> < Sonnabend, 2. Juli 2016 JUGEND Angekommen – und willkommen!? Die Lübecker Nachrichten machen mit bei „Angekommen – und willkommen!?“, einem Pilotprojekt der Hertie Stiftung, unterstützt vom Izop-Institut in Aachen. Es soll einen Beitrag zur Förderung einer Willkommenskultur gegenüber Flüchtlingen in Deutschland leisten. Dabei setzen sich Schüler mithilfe von Tageszeitungen mit der Situation von jugendlichen Zuwanderern auseinander. Außerdem berichten sie über die Lebenssituation, Hoffnungen und Perspektiven junger Migranten in der Zeitung. Wir sind dabei Wer wir sind: Die Klasse Q1c (gesellschaftswissenschaftliches Profil mit dem Schwerpunkt Wirtschaft und Politik) des Carl-Jacob-Burckhardt-Gymnasiums in Lübeck. Wir werden nächstes Jahr das Abitur machen. Wir sind 28 Schüler, 13 Jungen und 15 Mädchen. In unserer Klasse haben acht Schüler einen Migrationshintergrund. Warum wir mitmachen: Da gibt es mehrere Gründe. Einerseits die aktuelle Flüchtlingssituation, da wir dazu einen starken fachlichen Bezug haben: Die Flüchtlings- und Asylpolitik stellt einen Bereich der Politik dar. Andererseits ist aber auch unsere Deutschlehrerin Anne Kunold dafür verantwortlich, weil sie gern an Zeitungsprojekten teilnimmt und mit uns die Aktion machen wollte. Was unser Thema ist und wie wir gerade darauf gekommen sind: Schwerpunkt ist die DaZ-Klasse an unserer Schule. Dabei handelt es sich um die erste DaZ-Klasse an einem Gymnasium in Lübeck. Mittlerweile gibt es aber mehrere Angebote. Weil es die erste Klasse war, war es natürlich leicht, darauf zu kommen. Was wir Neues zum Thema erfahren haben: Dass die Schüler neben dem Sprachunterricht schon mit den „normalen“ Klassen in einzelnen Fächern lernen, obwohl sie ja eigentlich noch gar nicht so gut Deutsch können. Und dass sie so schnell die für sie fremde Sprache lernen können. Bei uns dauert das doch etwas länger... Worauf wir erst jetzt oder jetzt mehr im Umgang mit anderen Menschen/ Flüchtlingen achten: Alle Menschen sind gleich und so behandeln wir sie auch, aber das ist eigentlich nicht wirklich neu. In der Klasse haben wir viele Mitschüler mit Migrationshintergrund und unser Klassenlehrer hat auch einen Migrationshintergrund. Seine Eltern stammen aus Italien. Die größte Herausforderung bei unserer Reporterarbeit war: Das Verfassen der einzelnen Artikel. Besonders schwer war es, alles spannend für den Leser zu gestalten, sodass dieser unsere Texte auch gern lesen möchte. Dabei darauf zu achten, dass inhaltlich auch alles vollständig ist, war ebenfalls schwer. Und wir hätten nicht erwartet, dass man als Journalist trotz Gesprächsnotizen und Aufnahmen mit den Interviewpartnern im Nachhinein doch immer noch mal Dinge klären muss. Was uns Lustiges, Peinliches, Verrücktes während des Projekts passierte: Eigentlich nicht so viel. Mal von den Rechtschreibfehlern in den ersten Versionen der Texte abgesehen, die uns dann doch schon etwas peinlich waren. Vor allem, weil wir einen der Texte sogar dem Schulleiter zum Gegenlesen gegeben haben. Unser Lieblingswitz, -spruch oder -zitat zum Thema „Angekommen – willkommen!?“: „Wann sind wir denn endlich angekommen?“ Die scheinbar nicht enden wollende Überarbeitung der Texte war schon ganz schön anstrengend für uns. 33 Neue LN-Serie: „Angekommen – und willkommen!?