Es schien keine Minute her, dass
sie hier gelegen und dem Gemurmel des Paares auf dem Weg
ins Bett gelauscht hatte. Nun bekam sie das Ganze in umgekehrter Reihenfolge mit: Murmelnd und gähnend erhoben
sich die Eheleute; sie schlichen die Treppe hinunter in den
Hof, klapperten dann in ihrer Küche herum, kochten Tee und
brieten sich etwas zum Frühstück. Sie zwang sich, alles aufmerksam zu verfolgen, das zischende Geräusch des Specks in
der Pfanne, das Klappern des Rasierers, der an der Spüle abgeklopft wurde. Sie musste sich daran gewöhnen, sich den Gegebenheiten anpassen – denn so würden ihre Tage von nun an
immer beginnen.
Die achtundfünfzig Schilling fielen ihr wieder ein. Wäh31
rend Mr Barber seine Sachen fürs Büro zusammensuchte,
stand sie auf und zog sich leise an. Er verließ das Haus um
kurz vor acht; zu diesem Zeitpunkt war seine Frau bereits
wieder in das gemeinsame Schlafzimmer zurückgekehrt.
Frances wartete noch ein paar Minuten, damit es nicht zu offensichtlich war, dass sie Mr Barbers Aufbruch abgepasst
hatte, schloss dann ihre Zimmertür auf und stieg die Treppe
hinunter. Sie kehrte die Aschereste aus dem Ofen und fachte
ein neues Feuer an. Anschließend ging sie auf die Toilette im
Hof, kehrte wieder ins Haus zurück, wünschte ihrer Mutter
einen guten Morgen, bereitete den Tee zu, kochte Eier. Und
während all dieser Verrichtungen rechnete sie still vor sich
hin. Nachdem ihre Mutter und sie gefrühstückt hatten und
der Esstisch abgeräumt war, setzte sie sich mit ihrem Haushaltsbuch an den Sekretär und ging den Stapel Rechnungen
durch, der sich im Laufe des letzten Jahres hinten im Buch angesammelt hatte.
Der Metzger und der Fischhändler müssen sofort eine
große Summe ausgezahlt bekommen, beschloss sie. Die Wäscherei, der Bäcker und der Kohlenhändler konnten mit kleineren Beträgen hingehalten werden. Die Grundsteuern für
das Haus wären in ein paar Wochen fällig, zusammen mit der
vierteljährlichen Gasrechnung, die höher als sonst ausfallen
würde, denn darin enthalten wären die Kosten für den Einbau
des Herdes und des Gaszählers sowie für Rohre und Leitungen, die im ersten Stock verlegt worden waren. Und auch für
weitere Maßnahmen, die sie für den Einzug der Barbers getroffen hatten, musste noch Geld bezahlt werden: für Leimfarbe und Lack beispielsweise. Es würde drei oder vier Monate
dauern, bis mindestens August oder September, ehe sich die
Mieteinahmen als Reingewinn auf dem Familienkonto darstellen würden.
Immerhin im August oder September – das war besser
als nie, und so räumte sie das Haushaltsbuch in gehobener
Stimmung wieder beiseite. Der Mann von der Bäckerei kam,
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gefolgt vom Metzgersjungen, und endlich einmal konnte sie
Brot und Fleisch guten Gewissens entgegennehmen und nicht
mit dem Gefühl, als sei sie in zwielichtige Händel mit nicht bezahlter Ware verwickelt. Das Fleisch war ein Lammnacken,
den konnte sie später in einem Eintopf verwenden. Sie hatte
kein großes Interesse am Essen, weder an seiner Zubereitung
noch am Verspeisen selbst, doch während des Krieges hatte
sie ein gewisses, aus der Not geborenes Geschick zum Kochen
entwickelt; jedenfalls gefiel ihr die praktische Herausforderung, aus einem billigen Stück Fleisch mehrere Mahlzeiten zubereiten zu müssen. Ähnliches empfand sie im Hinblick auf
die Hausarbeit: Auch dort fand sie Gefallen an eher abseitigen
Tätigkeiten wie dem Entrußen des Ofens oder dem Reinigen
von Geländerstangen – Arbeiten, welche Planung, eine gewisse Strategie, besondere Chemikalien oder spezielle Werkzeuge erforderten.
