Lübecker Nachrichten - Gemeinnützige Hertie

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Sonnabend,
2. Juli 2016
JUGEND
Angekommen
– und
willkommen!?
Die Lübecker Nachrichten machen
mit bei „Angekommen – und willkommen!?“, einem Pilotprojekt der Hertie
Stiftung, unterstützt vom Izop-Institut
in Aachen. Es soll einen Beitrag zur
Förderung einer Willkommenskultur
gegenüber Flüchtlingen in Deutschland leisten. Dabei setzen sich Schüler
mithilfe von Tageszeitungen mit der Situation von jugendlichen Zuwanderern auseinander. Außerdem berichten sie über die
Lebenssituation,
Hoffnungen und
Perspektiven junger Migranten in
der Zeitung.
Wir sind
dabei
Wer wir sind: Die Klasse Q1c (gesellschaftswissenschaftliches Profil
mit dem Schwerpunkt Wirtschaft
und Politik) des Carl-Jacob-Burckhardt-Gymnasiums in Lübeck. Wir
werden nächstes Jahr das Abitur
machen. Wir sind 28 Schüler,
13 Jungen und 15 Mädchen. In unserer Klasse haben acht Schüler einen Migrationshintergrund.
Warum wir mitmachen: Da gibt es
mehrere Gründe. Einerseits die aktuelle Flüchtlingssituation, da wir
dazu einen starken fachlichen Bezug haben: Die Flüchtlings- und
Asylpolitik stellt einen Bereich der
Politik dar. Andererseits ist aber
auch unsere Deutschlehrerin Anne Kunold dafür verantwortlich,
weil sie gern an Zeitungsprojekten
teilnimmt und mit uns die Aktion
machen wollte.
Was unser Thema ist und wie wir gerade darauf gekommen sind: Schwerpunkt ist die DaZ-Klasse an unserer Schule. Dabei handelt es sich
um die erste DaZ-Klasse an einem
Gymnasium in Lübeck. Mittlerweile gibt es aber mehrere Angebote.
Weil es die erste Klasse war, war es
natürlich leicht, darauf zu kommen.
Was wir Neues zum Thema erfahren
haben: Dass die Schüler neben
dem Sprachunterricht schon mit
den „normalen“ Klassen in einzelnen Fächern lernen, obwohl sie ja
eigentlich noch gar nicht so gut
Deutsch können. Und dass sie so
schnell die für sie fremde Sprache
lernen können. Bei uns dauert das
doch etwas länger...
Worauf wir erst jetzt oder jetzt mehr
im Umgang mit anderen Menschen/
Flüchtlingen achten: Alle Menschen sind gleich und so behandeln wir sie auch, aber das ist eigentlich nicht wirklich neu. In der
Klasse haben wir viele Mitschüler
mit Migrationshintergrund und unser Klassenlehrer hat auch einen
Migrationshintergrund. Seine Eltern stammen aus Italien.
Die größte Herausforderung bei unserer Reporterarbeit war: Das Verfassen der einzelnen Artikel. Besonders schwer war es, alles spannend für den Leser zu gestalten, sodass dieser unsere Texte auch
gern lesen möchte. Dabei darauf
zu achten, dass inhaltlich auch alles vollständig ist, war ebenfalls
schwer. Und wir hätten nicht erwartet, dass man als Journalist
trotz Gesprächsnotizen und Aufnahmen mit den Interviewpartnern im Nachhinein doch immer
noch mal Dinge klären muss.
Was uns Lustiges, Peinliches, Verrücktes während des Projekts passierte: Eigentlich nicht so viel. Mal von
den Rechtschreibfehlern in den ersten Versionen der Texte abgesehen, die uns dann doch schon etwas peinlich waren. Vor allem,
weil wir einen der Texte sogar dem
Schulleiter zum Gegenlesen gegeben haben.
Unser Lieblingswitz, -spruch oder -zitat zum Thema „Angekommen – willkommen!?“: „Wann sind wir denn
endlich
angekommen?“
Die
scheinbar nicht enden wollende
Überarbeitung der Texte war
schon ganz schön anstrengend für
uns.
33
Neue LN-Serie: „Angekommen – und willkommen!?“ (Teil 1)
DaZ – Sprache ist der Schlüssel
Am Carl-Jacob-Burckhardt-Gymnasium in Lübeck werden junge Flüchtlinge mithilfe der DaZ-Klasse
(Deutsch als Zweitsprache) gut integriert und aufs Abitur vorbereitet.
Lübeck. Wenn es um Flüchtlinge
geht, gibt es häufig negative
Schlagzeilen, Berichte von Anfeindungen und Schwierigkeiten bei
der Integration. Jens Kirch, der eine DaZ-Klasse (kurz für Deutsch
als Zweitsprache) am CarlJacobBurckhardt-Gymnasium (CaJaBu)
in Lübeck unterrichtet, erlebt etwas ganz anderes.
„Die DaZ-Klasse ist keine reine
Flüchtlings-Klasse“, betont der
33-Jährige. Die buntgemischte
Gruppe besteht momentan aus
14 Schülern, die aus typischen
Flüchtlingsländern wie dem Iran,
Syrien und Afghanistan, aber auch
aus Ägypten, Kolumbien, Bulgarien, Rumänien, Polen und von
den Philippinen stammen. „Alle
sind dankbar für die neuen Chancen, die sie bei uns bekommen“,
sagt der Lehrer.