“ (Teil 1) DaZ – Sprache ist der Schlüssel Am Carl-Jacob-Burckhardt-Gymnasium in Lübeck werden junge Flüchtlinge mithilfe der DaZ-Klasse (Deutsch als Zweitsprache) gut integriert und aufs Abitur vorbereitet. Lübeck. Wenn es um Flüchtlinge geht, gibt es häufig negative Schlagzeilen, Berichte von Anfeindungen und Schwierigkeiten bei der Integration. Jens Kirch, der eine DaZ-Klasse (kurz für Deutsch als Zweitsprache) am CarlJacobBurckhardt-Gymnasium (CaJaBu) in Lübeck unterrichtet, erlebt etwas ganz anderes. „Die DaZ-Klasse ist keine reine Flüchtlings-Klasse“, betont der 33-Jährige. Die buntgemischte Gruppe besteht momentan aus 14 Schülern, die aus typischen Flüchtlingsländern wie dem Iran, Syrien und Afghanistan, aber auch aus Ägypten, Kolumbien, Bulgarien, Rumänien, Polen und von den Philippinen stammen. „Alle sind dankbar für die neuen Chancen, die sie bei uns bekommen“, sagt der Lehrer. In der Klasse, die die erste Lübecker DaZ-Klasse an einem Gymnasium ist, sind nur leistungsstarke Schüler. „Sie haben in ihrer Heimat regelmäßig die Schule besucht, sind gut in Mathe und Englisch und sehr ehrgeizig“, sagt Kirch. Alles Voraussetzungen, um das Abitur in Deutschland zu schaffen. „Warum sollten diese intelligenten Schüler erst einen mittleren Schulabschluss an einer Gemeinschaftsschule und dann eine Ausbildung machen, bevor sie vielleicht irgendwann die Möglichkeit haben zu studieren, wenn sie auch das Zeug dazu haben, gleich ihr Abitur zu machen?“ In ihrem ersten Jahr haben sie pro Woche 25 Stunden Unterricht in Deutsch als Zweitsprache (DaZ). Zweitsprache bedeutet für sie jedoch etwas anderes als zum Beispiel Englisch für die deutschen Schüler: Deutsch ist die Sprache, mit der sie sich im Alltag verständigen müssen. „Wir beginnen mit einfachen Sätzen wie: ,Ich heiße Jens’. Sehr viel funktioniert – wie bei allen Kindern – durch Vormachen und Nachmachen“, erklärt Kirch. Er selbst könne weder Arabisch noch Polnisch noch sonst irgendeine der Sprachen, die in den Ländern gesprochen werden, wo die Kinder herkommen, ledig- Filip aus Polen (vorn) spielt mit Aaron (re.) und Finn Frisbee. Dieses Spiel lieben die Schüler im Augenblick besonders. Auf der Bank beschäftiFotos: Felix König (1), Nina Gottschalk gen sich Natalia aus Kolumbien (v.l.) Manuel und Lana aus Syrien derweil mit den Hausaufgaben. lich Deutsch, Englisch und Anfang sind es alltagstaugliFranzösisch. Anfangs sei es che Sätze und Wörter zu eine Verständigung mit Schule, Familie und Händen und Füßen. Hobbys, zur Verständigung Um eine DaZ-Klasse zu zum Beispiel beim Einkauunterrichten, ist eine Zusatzfen in der Basis-Klasse. Je qualifikation in Form einer länger die Jugendlichen in Fortbildung notwendig. Diedieser Klasse sind und je se Qualifikation können Jens Kirch, besser sie ihre zweite SpraLehrer über die Lehramts- DaZ-Lehrer. che Deutsch beherrschen, ausbildung an der Universidesto mehr können sie am tät Flensburg erwerben (in der 1. gewöhnlichen Schulalltag teilnehPhase) oder sich am Institut für men. Qualitätsentwicklung an Schulen In ihrem zweiten Jahr an der (IQSH) in Kiel fort-und weiterbil- Schule haben sie regulären Unterden. Sie kann über eine einjährige richt und zusätzlich fünf Stunden berufsbegleitende Fortbildung, DaZ. Dass die Schüler alle auf eiüber Kompaktkurse und künftig nem unterschiedlichen Lernstand auch die Möglichkeiten des On- sind, ist kein Problem. „Sie arbeiline-Lernens erfolgen. ten alle an ihren eigenen AufgaJens Kirch hat die Schulbank er- ben, in