Die meisten ihrer Haushaltspflichten waren allerdings
eher profan. Das Haus war durch und durch unpraktisch ausgestattet, hier Bilderschienen, da Stuckarbeiten und überall
kunstvolle Sockelleisten, die mehr oder weniger täglich abgestaubt werden mussten. Das Mobiliar bestand durchgängig
aus dunklem Holz, was ebenfalls regelmäßiges Abstauben erforderlich machte. Ihr Vater hatte eine Vorliebe für das »gute
alte England« gehabt, einen Stil, der ganz und gar nicht zu den
verspielten Regency-Elementen des Hauses selbst passte, und
in beinahe jedem Winkel befand sich ein jakobinischer Stuhl
oder eine Kommode – »Vaters Sammlung«, wie diese Stücke
zu Lebzeiten des Vaters genannt wurden. Ein Jahr nach seinem Tod hatte Frances diese Möbel schätzen lassen und erfahren, dass es sich dabei durchweg um Fälschungen aus viktorianischer Zeit handelte. Der Händler, der ihnen die Standuhr
abgekauft hatte, bot ihnen für den ganzen Schwung drei
Pfund. Sie hätte das Geld am liebsten dankend eingesteckt,
um die unseligen Möbel aus den Augen zu haben, doch darüber hatte ihre Mutter sich ereifert. »Egal ob sie echt sind oder
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nicht«, hatte sie gesagt, »das Herz deines Vaters hat daran gehangen!« Eher seine Dummheit, hatte Frances im Stillen gedacht. Also waren die Möbel im Haus geblieben, was zur Folge
hatte, dass sie mehrmals wöchentlich im Krebsgang die guten
Stücke umrunden und mit dem Staubtuch die Windungen
wackliger Tischbeine und Schnörkel und Rauten der grob gedrechselten Stühle abreiben musste.
Den schwersten Teil der Hausarbeit sparte sie sich für jene
Vor- und Nachmittage auf, an denen sie sicher sein konnte,
dass ihre Mutter aus dem Haus war. Da heute Montag war,
hatte sie sich viel vorgenommen: Den Montagvormittag verbrachte ihre Mutter immer beim Gemeindepfarrer, und während ihrer Abwesenheit konnte Frances sich das gesamte
Erdgeschoss vornehmen.
Kaum war die Eingangstür zugeschlagen, krempelte sie
auch schon die Ärmel hoch, band sich eine Schürze um und
verbarg die Haare unter einem Tuch. Als Erstes nahm sie sich
das Schlafzimmer ihrer Mutter vor, dann begab sie sich zum
Staubwischen in den Salon – eine endlose Tätigkeit, so schien
es ihr. Wo um alles in der Welt kam der ganze Staub nur
her? Es kam ihr beinahe so vor, als ob das Haus den Staub aus
sich selbst hervorbrachte, so wie ein Körper Schweiß absondert. Sie konnte minutenlang Teppiche oder Kissen ausschlagen – und immer noch kam Staub heraus. Im Salon stand
eine Vitrine mit fest schließenden Glastüren, doch selbst das
Porzellan darin staubte ein und musste abgewischt werden.
Gelegentlich verspürte sie den Drang, jede einzelne der verschnörkelten Tassen herauszuholen und entzweizuschlagen.
Einmal hatte sie aus lauter Verzweiflung eine der apfelwangigen Staffordshire-Figuren geköpft: Sie hatte den Kopf zwar
rasch wieder angeklebt, doch er saß immer noch ein wenig
schief.
Heute verspürte sie dieses zerstörerische Verlangen nicht.
Sie arbeitete mit energischer Effizienz, trug Handfeger und
Kehrblech vom Salon die Treppe hinauf und arbeitete sich
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dann Stufe für Stufe wieder nach unten. Anschließend füllte
sie einen Eimer mit Wasser, holte ihre Kniematte und begann
den Boden im Eingangsflur zu wischen. Dafür verwendete sie
nur Essig. Seife hinterließ Streifen auf den schwarzen Fliesen.