In der Klasse, die die erste Lübecker DaZ-Klasse an einem Gymnasium ist, sind nur leistungsstarke
Schüler. „Sie haben in ihrer Heimat regelmäßig die Schule besucht, sind gut in Mathe und Englisch und sehr ehrgeizig“, sagt
Kirch. Alles Voraussetzungen, um
das Abitur in Deutschland zu schaffen. „Warum sollten diese intelligenten Schüler erst einen mittleren Schulabschluss an einer Gemeinschaftsschule und dann eine
Ausbildung machen, bevor sie vielleicht irgendwann die Möglichkeit
haben zu studieren, wenn sie auch
das Zeug dazu haben, gleich ihr
Abitur zu machen?“
In ihrem ersten Jahr haben sie
pro Woche 25 Stunden Unterricht
in Deutsch als Zweitsprache
(DaZ). Zweitsprache bedeutet für
sie jedoch etwas anderes als zum
Beispiel Englisch für die deutschen Schüler: Deutsch ist die Sprache, mit der sie sich im Alltag verständigen müssen. „Wir beginnen
mit einfachen Sätzen wie: ,Ich heiße Jens’. Sehr viel funktioniert –
wie bei allen Kindern – durch Vormachen und Nachmachen“, erklärt Kirch. Er selbst könne weder
Arabisch noch Polnisch noch sonst
irgendeine der Sprachen, die in
den Ländern gesprochen werden,
wo die Kinder herkommen, ledig-
Filip aus Polen (vorn) spielt mit Aaron (re.) und Finn Frisbee. Dieses Spiel lieben die Schüler im Augenblick besonders. Auf der Bank beschäftiFotos: Felix König (1), Nina Gottschalk
gen sich Natalia aus Kolumbien (v.l.) Manuel und Lana aus Syrien derweil mit den Hausaufgaben.
lich Deutsch, Englisch und
Anfang sind es alltagstaugliFranzösisch. Anfangs sei es
che Sätze und Wörter zu
eine Verständigung mit
Schule,
Familie
und
Händen und Füßen.
Hobbys, zur Verständigung
Um eine DaZ-Klasse zu
zum Beispiel beim Einkauunterrichten, ist eine Zusatzfen in der Basis-Klasse. Je
qualifikation in Form einer
länger die Jugendlichen in
Fortbildung notwendig. Diedieser Klasse sind und je
se Qualifikation können Jens Kirch,
besser sie ihre zweite SpraLehrer über die Lehramts- DaZ-Lehrer. che Deutsch beherrschen,
ausbildung an der Universidesto mehr können sie am
tät Flensburg erwerben (in der 1. gewöhnlichen Schulalltag teilnehPhase) oder sich am Institut für men.
Qualitätsentwicklung an Schulen
In ihrem zweiten Jahr an der
(IQSH) in Kiel fort-und weiterbil- Schule haben sie regulären Unterden. Sie kann über eine einjährige richt und zusätzlich fünf Stunden
berufsbegleitende Fortbildung, DaZ. Dass die Schüler alle auf eiüber Kompaktkurse und künftig nem unterschiedlichen Lernstand
auch die Möglichkeiten des On- sind, ist kein Problem. „Sie arbeiline-Lernens erfolgen.
ten alle an ihren eigenen AufgaJens Kirch hat die Schulbank er- ben, in ihrem eigenen Tempo. Aufolgreich gedrückt, jetzt lernen sei- ßerdem gibt es Gruppenspiele,
ne Schüler von und mit ihm. Am wie zum Beispiel Bildkarten, zu de-
DaZ am CaJaBu
Seit einem Jahr gibt es am CaJaBu eine DaZ-Klasse (Deutsch als Zweitsprache). Hintergrund war die Notwendigkeit schulischer Bildung für die Jugendlichen in der Flüchtlingskrise. Die Klasse ist eine Außenstelle des DaZ-Zentrums der Gotthard-Kühl-Schule.
Kreis-DaZ-Beauftragte Sibylle Draber
prüft die schulische Befähigung fürs
Gymnasium. Lehrmaterialien und Räume organisiert und finanziert die Schule selbst. Derzeit besuchen 14 Schüler
die Klasse, nicht alle sind Flüchtlinge.
Sie lernen zusammen und engagieren
sich im Rahmen von „Kidzcare“, einer
schulübergreifenden Initiative zur gemeinsamen Freizeitgestaltung.
nen je nach Wissensstand mehr
oder weniger komplexe Sätze gebildet werden“, erläutert der
DaZ-Lehrer.
Während ein Fach wie Sport von
Anfang an kaum Probleme bereitet, haben die Schüler einige
Schwierigkeiten mit Religion, Philosophie, Geschichte, Geografie,
Wirtschaft und Politik. Hier ist
Fachwortschatz nötig und komplexe Kenntnisse bestimmter Theoretiker, Deutschlands und seiner Geschichte. Da hilft dann zusätzliches Lernmaterial wie zum Beispiel Bücher der „Was ist Was“Reihe.
Nicht nur für die Schüler bietet
die DaZ-Klasse am CaJaBu Chancen, sondern auch für die Schule,
stellt Kirch fest. Sie biete einen kulturellen Austausch, von dem alle
an der Schule profitierten. „Es
freut mich, wenn meine Schüler gute Noten bekommen. Aber vor allem freut mich die Akzeptanz
durch die anderen Lehrer an dieser Schule und die gute Aufnahme
der Mitschüler.“ Einer der Schüler
habe seinen Klassenkameraden
sehr persönlich von seinen Erfahrungen auf der Flucht berichtet.
Gerade dieser persönliche Bezug
sensibilisierte die Schüler für die
Problematik und begründete ihr
Engagement im Transit-Zentrum
der „Alternative e.V.“ (Walli) am
Projekttag im November.
Mittlerweile sind zwei ehemalige DaZ-Schüler im Einführungsjahrgang für die Oberstufe und machen übernächstes Jahr ihr Abitur.
Jens Kirch freut sich, dass die Integration so gut funktioniert. „Ich
hoffe, dass ihrem Beispiel noch viele folgen werden.“
Schulleiter Glasneck ist für weitere DaZ-Klassen
Adham aus Ägypten, DaZ-Lehrer Jens Kirch, Lema aus Afghanistan
und Iveta aus Bulgarien (v.l.) üben mit Bildkarten. Kacper aus Polen
steht an der selbstgestalteten Klassenpinnwand.