ihrem eigenen Tempo. Aufolgreich gedrückt, jetzt lernen sei- ßerdem gibt es Gruppenspiele, ne Schüler von und mit ihm. Am wie zum Beispiel Bildkarten, zu de- DaZ am CaJaBu Seit einem Jahr gibt es am CaJaBu eine DaZ-Klasse (Deutsch als Zweitsprache). Hintergrund war die Notwendigkeit schulischer Bildung für die Jugendlichen in der Flüchtlingskrise. Die Klasse ist eine Außenstelle des DaZ-Zentrums der Gotthard-Kühl-Schule. Kreis-DaZ-Beauftragte Sibylle Draber prüft die schulische Befähigung fürs Gymnasium. Lehrmaterialien und Räume organisiert und finanziert die Schule selbst. Derzeit besuchen 14 Schüler die Klasse, nicht alle sind Flüchtlinge. Sie lernen zusammen und engagieren sich im Rahmen von „Kidzcare“, einer schulübergreifenden Initiative zur gemeinsamen Freizeitgestaltung. nen je nach Wissensstand mehr oder weniger komplexe Sätze gebildet werden“, erläutert der DaZ-Lehrer. Während ein Fach wie Sport von Anfang an kaum Probleme bereitet, haben die Schüler einige Schwierigkeiten mit Religion, Philosophie, Geschichte, Geografie, Wirtschaft und Politik. Hier ist Fachwortschatz nötig und komplexe Kenntnisse bestimmter Theoretiker, Deutschlands und seiner Geschichte. Da hilft dann zusätzliches Lernmaterial wie zum Beispiel Bücher der „Was ist Was“Reihe. Nicht nur für die Schüler bietet die DaZ-Klasse am CaJaBu Chancen, sondern auch für die Schule, stellt Kirch fest. Sie biete einen kulturellen Austausch, von dem alle an der Schule profitierten. „Es freut mich, wenn meine Schüler gute Noten bekommen. Aber vor allem freut mich die Akzeptanz durch die anderen Lehrer an dieser Schule und die gute Aufnahme der Mitschüler.“ Einer der Schüler habe seinen Klassenkameraden sehr persönlich von seinen Erfahrungen auf der Flucht berichtet. Gerade dieser persönliche Bezug sensibilisierte die Schüler für die Problematik und begründete ihr Engagement im Transit-Zentrum der „Alternative e.V.“ (Walli) am Projekttag im November. Mittlerweile sind zwei ehemalige DaZ-Schüler im Einführungsjahrgang für die Oberstufe und machen übernächstes Jahr ihr Abitur. Jens Kirch freut sich, dass die Integration so gut funktioniert. „Ich hoffe, dass ihrem Beispiel noch viele folgen werden.“ Schulleiter Glasneck ist für weitere DaZ-Klassen Adham aus Ägypten, DaZ-Lehrer Jens Kirch, Lema aus Afghanistan und Iveta aus Bulgarien (v.l.) üben mit Bildkarten. Kacper aus Polen steht an der selbstgestalteten Klassenpinnwand. Kay Glasneck ist Schulleiter am Carl-Jacob-Burckhardt-Gymnasium (CaJaBu). Die DaZ-Klasse findet er sinnvoll, denn „die Schüler müssen gefordert werden.“ Doch das Fachliche ist nur die eine Ebene. „Die Schüler gehen mit den jugendlichen Flüchtlingen sehr gut und kooperativ um“, sagt der 59-Jährige. Eine wichtige Rolle spielten dabei die Toleranz untereinander und die Rücksichtnahme, aber auch die Einbindung in die Klassengemeinschaft. „Die Jugendlichen spielen in den Pausen oft zusammen Ball oder Frisby.“ Er sähe ganz deutlich, dass die Schüler Mitarbeit leisteten. Diese Mitar- beit äußere sich für ihn nicht nur im gemeinsamen Spielen. „Sie unterstützen bei Fragen, gehen mal mit ins Sekretariat oder helfen, wenn es etwas zu organisieren gilt“, berichtet er. Für Glasneck ist es immer wieder eine Überraschung, wie schnell die jugendlichen Flüchtlinge die deutsche Sprache lernen. Anfangs hatte der Schulleiter Bedenken, was die Einrichtung der DaZ-Klasse angeht, aber die Erfahrungen des vergangenen Jahres seien zu einer „Erfolgsgeschichte“ geworden. Er spricht sich für weitere Klassen dieser Art an der Schule aus: „Als Unesco-Schule ist Internationalität ein Profilteil unserer Schule.