Das erste, nasse Reiben war wichtig, um den Schmutz zu lösen, doch wirklich entscheidend war der zweite Teil, wenn sie
den ausgewrungenen Lappen in einer geschmeidigen, nahtlosen Bewegung über den Boden gleiten ließ. Da! Wie herrlich
jede einzelne Fliese glänzte. Der Glanz würde innerhalb von
fünf Minuten wieder verschwinden, wenn die Oberfläche
trocknete; doch schließlich war alles im Leben hinfällig. Entscheidend war nur, die wenigen glanzvollen Momente richtig
zu würdigen. Es hatte keinen Sinn, sich mit den abgenutzten
Stellen aufzuhalten. Sie war jung, körperlich fit und gesund.
Sie hatte … ja, was hatte sie schon? Kleine Freuden wie diese
hier. Kleine Erfolge in der Küche. Die Zigarette am Ende des
Tages. Den Kinobesuch mit ihrer Mutter am Mittwoch. Regelmäßige Ausflüge in die Innenstadt. Hin und wieder gab es
Phasen, in denen sie eine gewisse Ruhelosigkeit verspürte,
aber wer hatte die nicht? Sie hatte Wünsche und Sehnsüchte …
Doch die waren überwiegend körperlicher Natur, und sie war
keineswegs so gehemmt, dass sie sich nicht zu helfen gewusst
hätte. Es ist schon erstaunlich, dachte sie, während sie die
Kniematte und den Eimer weiterschob und sich eine neue Parzelle des Bodens vornahm, es ist erstaunlich, wie einfach und
zufriedenstellend man sich dieser Sache selbst annehmen
kann. Mitten am helllichten Tag, sogar wenn ihre Mutter im
Haus war. Sie brauchte nur ein paar Minuten in ihrem Schlafzimmer zu verschwinden – vielleicht als kleine Pause beim
Schälen von Pastinaken oder während sie darauf wartete, dass
der Teig aufging.
Eine Bewegung am Treppenabsatz ließ sie zusammenfahren. Sie hatte die Mieter völlig vergessen. Nun blickte sie
auf und sah durch das Geländer Mrs Barber zögerlich die
Treppe herunterkommen.
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Sie spürte, wie sie errötete, gerade so, als hätte man sie auf
frischer Tat ertappt. Doch Mrs Barber wurde ebenfalls rot.
Obwohl es schon weit nach zehn Uhr war, hatte sie immer
noch ihr Nachthemd an, darüber trug sie eine Art japanischen
Morgenmantel aus Satin – Kimono hieß so etwas, glaubte
Frances. Mrs Barbers Füße in den türkischen Pantoffeln waren nackt. Sie trug ein Handtuch und einen Kulturbeutel.
Während sie Frances grüßte, schob sie sich eine vom Schlaf
platt gedrückte Haarlocke aus dem Gesicht und sagte dann
schüchtern: »Ich habe überlegt, ob ich vielleicht ein Bad nehmen dürfte.«
»Ach so«, erwiderte Frances. »Ja.«
»Aber nur wenn es keine Umstände macht. Ich bin wieder
eingeschlafen, nachdem Len zur Arbeit gegangen ist, und …«
Frances erhob sich vom Boden. »Es macht keine Umstände. Ich muss nur den Badeofen für Sie anmachen. Meine
Mutter und ich machen ihn tagsüber normalerweise nicht
an. Das hätte ich vielleicht gestern Abend noch erwähnen sollen. Können Sie hier rübersteigen? Sie müssen einen kleinen
Sprung machen.« Sie stellte den Eimer beiseite. »Schauen Sie,
hier ist eine trockene Stelle.«
Mrs Barber war indessen weiter die Treppe hinuntergestiegen. Sie errötete noch tiefer und starrte peinlich berührt den
Staublappen auf Frances’ Kopf an, ihre hochgerollten Ärmel
und rot leuchtenden Hände, die Matte zu ihren Füßen, auf der
immer noch die Abdrücke ihrer Knie sichtbar waren. Diesen
Blick kannte Frances nur zu gut, sie konnte ihn schon nicht
mehr sehen, denn sie war ihm allzu oft begegnet: in den Gesichtern der Nachbarn, der Handwerker und der Freundinnen
ihrer Mutter, die zwar allesamt den schlimmsten Krieg in der
Geschichte der Menschheit überstanden hatten, aber dennoch
aus irgendeinem Grund nicht damit zurechtkamen, wenn eine
Frau aus gutem Hause die Arbeit einer Putzfrau verrichtete.