Kay Glasneck ist Schulleiter am
Carl-Jacob-Burckhardt-Gymnasium
(CaJaBu). Die DaZ-Klasse findet er
sinnvoll, denn „die Schüler müssen gefordert werden.“ Doch das Fachliche
ist nur die eine Ebene. „Die Schüler gehen mit den jugendlichen Flüchtlingen sehr gut und kooperativ um“, sagt
der 59-Jährige. Eine wichtige Rolle
spielten dabei die Toleranz untereinander und die Rücksichtnahme, aber
auch die Einbindung in die Klassengemeinschaft. „Die Jugendlichen spielen
in den Pausen oft zusammen Ball oder
Frisby.“
Er sähe ganz deutlich, dass die Schüler Mitarbeit leisteten. Diese Mitar-
beit äußere sich für ihn nicht nur im
gemeinsamen Spielen. „Sie unterstützen bei Fragen, gehen mal mit ins Sekretariat oder helfen, wenn es etwas
zu organisieren gilt“, berichtet er.
Für Glasneck ist es immer wieder eine Überraschung, wie schnell die jugendlichen Flüchtlinge die deutsche
Sprache lernen. Anfangs hatte der
Schulleiter Bedenken, was die Einrichtung der DaZ-Klasse angeht, aber die
Erfahrungen des vergangenen Jahres
seien zu einer „Erfolgsgeschichte“ geworden. Er spricht sich für weitere
Klassen dieser Art an der Schule aus:
„Als Unesco-Schule ist Internationalität ein Profilteil unserer Schule.“
„Ich träume sogar auf Deutsch“
Mehlika, Cem und Tamara stammen aus der Türkei und aus Polen. Das Trio ist längst „angekommen“.
Lübeck. Mehlika Topgühl, Cem Dogan und Tamara Szopa (alle 17) besuchen die gymnasiale Oberstufe
des CaJaBu in Lübeck. Tamara
stammt aus Polen, ihre beiden Mitschüler aus der Türkei. Das Trio
hat sich von zwei Mitschülern interviewen lassen. Marvin und Paul
wollten wissen, ob sie sich in
Deutschland akzeptiert fühlen
und wie sehr sie mit ihrer neuen
Heimat verbunden sind. Sind sie
„angekommen“?
Die Drei sind sich einig, dass sie
sich zwar nicht völlig mit Deutschland identifizieren, sich aber hier
wohlfühlen. „Ich habe deutsche
Freundinnen, schaue mit ihnen
,Germany's next Topmodel‘ und
esse gern deutsche Backwaren
wie Franzbrötchen“, sagt Mehlika. Man müsse ja nicht alles mö-
gen in der neuen Heimat. Zur
„deutschen Schlagerkultur“ habe
sie eher keinen Bezug. Sie schmunzelt. „Sängerinnen wie Helene Fischer oder Bands wie ,Die Flippers‘ mag ja auch nicht jeder Deutsche.“ Cem ergänzt: „Ich lebe gerne in Deutschland. Hier sind meine Freunde und mein Fußballverein.“ Alle drei haben auch negati-
Marvin und Paul befragen Cem,
Tamara und Mehlika (v.l.).
ve Erfahrungen wegen ihres Migrationshintergrundes gemacht.
Mehlika berichtet von fremdenfeindlichen Äußerungen wie „Alle
Türken sind faul oder Terroristen“, Cem von Benachteiligungen
bei Discobesuchen. „Ich wurde in
einen Club nicht reingelassen mit
den Worten: ‚Keine Ausländer
mehr, es sind schon zu viele drin‘!“
Die positiven Erlebnisse überwiegen jedoch für die Teenager.
Dabei sei die Sprache der Schlüssel zum Erfolg. Alle drei sind bilingual aufgewachsen. „Da ich meine ersten zwei Jahre in Polen verbracht habe, ist meine Muttersprache Polnisch. Jetzt spreche ich natürlich auch deutsch“, erzählt Tamara. Cem wirft ein: „Ich träume
sogar auf Deutsch. Man hat den
Vorteil, dass man in zwei Kulturen,
zwei Sprachen und zwei Gesellschaften leben kann, das empfinde ich als Bereicherung.“
Im Vergleich zum jeweiligen
Herkunftsland fällt das Resümee
für Deutschland positiv aus: bessere Zukunftsperspektiven, hoher
Lebensstandard, gute staatliche
Unterstützung
(Kindergeld,
Bafög- und Schülerstipendien).
„Meine Eltern haben hier einen guten Arbeitsplatz und verdienen ordentlich, das wäre in der Türkei
wohl nicht so“, sagt Mehlika. Einen Nachteil sieht Tamara im deutschen Schulsystem: „In Polen besteht Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr, so können alle mehr Bildung bekommen.“ Mehlika ergänzt mit einem Lachen: „Und das
Klima hier ist im Winter nicht so angenehm wie in der Türkei.“
Carl Jacob Burckhardt
Der Historiker setzte sich während
des Zweiten Weltkrieges dafür ein,
dass die Stadt Lübeck als Flüchtlingshafen eingestuft wurde. Dadurch blieb
die Stadt bei Luftangriffen der Alliierten verschont. So schuf er ein relativ
sicheres Refugium für Flüchtlinge.
Das Gymnasium wurde in den 1950er
Jahren in einem Neubaugebiet in
Lübeck errichtet, in dem es nach dem
Krieg einen starken Zuzug gab. Schon
damals setzte sich die Schule für die
Bildung und Integration der Zuwanderer und Flüchtlinge ein.
Heute werden am CaJaBu 880 Schüler unterrichtet, darunter 71 mit Migrationshintergrund. 17 verschiedene
Nationen sind vertreten.