“ „Ich träume sogar auf Deutsch“ Mehlika, Cem und Tamara stammen aus der Türkei und aus Polen. Das Trio ist längst „angekommen“. Lübeck. Mehlika Topgühl, Cem Dogan und Tamara Szopa (alle 17) besuchen die gymnasiale Oberstufe des CaJaBu in Lübeck. Tamara stammt aus Polen, ihre beiden Mitschüler aus der Türkei. Das Trio hat sich von zwei Mitschülern interviewen lassen. Marvin und Paul wollten wissen, ob sie sich in Deutschland akzeptiert fühlen und wie sehr sie mit ihrer neuen Heimat verbunden sind. Sind sie „angekommen“? Die Drei sind sich einig, dass sie sich zwar nicht völlig mit Deutschland identifizieren, sich aber hier wohlfühlen. „Ich habe deutsche Freundinnen, schaue mit ihnen ,Germany's next Topmodel‘ und esse gern deutsche Backwaren wie Franzbrötchen“, sagt Mehlika. Man müsse ja nicht alles mö- gen in der neuen Heimat. Zur „deutschen Schlagerkultur“ habe sie eher keinen Bezug. Sie schmunzelt. „Sängerinnen wie Helene Fischer oder Bands wie ,Die Flippers‘ mag ja auch nicht jeder Deutsche.“ Cem ergänzt: „Ich lebe gerne in Deutschland. Hier sind meine Freunde und mein Fußballverein.“ Alle drei haben auch negati- Marvin und Paul befragen Cem, Tamara und Mehlika (v.l.). ve Erfahrungen wegen ihres Migrationshintergrundes gemacht. Mehlika berichtet von fremdenfeindlichen Äußerungen wie „Alle Türken sind faul oder Terroristen“, Cem von Benachteiligungen bei Discobesuchen. „Ich wurde in einen Club nicht reingelassen mit den Worten: ‚Keine Ausländer mehr, es sind schon zu viele drin‘!“ Die positiven Erlebnisse überwiegen jedoch für die Teenager. Dabei sei die Sprache der Schlüssel zum Erfolg. Alle drei sind bilingual aufgewachsen. „Da ich meine ersten zwei Jahre in Polen verbracht habe, ist meine Muttersprache Polnisch. Jetzt spreche ich natürlich auch deutsch“, erzählt Tamara. Cem wirft ein: „Ich träume sogar auf Deutsch. Man hat den Vorteil, dass man in zwei Kulturen, zwei Sprachen und zwei Gesellschaften leben kann, das empfinde ich als Bereicherung.“ Im Vergleich zum jeweiligen Herkunftsland fällt das Resümee für Deutschland positiv aus: bessere Zukunftsperspektiven, hoher Lebensstandard, gute staatliche Unterstützung (Kindergeld, Bafög- und Schülerstipendien). „Meine Eltern haben hier einen guten Arbeitsplatz und verdienen ordentlich, das wäre in der Türkei wohl nicht so“, sagt Mehlika. Einen Nachteil sieht Tamara im deutschen Schulsystem: „In Polen besteht Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr, so können alle mehr Bildung bekommen.“ Mehlika ergänzt mit einem Lachen: „Und das Klima hier ist im Winter nicht so angenehm wie in der Türkei.“ Carl Jacob Burckhardt Der Historiker setzte sich während des Zweiten Weltkrieges dafür ein, dass die Stadt Lübeck als Flüchtlingshafen eingestuft wurde. Dadurch blieb die Stadt bei Luftangriffen der Alliierten verschont. So schuf er ein relativ sicheres Refugium für Flüchtlinge. Das Gymnasium wurde in den 1950er Jahren in einem Neubaugebiet in Lübeck errichtet, in dem es nach dem Krieg einen starken Zuzug gab. Schon damals setzte sich die Schule für die Bildung und Integration der Zuwanderer und Flüchtlinge ein. Heute werden am CaJaBu 880 Schüler unterrichtet, darunter 71 mit Migrationshintergrund. 