Aufmunternd sagte sie: »Sie erinnern sich doch noch, dass ich
Ihnen erzählt habe, wir hätten keine Hilfe? Ich habe das ernst
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gemeint. Das Einzige, was ich nicht mache, ist die Wäsche, die
geben wir zum größten Teil raus. Doch um alles andere kümmere ich mich selbst. Ob Böden wienern oder Silber polieren –
es gibt nichts, worauf ich mich nicht verstehe!«
Endlich erschien ein Lächeln auf Mrs Barbers Gesicht.
Doch als sie die Bodenfläche sah, die noch gewischt werden
musste, schien sie erneut peinlich berührt zu sein, wenn auch
aus anderem Grunde.
»Ich fürchte, Len und ich haben hier gestern alles schmutzig gemacht. Das war wirklich gedankenlos!«
»Ach«, sagte Frances, »diese Fliesen werden von ganz allein schmutzig. So wie alles in diesem Haus.«
»Wenn ich mich angezogen habe, wische ich für Sie
weiter.«
»Das kommt gar nicht infrage. Sie haben Ihre eigenen Zimmer, die Sie in Ordnung halten müssen. Wenn Sie es ohne
Zimmermädchen schaffen, warum sollte ich das nicht auch?
Außerdem würden Sie staunen, welche Wunder ich mit dem
Mopp bewirken kann. Moment, ich helfe Ihnen.«
Mrs Barber war an der untersten Treppenstufe angelangt
und offenbar unsicher, wohin sie ihren nächsten Schritt setzen
sollte. Nach kurzem Zögern ergriff sie die Hand, die Frances
ihr entgegenstreckte, und machte dann einen kleinen Satz auf
die noch nicht gewischte Seite des Bodens. Dabei teilte sich ihr
Kimono, enthüllte ein weiteres Stück ihres Nachthemds und
erlaubte eine beunruhigende Ahnung von dem rundlichen,
wohlgeformten, durch nichts gestützten Körper, der sich darunter verbarg.
Gemeinsam gingen sie durch die Küche in die Spülküche.
Dort stand die Badewanne, gleich neben dem Spülbecken. Die
Wanne hatte eine ausgeblichene Holzabdeckung, die Frances
als Abtropfbrett für das Geschirr nutzte. Mit geübtem Griff
hob sie die Abdeckung herunter und lehnte sie an die Wand.
Die Wanne war alt und schon mehrmals neu emailliert worden, das letzte Mal hatte Frances den Lack selbst aufgetragen,
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mit eher zweifelhaftem Ergebnis: Die unregelmäßige Oberfläche des Eisens erinnerte entfernt an Lepra-Geschwüre, was
ihr heute ganz besonders ins Auge fiel. Auch der Badeofen der
Firma Vulcan wirkte ziemlich furchteinflößend: ein grünlicher genieteter Kessel auf drei gebogenen Füßen. Um etwa
1870 musste er das Spitzenmodell des Herstellers gewesen
sein, doch inzwischen sah er eher aus wie ein Gefährt aus
einem Jules-Verne-Roman, gebaut, um darin eine Reise zum
Mond anzutreten.
»Ich fürchte, er ist ein bisschen launisch«, sagte sie und erklärte Mrs Barber den Mechanismus. »Sie müssen an diesem
Hahn drehen, dürfen aber auf keinen Fall diesen hier bewegen; wenn Sie das tun, fliegen wir womöglich alle in die Luft.
Hier muss man ihn anzünden.« Sie riss ein Streichholz an.
»Am besten schaut man währenddessen in die andere Richtung. Mein Vater hat nämlich dabei schon mal seine Augenbrauen eingebüßt. Da!«
Mit einem Zischen hatte die Flamme zum Gas gefunden.