16 Dienstag,
19. Juli 2016
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JUGEND
Angekommen
– und
willkommen!?
Neue LN-Serie: „Angekommen – und willkommen!?“ (Teil 2)
Die Lübecker Nachrichten machen
mit bei „Angekommen – und willkommen!?", einem Pilotprojekt der Hertie
Stiftung, unterstützt vom Izop-Institut
in Aachen. Es soll einen Beitrag zur
Förderung einer Willkommenskultur
gegenüber Flüchtlingen in Deutschland leisten. Dabei setzen sich Schüler
mithilfe von Tageszeitungen mit der Situation von jugendlichen Zuwanderern auseinander. Außerdem berichten sie über die
Lebenssituation,
Hoffnungen und
Perspektiven junger Migranten in
der Zeitung.
Wir sind
dabei
Wer wir sind: Wir sind 15 Schüler
der Klassen 9 und 10 im Wahlpflicht-Kurs Regionalgeschichte
am
Ernst-Barlach-Gymnasium
Schönberg (Kreis Nordwestmecklenburg). Unterstützt werden wir
von unserer Lehrerin Astrid Golla.
Warum wir mitmachen: Weil wir
neugierig auf das Thema sind und
aus Interesse an der noch unbekannten Herausforderung, die das
Projekt darstellt.
Was unser Thema ist und wie wir gerade darauf gekommen sind: „Shadowday“ (wörtl. übersetzt „Schattentag“) heißt unser Thema. Wir
wollten aktiv werden und uns eine
eigene Meinung zum Thema
Flüchtlinge bilden. Daher erschien
es uns am effektivsten, selbst einen Tag lang mit Menschen zu verbringen, die vor Krieg und Terror
geflüchtet sind. Wir haben uns in
kleine Gruppen aufgeteilt, Kontakt zu einigen Flüchtlingen aufgenommen und uns dann an unserem Projekttag sozusagen wie
Schatten ein paar Stunden an ihre
Fersen geheftet, um zu erfahren,
wie sie leben.
Was wir Neues zum Thema erfahren
haben: Die Flüchtenden suchen
überwiegend nichts mehr als Frieden, die meisten haben ein großes
Interesse an Deutschland und sind
sehr freundlich und offen. Viele
von ihnen scheinen bislang noch
ein recht eintöniges Leben zu führen – zum Beispiel vormittags
Deutschunterricht und am Nachmittag Langeweile.
Worauf wir erst jetzt oder jetzt mehr
im Umgang mit anderen Menschen/
Flüchtlingen achten: Wir versuchen, möglichst keine Vorurteile
entstehen zu lassen und statt dessen Respekt vor den schwierigen
Schicksalen der Menschen zu haben. Im Gespräch versuchen wir,
Feingefühl an den Tag zu legen,
vor allem wenn wir Fragen stellen,
die persönlich sind.
Das war die größte Herausforderung
bei unserer Reporterarbeit: Dass wir
am Anfang nicht wussten, was uns
genau erwartet. Wir hatten große
Angst davor, eine falsche Frage zu
stellen. Es war auch herausfordernd, die Konversation auf Englisch zu führen. Das führte mitunter zu etwas holprigen Gesprächen.
Was uns Lustiges, Peinliches, Verrücktes während des Projekts passierte: Beim Deutschunterricht für
Flüchtlinge in Grevesmühlen hatten wir sehr viel Spaß mit dem jungen Lehrer, Alex: Viele Lacher gab
es, als der Pädagoge den Imperativ
erläuterte und die Schüler aufforderte, seine Aufforderung zu beenden:
Alex: „Gib mir...“
Alladin aus Syrien: „100 Euro!“
Ein bisschen peinlich war uns,
als wir uns unter den Augen eines
ausländischen Koches sehr dumm
angestellt haben beim Schneiden
von Gemüse.
Unser Lieblingswitz, -spruch oder -zitat zum Thema „Angekommen – Willkommen“: Es ist zwar kein Witz,
aber die syrischen Buchstaben
scheinen für uns unergründlich zu
sein. Vor allem auf der Handytastatur sieht das sehr lustig aus.
Was wird mich erwarten? Shiar Hasso (21) aus Syrien ist einer der Flüchtlinge, die sich am „Shadow Day“ für ein paar Stunden von Schülern des Ernst-Barlach-Gymnasiums in
Fotos: Olaf Malzahn (1), die Klasse
Schönberg begleiten ließen. Im Hintergrund Jan Phillip Bohammel (15, v.l.), Henry Malonn (15), Lara Hübner (15) und Johanna Frank (16).
Schattentag – Fremdes wird vertraut
Julia und Maria haben einen Tag mit Ali aus Syrien verbracht / Auch ihre Mitschüler wurden zu „Schatten“ –
für die Gymnasten aus Schönberg ein bewegendes und bleibendes Erlebnis.
Mit einem mulmigen Gefühl im
Magen bin ich an diesem Morgen
aufgestanden. Meine Mitschüler
und ich wollten unter dem Motto
„Shadowday“ (Schattentag) einen
Tag lang Flüchtlinge begleiten,
um uns besser in deren Lage versetzen zu können.
Maria und ich waren mit Abdelhakim Shabib verabredet, einem
jungen Syrer, der vor sechs Monaten über die Balkanroute vor dem
Krieg nach Deutschland geflüchtet ist. Abdelhakim, kurz Ali, hat
uns mit zu seinem Arbeitsplatz genommen. Er hilft ehrenamtlich im
Erstaufnahmelager auf dem Volksfestplatz in Lübeck.
Marica und Lara verbrachten
den Tag gemeinsam mit einer
Gruppe junger Männer aus Syrien
und begleiteten sie zum Deutschunterricht nach Grevesmühlen.