17 verschiedene Nationen sind vertreten. 16 Dienstag, 19. Juli 2016 > < JUGEND Angekommen – und willkommen!? Neue LN-Serie: „Angekommen – und willkommen!?“ (Teil 2) Die Lübecker Nachrichten machen mit bei „Angekommen – und willkommen!?", einem Pilotprojekt der Hertie Stiftung, unterstützt vom Izop-Institut in Aachen. Es soll einen Beitrag zur Förderung einer Willkommenskultur gegenüber Flüchtlingen in Deutschland leisten. Dabei setzen sich Schüler mithilfe von Tageszeitungen mit der Situation von jugendlichen Zuwanderern auseinander. Außerdem berichten sie über die Lebenssituation, Hoffnungen und Perspektiven junger Migranten in der Zeitung. Wir sind dabei Wer wir sind: Wir sind 15 Schüler der Klassen 9 und 10 im Wahlpflicht-Kurs Regionalgeschichte am Ernst-Barlach-Gymnasium Schönberg (Kreis Nordwestmecklenburg). Unterstützt werden wir von unserer Lehrerin Astrid Golla. Warum wir mitmachen: Weil wir neugierig auf das Thema sind und aus Interesse an der noch unbekannten Herausforderung, die das Projekt darstellt. Was unser Thema ist und wie wir gerade darauf gekommen sind: „Shadowday“ (wörtl. übersetzt „Schattentag“) heißt unser Thema. Wir wollten aktiv werden und uns eine eigene Meinung zum Thema Flüchtlinge bilden. Daher erschien es uns am effektivsten, selbst einen Tag lang mit Menschen zu verbringen, die vor Krieg und Terror geflüchtet sind. Wir haben uns in kleine Gruppen aufgeteilt, Kontakt zu einigen Flüchtlingen aufgenommen und uns dann an unserem Projekttag sozusagen wie Schatten ein paar Stunden an ihre Fersen geheftet, um zu erfahren, wie sie leben. Was wir Neues zum Thema erfahren haben: Die Flüchtenden suchen überwiegend nichts mehr als Frieden, die meisten haben ein großes Interesse an Deutschland und sind sehr freundlich und offen. Viele von ihnen scheinen bislang noch ein recht eintöniges Leben zu führen – zum Beispiel vormittags Deutschunterricht und am Nachmittag Langeweile. Worauf wir erst jetzt oder jetzt mehr im Umgang mit anderen Menschen/ Flüchtlingen achten: Wir versuchen, möglichst keine Vorurteile entstehen zu lassen und statt dessen Respekt vor den schwierigen Schicksalen der Menschen zu haben. Im Gespräch versuchen wir, Feingefühl an den Tag zu legen, vor allem wenn wir Fragen stellen, die persönlich sind. Das war die größte Herausforderung bei unserer Reporterarbeit: Dass wir am Anfang nicht wussten, was uns genau erwartet. Wir hatten große Angst davor, eine falsche Frage zu stellen. Es war auch herausfordernd, die Konversation auf Englisch zu führen. Das führte mitunter zu etwas holprigen Gesprächen. Was uns Lustiges, Peinliches, Verrücktes während des Projekts passierte: Beim Deutschunterricht für Flüchtlinge in Grevesmühlen hatten wir sehr viel Spaß mit dem jungen Lehrer, Alex: Viele Lacher gab es, als der Pädagoge den Imperativ erläuterte und die Schüler aufforderte, seine Aufforderung zu beenden: Alex: „Gib mir...“ Alladin aus Syrien: „100 Euro!