Der Kessel fing an zu ticken und zu rattern. Sie betrachtete ihn
stirnrunzelnd, die Hände in die Hüften gestemmt. »Er ist ein
richtiges Ungetüm. Tut mir leid, Mrs Barber.« Sie blickte sich
in der Spülküche um – die altmodische Steinspüle, der Kupferkessel in der Ecke, die Leichenhausfliesen an der Wand.
»Ich wünschte wirklich, das Haus wäre für Sie moderner eingerichtet.«
Doch Mrs Barber schüttelte den Kopf. »Ach bitte, so dürfen
Sie nicht denken.« Sie schob sich eine weitere Haarlocke hinter die Ohren; dabei bemerkte Frances, dass sie Ohrlöcher
hatte, kleine Vertiefungen in ihren Ohrläppchen. »Das Haus
gefällt mir so, wie es ist. Es ist eben ein Haus mit Geschichte,
nicht wahr? Ich finde, die Dinge müssen nicht immer nur
modern sein. Sonst hätten sie gar keine Persönlichkeit, keine
Eigenheiten.«
Und da war sie wieder, dachte Frances, diese Freundlichkeit, die nette Art, das Feingefühl. Lachend entgegnete sie:
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»Na ja, was die Eigenheiten betrifft, so hat dieses Haus eher
zu viele!« Dann fügte sie etwas weniger flapsig hinzu: »Aber
ich bin froh, dass es Ihnen gefällt. Sehr froh. Ich mag das Haus
eigentlich auch, obwohl ich das immer wieder mal vergesse.
Doch wir sollten diesen Badeofen lieber nicht zu heiß werden
lassen, ohne dass wir Wasser durchlaufen lassen, sonst ist am
Ende womöglich gar kein Haus mehr übrig – und wir sind
auch nicht mehr da, um uns daran zu erfreuen. Kommen Sie
jetzt allein zurecht? Wenn die Flamme ausgeht – und das tut
sie leider manchmal –, rufen Sie mich ruhig.«
Mrs Barber lächelte und zeigte dabei ihre geraden weißen
Zähne. »Ja, das tue ich. Vielen Dank, Miss Wray.«
Frances überließ sie ihrem Schicksal und begab sich
wieder an das Wischen des Bodens. Die Tür zur Waschküche
schloss sich hinter Mrs Barber und wurde leise von innen verriegelt.
Die Tür zwischen Küche und Durchgang zur Waschküche
war allerdings nur angelehnt, und während Frances den
Wischlappen wieder aufnahm, konnte sie überdeutlich hören,
wie Mrs Barber sich auf ihr Bad vorbereitete: Die Kette klapperte gegen den Wannenrand, dann folgte das stotternde Einlaufen des Wassers. Der Vorgang dauerte ziemlich lange, wie
ihr schien. Was die Benutzung des Badeofens anging, so hatte
sie sich in eine kleine Notlüge gerettet. Es war keineswegs so,
dass ihre Mutter und sie den Badeofen häufig benutzten, dazu
war ihnen der Betrieb zu teuer, vielmehr bereiteten sie sich ihr
Badewasser im Warmwasserkasten des altmodischen Küchenherdes zu. Tatsächlich badeten sie auch höchstens einmal in
der Woche und verwendeten dabei oft beide dasselbe Badewasser. Falls Mrs Barber vorhatte, täglich solche extensiven
Bäder zu nehmen, würde sich ihre Gasrechnung verdoppeln.
Endlich wurde das Wasser abgestellt. Man hörte ein Plätschern und das leicht quietschende Geräusch von Fußsohlen,
die den Wannenboden berührten, dann folgte ein volleres,
satteres Platschen, als Mrs Barber sich in der Wanne nieder39
ließ. Danach war es still, man hörte nur noch das gelegentliche
»Plink« von Tropfen aus dem Wasserhahn.