Johanna (li.) und Sarah (vorn) genossen es, die fröhliche syrische
Familie um sich zu haben. Im
Kopf bleibt ihnen das Tanzen zu
syrischer Musik, das gemeinsame
Kochen, die positive Stimmung
im Haus und „die Liebe, die sie
ausstrahlten“, sagt Sarah.
„Schon am Abend zuvor bin ich in
meinem Kopf Situationen durchgegangen, die mich erwarten könnten“, erzählte uns Marica später.
„Eine davon war peinliche Stille,
in einer anderen versagte mein
Englisch auf ganzer Linie. Als wir
zum Bahnhof gingen, um Shiar
und die anderen zu treffen, habe
ich innerlich vor Angst gezittert.“
Auch Maria und ich waren unsicher, was uns erwarten würde. Ali
hat uns die Schule des Erstaufnahmelagers und besonders stolz seinen eigenen Schreibtisch gezeigt.
Am Anfang wirkte er schüchtern
und verschlossen. Es schien, als ob
er sich verstecke wie hinter einer
Mauer, um so wenig wie möglich
von sich preiszugeben.
Wir haben viel über den Alltag
im Erstaufnahmelager geredet,
aber uns nicht getraut, Ali persönli-
che Fragen zu stellen, aus Angst,
ihn verletzen zu können. Wir hätten gern gewusst, ob er seine Familie vermisst, ob er eine Frau in Syrien hatte oder ähnliches. Aber
wollten wir ihn wirklich zwingen,
mit zwei wildfremden Mädchen
über seine Vergangenheit in Syrien zu reden, über sein altes Leben? Wir spürten, dass ihm dieses
Leben fehlt.
Bei Marica und Lara prasselten
die Fragen nach einem etwas stockenden Beginn des Gesprächs
nur so auf die jungen Flüchtlinge
ein. „Shiar und seine Landsmänner haben alle mit einer Engelsgeduld beantwortet“, sagte Lara danach. Shiar erzählte den Mädchen, dass die kleine Gruppe in Syrien Biologie studiert habe. Außer
dem Deutschunterricht hat er
nicht viel zu tun und langweilt sich
Maria (li.) und Julia waren vor dem Treffen mit Abdelhakim sehr
nervös. Der Tag mit dem jungen Syrer hat die Mädchen sehr bewegt.
oft. Einmal pro Woche spielt er Fußball und hilft in der Bibilothek im
Ort mit.
Bei uns auf dem Volksfestplatz
stellte Maria irgendwann eine Frage, die das Gespräch mit Ali in eine unerwartete Richtung lenkte.
„Was bedeutet eigentlich Glück
für dich?“, wollte sie wissen. Alis
Gesicht war ausdruckslos, als er
antwortete: „Nichts, ich habe immer Pech im Leben. Bei allem.“ Ich
kann mich an diesem Moment genau erinnern. Ali blickte bedrückt
zu Boden.
Was bedeutet eigentlich Glück
für mich? Klar, ich brauche meine
Familie und meine Freunde, mein
Zuhause. So würde wohl jeder normale Mensch antworten. Ali aber
wurde genau das genommen, was
ihn glücklich gemacht hatte. Ich
habe in diesem Moment verstan-
Jan-Phillip (li.) und Etienne fuhren mit Efrem (26) aus Eritrea zum
Deutsch-Sprachkurs. Beim Imperativ kamen auch die Gymnasiasten ins Schwitzen. Efrem lebt mit
Frau und Tochter in Mallentin.
Dort kochte er nach der Schule
Hühnchen für seine Gäste.
den, worum es beim Flüchten
geht. Nicht einfach darum, sein
Land zu verlassen, sondern darum,
sein persönliches Glück zu verlassen und in Deutschland zu versuchen, wieder zu finden.
Nach einem Augenblick des
Schweigens hat Ali uns gesagt,
dass er nicht versteht, was manche
Deutsche gegen Flüchtlinge haben. Er wolle nichts mehr als ein
friedliches Leben in Deutschland,
einen Job – am liebsten als Hotelmanager –, neue Freundschaften,
und sich mit der deutschen Politik
zu befassen.
Wir haben in diesem Moment einen anderen Ali kennengelernt als
am Vormittag. Einen Ali der Träume und Ziele hat, ein neues Leben
anfangen möchte und glücklich
werden will, in einem Land, das er
so interessant findet, welches ihn
toleriert und wo die Menschen
freundlich zueinander sind.
Als wir uns von Ali verabschiedet haben, ist mir klar geworden,
wie sehr mir dieser Tag die Augen
geöffnet, und meine Einstellung
gegenüber geflüchteten Menschen geändert hat. Diese Menschen haben meinen tiefsten Respekt.
Ich wünsche mir für jeden einzelnen, der den Mut hatte, sein persönliches Glück zu verlassen, um
ein besseres Leben anzufangen,
dass er hier ein neues Glück findet.
Denn das ist das wichtigste für einen Menschen und jeder hat das
Recht, es zu besitzen.
Julia
„Sie sind Menschen wie wir“
Dania aus Damaskus
Alisa Weihs hat die Ängste mancher Menschen gegenüber Flüchtlingen skizziert
Die Syrerin fand schnell Anschluss in Schönberg
Ein Mann sieht auf der Straße zwei
vermummte Frauen, nur ihre Augen sind zu sehen. Sofort denkt er
an islamische Terroristen mit Maschinengewehren, an Krieg und
Gefahr. Auf dem zweiten Teil des
Bildes schaut derselbe Mann um
die Ecke und beobachtet die Frauen mit großen Augen weiter. Jetzt
sieht man, dass eine der beiden einen kleinen Jungen an der Hand
hält, der wiederum einen Teddy
hinter sich herzieht. Die Mutter
schaut zu dem Kind, das sie anlacht.
Auf dem dritten Teil der Bildes
sitzt die Frau neben einer anderen
Mutter auf der Bank, während ihr
Sohn und ein kleines blondes Mäd-
chen zusammen im Sand spielen.