“ Ein bisschen peinlich war uns, als wir uns unter den Augen eines ausländischen Koches sehr dumm angestellt haben beim Schneiden von Gemüse. Unser Lieblingswitz, -spruch oder -zitat zum Thema „Angekommen – Willkommen“: Es ist zwar kein Witz, aber die syrischen Buchstaben scheinen für uns unergründlich zu sein. Vor allem auf der Handytastatur sieht das sehr lustig aus. Was wird mich erwarten? Shiar Hasso (21) aus Syrien ist einer der Flüchtlinge, die sich am „Shadow Day“ für ein paar Stunden von Schülern des Ernst-Barlach-Gymnasiums in Fotos: Olaf Malzahn (1), die Klasse Schönberg begleiten ließen. Im Hintergrund Jan Phillip Bohammel (15, v.l.), Henry Malonn (15), Lara Hübner (15) und Johanna Frank (16). Schattentag – Fremdes wird vertraut Julia und Maria haben einen Tag mit Ali aus Syrien verbracht / Auch ihre Mitschüler wurden zu „Schatten“ – für die Gymnasten aus Schönberg ein bewegendes und bleibendes Erlebnis. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen bin ich an diesem Morgen aufgestanden. Meine Mitschüler und ich wollten unter dem Motto „Shadowday“ (Schattentag) einen Tag lang Flüchtlinge begleiten, um uns besser in deren Lage versetzen zu können. Maria und ich waren mit Abdelhakim Shabib verabredet, einem jungen Syrer, der vor sechs Monaten über die Balkanroute vor dem Krieg nach Deutschland geflüchtet ist. Abdelhakim, kurz Ali, hat uns mit zu seinem Arbeitsplatz genommen. Er hilft ehrenamtlich im Erstaufnahmelager auf dem Volksfestplatz in Lübeck. Marica und Lara verbrachten den Tag gemeinsam mit einer Gruppe junger Männer aus Syrien und begleiteten sie zum Deutschunterricht nach Grevesmühlen. Johanna (li.) und Sarah (vorn) genossen es, die fröhliche syrische Familie um sich zu haben. Im Kopf bleibt ihnen das Tanzen zu syrischer Musik, das gemeinsame Kochen, die positive Stimmung im Haus und „die Liebe, die sie ausstrahlten“, sagt Sarah. „Schon am Abend zuvor bin ich in meinem Kopf Situationen durchgegangen, die mich erwarten könnten“, erzählte uns Marica später. „Eine davon war peinliche Stille, in einer anderen versagte mein Englisch auf ganzer Linie. Als wir zum Bahnhof gingen, um Shiar und die anderen zu treffen, habe ich innerlich vor Angst gezittert.“ Auch Maria und ich waren unsicher, was uns erwarten würde. Ali hat uns die Schule des Erstaufnahmelagers und besonders stolz seinen eigenen Schreibtisch gezeigt. Am Anfang wirkte er schüchtern und verschlossen. Es schien, als ob er sich verstecke wie hinter einer Mauer, um so wenig wie möglich von sich preiszugeben. Wir haben viel über den Alltag im Erstaufnahmelager geredet, aber uns nicht getraut, Ali persönli- che Fragen zu stellen, aus Angst, ihn verletzen zu können. Wir hätten gern gewusst, ob er seine Familie vermisst, ob er eine Frau in Syrien hatte oder ähnliches. Aber wollten wir ihn wirklich zwingen, mit zwei wildfremden Mädchen über seine Vergangenheit in Syrien zu reden, über sein altes Leben? Wir spürten, dass ihm dieses Leben fehlt. Bei Marica und Lara prasselten die Fragen nach einem etwas stockenden Beginn des Gesprächs nur so auf die jungen Flüchtlinge ein. „Shiar und seine Landsmänner haben alle mit einer Engelsgeduld beantwortet“, sagte Lara danach. Shiar erzählte den Mädchen, dass die kleine Gruppe in Syrien Biologie studiert habe. Außer dem Deutschunterricht hat er nicht viel zu tun und langweilt sich Maria (li.) und Julia waren vor dem Treffen mit Abdelhakim sehr nervös. Der Tag mit dem jungen Syrer hat die Mädchen sehr bewegt. oft. Einmal pro Woche spielt er Fußball und hilft in der Bibilothek im Ort mit. Bei uns auf dem Volksfestplatz stellte Maria irgendwann eine Frage, die das Gespräch mit Ali in eine unerwartete Richtung lenkte. „Was bedeutet eigentlich Glück für dich?“, wollte sie wissen. Alis Gesicht war ausdruckslos, als er antwortete: „Nichts, ich habe immer Pech im Leben. Bei allem.