Diese Geräusche waren verstörend, genau wie der auseinanderklaffende Kimono, doch am meisten verstörte Frances
die Stille. Kurz zuvor, an ihrem Sekretär sitzend, hatte sie ihre
Mieter noch unter rein finanziellen Aspekten betrachtet – wie
zwei umherwatschelnde Schillinge mit Beinen. Doch Mieter
zu haben, dachte sie, während sie rückwärts über die Fliesen
rutschte, Mieter zu haben war genau das: diese eigenartige unpersönliche Nähe, dieser halb entblößte Moment, in dem zwischen ihr und der nackten Mrs Barber lediglich ein paar Meter
Küche und eine dünne Tür lagen. Ein Bild tauchte vor ihrem
inneren Auge auf: das wohlgerundete Fleisch, das sich in der
Hitze des Bades rötete.
Sie rückte auf der Kniematte hin und her, packte ihren Lappen und scheuerte mit energischen Bewegungen den Boden.
Die Wände der Spülküche waren immer noch vom Dampf
beschlagen, als ihre Mutter um die Mittagszeit zurückkehrte.
Frances erzählte ihr von Mrs Barbers Bad, und ihre Mutter
blickte sie ungläubig an.
»Um zehn Uhr? Im Morgenmantel? Bist du sicher?«
»Das bin ich. Noch dazu aus Satin. Ein Glück, dass du den
Pfarrer besucht hast und nicht umgekehrt, oder?«
Ihre Mutter erblasste, erwiderte jedoch nichts.
Sie aßen zu Mittag – überbackenen Blumenkohl – und
ließen sich dann im Salon nieder. Mrs Wray machte sich
Stichworte für einen Artikel im Gemeindeblatt. Frances arbeitete sich durch einen Flickkorb, neben sich auf die Sessellehne
hatte sie die Times gelegt.
Was gab es Neues? Unbeholfen blätterte sie die druckschwarzen Seiten um. Doch es war nur das übliche triste Zeug.
Horatio Bottomley stand ein Strafprozess im Old Bailey bevor, weil er die Öffentlichkeit um eine Viertelmillion betrogen
hatte. Ein Parlamentsabgeordneter verlangte, dass Kokain40
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händler ausgepeitscht werden sollten. Die Franzosen schossen
auf die Syrier, die Chinesen erschossen einander, eine Friedenskonferenz in Dublin war ergebnislos verlaufen; in Belfast
hatte es wieder Tote gegeben … Aber der Prince of Wales
nahm gut gelaunt an einem Angelausflug in Japan teil, und
die Marchioness of Carisbrooke wollte einen Ball organisieren, »um die Freunde der Armen zu unterstützen«. Das rechtfertigt dann wohl den ganzen Aufwand, dachte Frances grimmig. Sie mochte die Times nicht. Aber sie hatten nicht genug
Geld, um eine zweite, weniger konservative Zeitung zu beziehen. Ohnehin fand sie es mittlerweile deprimierend, die Nachrichten zu lesen. In Kriegszeiten, als sie noch jung und naiv
war, hätten die Ereignisse sie zu Aktivitätsstürmen hingerissen, sie hätte Briefe geschrieben, an Versammlungen teilgenommen. Doch inzwischen schien ihr die Welt so kompliziert
geworden zu sein, dass ihre Probleme jeder Lösung trotzten.
Es gab nur ein Durcheinander von Interessenskonflikten; das
Ganze erfüllte sie mit einem Gefühl der Sinnlosigkeit. Sie
legte die Zeitung beiseite. Morgen würde sie sie zerreißen, die
Schnipsel konnten dann zum Anzünden des Feuers dienen.
Wenigstens war es jetzt still im Haus; beinahe so wie früher. Bis eben hatte man dumpfes Poltern und Quietschen gehört, während Mrs Barber weitere Möbel verrückte, doch jetzt
musste sie in ihrem Wohnzimmer sein. Und was machte sie
da? War sie noch im Kimono? Aus irgendeinem Grunde hoffte
Frances das.
Was immer sie auch tat, die Stille oben dauerte an bis zum
Spätnachmittag nach dem Tee. Erst gegen kurz vor sechs erwachte Mrs Barber wieder zum Leben, stürmte oben hin und
her, offenbar in einem verzweifelten Versuch, alles rasch aufzuräumen; dann fing sie an, in der kleinen Küche mit Töpfen
und Pfannen zu klappern. Als Frances eine halbe Stunde später selbst dabei war, in ihrer Küche das Abendessen vorzubereiten, hörte sie das Klappern des Schlosses an der Vordertür
und erschrak. Aber das war natürlich Mr Barber, der von der
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Arbeit nach Hause kam. Diesmal klang er genau wie ihr Vater,
als er sich die Füße an der Fußmatte abstreifte.