„Die Karikatur soll zeigen, dass viele Menschen unbegründete Vorurteile gegenüber Flüchtlingen haben“, sagt Alisa Weihs. „Sie sind
Menschen wie wir und wollen nur
in Frieden leben. Bevor man sich eine falsche Meinung bildet, sollte
man versuchen, mit ihnen zu reden und sie zu verstehen.“
Dania kam mit ihrer Famisuchten die Familie und
lie, zu der acht weitere Gezeigten ihnen Schönberg
schwister gehören, Anfang
und die Schule. Sie kam in
Dezember nach Schönberg
die 10. Klasse und nahm am
(Nordwestmecklenburg).
Unterricht Teil. Eine unseWegen der Kriegsunruhen
rer Schülerinnen, Lisa,
war die 18-Jährige mit ihrer
freundetet sich mit ihr an
Familie aus Damaskus in Syund verbrachte auch einen
rien geflohen. Über die Dania (18)
Teil der Freizeit mit ihr.
evangelische
Gemeinde aus Syrien.
In Damaskus hat Dania
kam der Kontakt zustande.
die Schule beendet und ein
Wir wollten der Familie möglichst Semester englische Literatur stuschnell helfen und haben viel Klei- diert. Ihre offene, freundliche Art
dung zu ihnen gebracht.
hat dazu geführt, dass sie schnell
Da Dania die einzige der Fami- Kontakt zu Schülern unserer Schulie war, mit der wir uns auf Eng- le aufbauen konnte. Im Mai belisch verständigen konnten, wurde gann der Deutschkurs für sie und
sie mehr und mehr von uns in den ihre Familie. Seitdem sehen wir
Schulalltag eingebunden. Wir be- uns nur noch selten. Astrid Golla
XVI Mittwoch,
20. Juli 2016
Angekommen
– und
willkommen!?
Die Lübecker Nachrichten machen
mit bei „Angekommen – und willkommen!?", einem Pilotprojekt der Hertie
Stiftung, unterstützt vom Izop-Institut
in Aachen. Es soll einen Beitrag zur
Förderung einer Willkommenskultur
gegenüber Flüchtlingen in Deutschland leisten. Dabei setzen sich Schüler
mithilfe von Tageszeitungen mit der Situation von jugendlichen Zuwanderern auseinander. Außerdem berichten sie über die
Lebenssituation,
Hoffnungen und
Perspektiven junger Migranten in
der Zeitung.
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JUGEND
Neue LN-Serie: „Angekommen – und willkommen!?“ (Teil 3)
Mit quietschenden Reifen durch Lübeck
Am Johanneum geben Schüler Flüchtlingskindern Verkehrsunterricht. Es wird viel gelernt und gelacht.
Wir sind
dabei
Wer wir sind:
Wir sind die Presse-AG des Johanneums: 20 Schülerinnen und Schüler der 6. bis 11. Klasse, die sich für
Medien im Allgemeinen, das
Schreiben von spannenden Artikeln und die journalistische Arbeit
interessieren.
Warum wir mitmachen:
In unserer Arbeitsgemeinschaft lernen wir, wie man Interviews führt,
Informationen recherchiert und Artikel schreibt. Wir finden es toll,
dass wir durch dieses Projekt die
Chance haben, eigene Texte in
der Zeitung veröffentlichen zu dürfen.
Was unser Thema ist und wie wir
gerade darauf gekommen sind:
Bisher wussten wir zwar, dass es
am Johanneum eine Flüchtlingshilfe-AG gibt, über deren Arbeit wir
im Rahmen unseres Projektes berichten wollten. Aber erst durch unsere Recherchen haben wir erfahren, wie spannend und vielfältig
das Engagement unserer Mitschüler ist.
Halla (5) saust fröhlich über den Schulhof des Johanneums. Sie ist eines der Kinder, die beim VerkehrstraiFotos: Foto-AG, Leiter: André Feller
ning am Johanneum lernen, wie sie sich im Straßenverkehr richtig verhalten.
Was wir Neues zum Thema erfahren
haben:
Wir haben in vielen persönlichen
Begegnungen erlebt, dass es toll
ist, geflüchtete Kinder und Jugendliche persönlich kennenzulernen,
ihnen zu helfen und sie bei der Integration zu unterstützen. Und wir
finden die Ideen der Flüchtlingshilfe-AG großartig, Verkehrserziehung anzubieten und gemeinsame Musikprojekte zu veranstalten.
Worauf wir erst jetzt oder jetzt mehr
im Umgang mit anderen Menschen/
Flüchtlingen achten:
Uns ist aufgefallen, dass es in den
Gesprächen mit uns für die geflüchteten Kinder viel wichtiger
war, wie sie ihre Gegenwart gestalten können und wie ihre Zukunft
in Deutschland aussehen kann, als
über ihre zum Teil sehr schrecklichen Erlebnisse in der Vergangenheit zu reden. Sie wollen genauso
wie wir lachen, unbeschwert leben, Spaß haben und Neues lernen.
Die größte Herausforderung bei
unserer Reporterarbeit war:
Es war manchmal ziemlich schwierig für uns, richtige professionelle
Interviews mit den Flüchtlingskindern zu führen. Die wollten nämlich meistens viel lieber mit uns
spielen, als nur mit uns zu sprechen.
Was uns Lustiges, Besonderes,
Verrücktes während des Projekts
passierte:
Einige Kinder waren total quirlig,
ein bisschen zappelig und die Verständigung mit ihnen gestaltete
sich ganz schön schwierig. Aber
dann haben sie bei unserem Schulfest gemeinsam mit dem Juniorchor des Johanneum gesungen
und musiziert. Auf einmal war das
eine harmonische Gruppe, die etwas Tolles zusammen auf die Beine gestellt hat.