Er stieg mit müden Schritten die Treppe hinauf und gab
oben angelangt ein jodelndes Gähnen von sich, aber fünf Minuten später, als sie gerade die Kartoffelschalen von der Arbeitsplatte sammelte, hörte sie ihn wieder herunterkommen.
Das Quietschen seiner Hausschuhe näherte sich durch den
Korridor, dann rief er: »Klopf, klopf, Miss Wray!«, und gleich
darauf tauchte sein Gesicht in der Tür auf. »Darf ich mal kurz
durchgehen?«
Er sah älter aus als am Vortag, sein Haar war fürs Büro mit
Frisiercreme flach gekämmt. Ein rötlicher Streifen auf seiner
Stirn zeigte an, wo seine Melone gesessen hatte. Nachdem er
die Toilette aufgesucht hatte, hielt er sich noch einen Moment
im Garten auf, wie sie durch das Küchenfenster sehen konnte.
Wahrscheinlich überlegte er, ob er ihre Mutter ansprechen
sollte, die im hinteren Teil des Gartens Spargel schnitt. Er entschied sich dagegen und ging Richtung Haus zurück, blieb allerdings kurz stehen und blickte nach oben, musterte das
Mauerwerk oder die Fensterrahmen und untersuchte dann irgendeinen Riss oder Sprung auf der Türschwelle.
»Und, wie geht es Ihnen, Miss Wray?«, fragte er, als er wieder die Küche betrat. Sie sah ein, dass sie einem Schwätzchen
kaum aus dem Weg gehen konnte. Und vielleicht war es ja
gut, wenn sie ihn etwas näher kennenlernte.
»Mir geht es gut, Mr Barber. Und Ihnen? Wie war Ihr Tag
heute?«
Er lockerte seinen steifen Hemdkragen »Ach, der übliche
Hickhack.«
»Ein schwieriger Tag also?«
»Jeder Tag ist schwierig, wenn man so einen Chef hat wie
ich. Ich bin sicher, Sie kennen den Typ: Legt einem ein paar
Zahlen zum Zusammenrechnen hin – und wenn dabei nicht
das Ergebnis herauskommt, das er gern hätte, gibt er einem
die Schuld daran!« Er hob das Kinn und kratzte sich am Hals,
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während er den Blick auf sie gerichtet hielt. »Angeblich kommt
er von einer vornehmen Privatschule. Man sollte meinen, diese
Leute wüssten es besser, finden Sie nicht?«
Warum sagte er das wohl? Er konnte sich doch denken,
dass ihre Brüder … Aber nein, er wusste natürlich gar nichts
über ihre Brüder, sagte sie sich, obwohl er und seine Frau in
deren ehemaligem Zimmer schliefen. In dem Versuch, seinen
Tonfall zu treffen, erwiderte sie: »Ja, ich habe gehört, diese Typen werden überbewertet. Sie arbeiten im Versicherungswesen, haben Sie gesagt?«
»Ja, das stimmt. Da muss ich meine Sünden büßen!«
»Was machen Sie denn genau?«
»Ich? Ich bin Gutachter für Lebensversicherungen. Unsere Vertreter schicken uns die Anträge für die Versicherungspolicen, ich leite sie an unseren medizinischen Gutachter weiter, und je nachdem, was er sagt, entscheide ich, ob das zu
versichernde Leben gut, schlecht oder neutral ist.«
»Gut, schlecht oder neutral«, wiederholte sie, verblüfft
über diese Vorstellung. »Dann sind Sie ja eine Art heiliger
Petrus.«
»Der heilige Petrus!« Er lachte. »Das gefällt mir! Das ist witzig, Miss Wray! Das werd ich direkt mal bei den Kollegen in
der Pearl anbringen!«
Als sein Lachen verstummt war, dachte sie, dass er nun
endlich gehen würde. Doch offenbar hatte er den kleinen
Wortwechsel als Aufforderung zu weiterer Vertraulichkeit
verstanden. Er schob sich in den Durchgang zur Spülküche
und lehnte sich gemütlich an den Türpfosten. Es schien ihm
Spaß zu machen, ihr bei der Arbeit zuzuschauen. Er betrachtete sie mit seinen blauen Augen, und sie hatte das Gefühl, als
taxiere er sie von oben bis unten: ihre Schürze, das Haar, das
sich im Kochdunst kräuselte, die hochgekrempelten Ärmel,
die rot gescheuerten Fingerknöchel.