Unser Lieblingswitz, -spruch oder
-zitat zum Thema „Angekommen –
Willkommen“:
Uns ist klar geworden, wie wichtig
der erste Artikel unseres Grundgesetzes ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Noch ist der Fahrstil etwas unsicher, aber die Johanneer stehen den
syrischen Kindern mit Tipps und Tricks zur Seite.
Ein Raum zum Wohlfühlen
Die AG Flüchtlingshilfe lässt Kinder Kinder sein
Gemeinsam malen, basteln, spielen, lachen und einfach mal die Sorgen aussperren. All das ermöglichen die Schüler der Arbeitsgemeinschaft (AG) Flüchtlingshilfe
des Johanneums den drei- bis
zehnjährigen Kindern, die erst vor
Kurzem mit ihren Familien in Lübeck angekommen sind.
Seit Anfang des Jahres treffen
sich die Johanneer zweimal wöchentlich mit den zehn bis zwölf
Flüchtlingskindern. Sie helfen ihnen dabei, sich mit den deutschen
Gepflogenheiten und kulturellen
Besonderheiten vertraut zu machen: Wann gebe ich jemandem
die Hand? Wie beginne ich ein Gespräch? Was gehört sich und was
nicht? Zum anderen geht es darum, zusammen kreativ zu sein, zu
toben und einfach Spaß zu haben.
In einem eigens für diesen
Zweck zur Verfügung gestellten
Raum haben sich die Kinder mittlerweile einen tollen Rückzugsort
geschaffen: Hübsche Zeichnungen sowie bunte Schmetterlinge
und andere gebastelte Tiere
schmücken die vorher so kahlen
Wände und Fenster. Die Kinder haben alles selbst gestaltet und nach
ihren Vorstellungen dekoriert.
,,Es ist viel schöner und total
wichtig, in einem Raum zu sein, in
dem man sich wohlfühlen kann
und der nicht so leer und kahl aussieht“, erklärte Anna (13), eine
Schülerin der AG. Zum wöchentlichen Programm gehört vor allem
das Spielen mit Playmobilfiguren
und „Mensch-ärgere-dich-nicht“.
Auch das Malen ist sehr beliebt.
Die Tafel an der Stirnseite des Raumes wird mit Häusern, Bäumen
und Tieren bemalt. „Mit den Zeichnungen lassen sich unbekannte
Wörter gut darstellen, so lernt man
spielerisch neue Vokabeln“, sagt
Talim (16), der hier ebenfalls hilft.
Beim aktuellen Lieblingsspiel der
Kinder namens „Halli Galli“ muss
blitzschnell auf eine Tischklingel
gehauen werden, wenn zwei identische Karten gelegt werden. Dabei haben die Kinder nicht nur viel
Spaß, sondern verbessern nebenbei ihre Deutschkenntnisse.
Auch wenn viele der Kinder berichten, dass sie schon erste Freunde in Deutschland gefunden haben, kommen sie immer noch gern
zu den AG-Treffen. Denn es wird
sehr viel gelacht in diesem Raum,
der viel Platz schafft, um einfach
Kind sein zu können.
Caroline (13) erklärt, welche Zeichen im Kreisverkehr nötig sind.
Lübeck. Langsam füllt sich der
Schulhof des Johanneums zu Lübeck mit neugierigen und fröhlichen Kindern. Die meisten haben
Fahrräder dabei und strahlen
übers ganze Gesicht. Wenn man
die Augen schließt und sich nur
auf ihr Lachen konzentriert, vergisst man schnell, dass diese Kinder zum Teil schon traumatische
Erfahrungen machen mussten. Sie
alle kommen aus den Kriegsgebieten Syriens und mussten mit ansehen, wie ihre Heimatorte zerstört
oder ihre Nachbarn getötet wurden.
Der Kontrast zu der unbeschwerten Atmosphäre des Verkehrstrainings am Johanneum könnte
kaum größer sein. Seit vier Monaten treffen sich engagierte Schüler
jeden Montag auf dem Schulhof,
um die Flüchtlingskinder, die erst
seit kurzer Zeit in Lübeck leben,
auf den deutschen Straßenverkehr
vorzubereiten.
Caroline Lehmann (13) legt mit
Hilfe von Pylonen Kurven an. Hier
üben die Kinder, die entsprechende Hand rauszustrecken, bevor sie
an einer Kreuzung abbiegen.
Auch Kreisverkehre werden auf
dem Schulhof nachgestellt. „Die
sind in Lübeck sehr gefährlich“,
sagt Caroline. „Die Kinder lernen,
wie man anzeigt, wenn man dem
Kreisverkehr noch weiter folgen
oder ihn verlassen möchte.“
Einige Schüler malen mit Kreide
einen Zebrastreifen auf den Boden. Sie erklären den syrischen
Kindern, dass sie hier Fußgänger
die Straße überqueren lassen müssen. Viele von ihnen kennen keine
Zebrastreifen, da es diese in ihren
Heimatstädten nicht gibt, und fahren einfach weiter, wenn sie eigentlich halten müssten.
Als einige Schüler mit den
Flüchtlingskindern vor einigen
Monaten eine Straße passierten,
entstand dabei ein heilloses Chaos. Die Kinder rannten kreuz und
quer über die Straße, ohne zu gucken, ob Autos die Straße entlang
fahren. Einige spielten sogar Fangen. Zum Glück konnten alle Pkw
rechtzeitig bremsen und es wurde
keiner verletzt. Die Kinder wussten nicht, dass man nach rechts
und links gucken muss, bevor man
eine Straße überquert. Sie wussten
nicht, dass man auf den meisten
Straßen nicht spielen darf. In ihren
Heimatorten waren meist nicht viele Autos unterwegs gewesen, dort
konnten sie auf den Straßen Fangen oder Fußball spielen. Auch
Ampeln sind vielen der jungen
Verkehrsteilnehmer fremd.
Nach diesem Erlebnis kam Anton und Talim (beide 16), zwei
Oberstufenschülern des Johanneums, die Idee, mit den Flüchtlingen genau solche Situationen zu
üben. In Absprache mit der Schulleitung wurde das Projekt der Verkehrserziehung ins Leben gerufen. Ursprünglich war es nur für eine Stunde angesetzt, doch der Ansturm war so groß, dass die Flüchtlingshilfe-AG beschloss, das Projekt fortzuführen. Manchmal kommen bis zu zehn Kinder im Alter
von fünf bis zwölf Jahren.
In den ersten Wochen traf man
sich in der Sporthalle. Da diese
aber zu klein ist, um mit Fahrrädern darin zu fahren, entschlossen
sich die Mitglieder der AG dafür,
in dieser Zeit erst einmal theoretische Grundlagen zu vermitteln.
Wichtige Verkehrsschilder wie
Stopp-, Vorfahrts- oder Sackgassenschilder wurden auf die Tafel
gemalt und erklärt. Um den theoretischen Unterricht aufzulockern,
wurde am Ende jeder Stunde ein
Spiel gespielt, am beliebtesten
war „Halli Galli“. „Vor allem Halla, unserer jüngsten Teilnehmerin,
macht das Spiel wahnsinnigen
Spaß. Sie tippt immer viel schneller auf die Klingel als alle anderen,
obwohl sie erst fünf Jahre alt ist“,
erzählt Talim und lacht.
Weil viele der Kinder noch nicht
so gut deutsch sprechen, erklären
die Mitglieder der AG viel mit Mimik und Gestik. Ab und zu können
auch die älteren Flüchtlinge Sachen für die anderen Kinder übersetzen, da sie die Sprache meistens schon etwas besser beherrschen.
Da es immer genug Schüler des
Johanneums gibt, die helfen möchten, kann sich meist ein Schüler intensiv um einen Flüchtling kümmern und so bei Problemen immer
zur Stelle sein.
Die Fahrräder, die die Flüchtlingskinder benutzen, wurden von
der Stadt gestellt. Bislang steht
nicht jedem Kind ein Fahrrad zur
Verfügung, deshalb wird untereinder getauscht. „Es wäre toll, wenn
das Johanneum eigene Fahrräder
hätte, sodass noch mehr Teilnehmer gleichzeitig fahren könnten“,
sagt Anton. „Dann würden womöglich auch noch mehr Kinder mitmachen, die sich bis jetzt nicht trauten, weil sie kein eigenes Fahrrad
haben“, vermutet der Teenager.
„Wer also ein funktionstüchtiges
Fahrrad übrig hat, das er ausrangieren möchte, der kann das gern
unserer Flüchtlingshilfe-AG zukommen lassen. Wir würden uns
über solche Spenden sehr freuen“,
sagt Anton. Dann muss er zurück
an die Arbeit. Halla ist inzwischen
längst wieder davongesaust.
Musik verbindet
Das Projekt „Integration durch Kunst“ setzt auf die Kraft von Tönen und Melodien
„Die Musik drückt das aus, was
nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich
ist“, sagte der französische Schriftsteller Victor Hugo. Die besondere
Kraft von Musik wird von Menschen schon lange geschätzt. Töne
und Melodien sind ein wichtiges
Kulturgut, können Vertrauen
schaffen und heilende Wirkung haben. Diese Aspekte werden in dem
Projekt „Integration durch Kunst“
aufgegriffen. Es wurde von dem
Verein „Talente e.V.“ ins Leben
gerufen, der sich vor allem für die
sprachliche, kulturelle und berufliche Integration von Ausländern
einsetzt.
Mit dem Hintergedanken, Musik als starkes Mittel der Kommunikation und Integration zu verwenden, werden seit Anfang Februar
rund 25 Zufluchtsuchende jeden
Alters von professionellen Musiklehrern am Johanneum zu Lübeck
unterrichtet, um kulturelle Erfahrungen auszutauschen und Erlebtes zu verarbeiten. In kleinen Gruppen aus zwei bis fünf Teilnehmern,
soll das gemeinsame Musizieren
ihnen ein Gefühl von Normalität
geben und eine Vertrauensbasis
schaffen. „Es ist schön, so motivierBei einem Auftritt zum Schulfest
te und lebensfrohe Menschen un- wurde deutlich, was Musik alles
terrichten zu dürfen. Die Musik tut bewegen kann und wie viel Potenuns allen gut“, sagt Tatiana Vit- tial darin steckt. Der Junior-Chor
kovskaya, Leiterin des Projektes.
des Johanneums und ein EnsemDer Umgang mit Gesang, Trom- ble von geflüchteten Kindern tramel, Gitarre und anderen Instru- ten gemeinsam auf, sangen und
menten soll den Integrationspro- musizierten zusammen. Der Erlös
zess unterstützen, da es für Men- ging an die Flüchtlings AG.
schen mit geringen Sprachkenntnissen oft schwer ist, in einem fremden Land mit fremder Kultur Fuß
zu fassen. „Die Zeit mit den anderen Schülern hilft den geflüchteten
Kindern sehr, da sie schnell in Kontakt kommen und viel Spaß zusammen haben“, sagt eine Schülerin.
Um die Sprachbarriere zu überwinden, stellt sich eine Lehrerin als
Dolmetscherin zur Verfügung, die
aus Syrien stammt.
Gespielt wird in den Musikräumen des Johanneums, dessen
Schüler sich ebenfalls tatkräftig
für das Projekt engagieren. So
kann eine individuelle musikalische Betreuung angeboten werden. Oft entsteht beim Spielen eine ausgelassene Stimmung, die
Freude steht den Teilnehmern ins
Gesicht geschrieben. Die Musik Musik verbindet. Sprache ist hier
nicht so wichtig.
verbindet sie alle miteinander.