Sie hackte ein paar Stängel Minze für die Soße. Er erkundigte sich, ob die Minze aus dem eigenen Garten sei, und
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als sie bejahte, nickte er in Richtung Fenster. »Ich hab mich
draußen gerade mal ein bisschen umgeschaut. Ziemlich großer Garten, was? Sie und Ihre Mutter halten den doch nicht
ganz allein in Ordnung, oder?«
»Ach«, erwiderte sie, »wir lassen einen Mann für die groben Arbeiten kommen, wenn …« Wenn wir es uns leisten können, dachte sie. »Wenn es erforderlich wird. Der Sohn des
Pfarrers mäht für uns den Rasen. Den Rest schaffen wir gut zu
zweit.«
Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Ihre Mutter gab
sich redliche Mühe beim Unkrautjäten und Beschneiden. Für
Frances hingegen war Gartenarbeit nur Hausarbeit an der
frischen Luft, und Hausarbeit hatte sie ohnehin schon genug.
Infolgedessen verlor der Garten, der zu Lebzeiten ihres Vaters
sehr gepflegt gewesen war, immer mehr die Form und verwilderte. Mr Barber sagte: »Also, ich kann Ihnen dabei gern zur
Hand gehen – Sie müssen es mir bloß sagen. Zu Hause helfe
ich meinem Vater auch immer mit dem Garten. Der ist allerdings nicht halb so groß wie Ihrer. Nicht mal ein Viertel so
groß. Trotzdem macht der alte Herr das Beste draus. Er pflanzt
sogar Gurken an, an einem Holzgestell. Richtige Schönheiten
sind das – bestimmt so lang!« Er deutete mit den Händen die
Länge an. »Haben Sie schon mal über Gurken nachgedacht,
Miss Wray?«
»Ja, also …«
»Welche anzubauen, meine ich.«
Verbarg sich hinter seiner Frage etwa eine Anzüglichkeit?
Das konnte sie sich kaum vorstellen. Doch sein Blick war genauso munter wie am Vorabend, und ebenso wie gestern verunsicherte sie sein Verhalten, sie hatte das Gefühl, dass er sich
über sie lustig machte, vielleicht versuchte, sie zum Erröten zu
bringen.
Ohne ihm zu antworten, wandte sie sich ab und holte Essig
und Zucker für die Minzsoße, und nachdem sie sie fertig angerührt und in eine kleine Schüssel umgefüllt hatte, holte sie
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den Eintopf aus dem Ofen und steckte ein Messer hinein, um
zu prüfen, ob das Fleisch gar war. Sie drehte ihm so lange den
Rücken zu, bis er den Wink endlich verstand und sich vom
Türrahmen löste. Es kam ihr so vor, als grinste er, während er
die Küche verließ. Und kaum durchquerte er den Korridor, begann er vor sich hin zu pfeifen, in einer ziemlich durchdringenden Tonlage. Sie brauchte einen Moment, bis sie die flotte
Melodie erkannte, es war das Music-Hall-Lied »Hold Your
Hand Out, Naughty Boy«. Das Pfeifen wurde leiser, während
er die Treppen hinaufstieg, doch ein paar Minuten später ertappte sie sich selbst dabei, wie sie die Melodie vor sich hin
pfiff. Sie hielt gleich inne, doch es war, als hätte er einen hartnäckigen Geruch hinterlassen: Egal was sie auch anstellte, das
unselige Lied ging ihr den ganzen Abend nicht mehr aus dem
Kopf.
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