“ Ich kann mich an diesem Moment genau erinnern. Ali blickte bedrückt zu Boden. Was bedeutet eigentlich Glück für mich? Klar, ich brauche meine Familie und meine Freunde, mein Zuhause. So würde wohl jeder normale Mensch antworten. Ali aber wurde genau das genommen, was ihn glücklich gemacht hatte. Ich habe in diesem Moment verstan- Jan-Phillip (li.) und Etienne fuhren mit Efrem (26) aus Eritrea zum Deutsch-Sprachkurs. Beim Imperativ kamen auch die Gymnasiasten ins Schwitzen. Efrem lebt mit Frau und Tochter in Mallentin. Dort kochte er nach der Schule Hühnchen für seine Gäste. den, worum es beim Flüchten geht. Nicht einfach darum, sein Land zu verlassen, sondern darum, sein persönliches Glück zu verlassen und in Deutschland zu versuchen, wieder zu finden. Nach einem Augenblick des Schweigens hat Ali uns gesagt, dass er nicht versteht, was manche Deutsche gegen Flüchtlinge haben. Er wolle nichts mehr als ein friedliches Leben in Deutschland, einen Job – am liebsten als Hotelmanager –, neue Freundschaften, und sich mit der deutschen Politik zu befassen. Wir haben in diesem Moment einen anderen Ali kennengelernt als am Vormittag. Einen Ali der Träume und Ziele hat, ein neues Leben anfangen möchte und glücklich werden will, in einem Land, das er so interessant findet, welches ihn toleriert und wo die Menschen freundlich zueinander sind. Als wir uns von Ali verabschiedet haben, ist mir klar geworden, wie sehr mir dieser Tag die Augen geöffnet, und meine Einstellung gegenüber geflüchteten Menschen geändert hat. Diese Menschen haben meinen tiefsten Respekt. Ich wünsche mir für jeden einzelnen, der den Mut hatte, sein persönliches Glück zu verlassen, um ein besseres Leben anzufangen, dass er hier ein neues Glück findet. Denn das ist das wichtigste für einen Menschen und jeder hat das Recht, es zu besitzen. Julia „Sie sind Menschen wie wir“ Dania aus Damaskus Alisa Weihs hat die Ängste mancher Menschen gegenüber Flüchtlingen skizziert Die Syrerin fand schnell Anschluss in Schönberg Ein Mann sieht auf der Straße zwei vermummte Frauen, nur ihre Augen sind zu sehen. Sofort denkt er an islamische Terroristen mit Maschinengewehren, an Krieg und Gefahr. Auf dem zweiten Teil des Bildes schaut derselbe Mann um die Ecke und beobachtet die Frauen mit großen Augen weiter. Jetzt sieht man, dass eine der beiden einen kleinen Jungen an der Hand hält, der wiederum einen Teddy hinter sich herzieht. Die Mutter schaut zu dem Kind, das sie anlacht. Auf dem dritten Teil der Bildes sitzt die Frau neben einer anderen Mutter auf der Bank, während ihr Sohn und ein kleines blondes Mäd- chen zusammen im Sand spielen. „Die Karikatur soll zeigen, dass viele Menschen unbegründete Vorurteile gegenüber Flüchtlingen haben“, sagt Alisa Weihs. „Sie sind Menschen wie wir und wollen nur in Frieden leben. Bevor man sich eine falsche Meinung bildet, sollte man versuchen, mit ihnen zu reden und sie zu verstehen.“ Dania kam mit ihrer Famisuchten die Familie und lie, zu der acht weitere Gezeigten ihnen Schönberg schwister gehören, Anfang und die Schule. Sie kam in Dezember nach Schönberg die 10. Klasse und nahm am (Nordwestmecklenburg). Unterricht Teil. Eine unseWegen der Kriegsunruhen rer Schülerinnen, Lisa, war die 18-Jährige mit ihrer freundetet sich mit ihr an Familie aus Damaskus in Syund verbrachte auch einen rien geflohen. Über die Dania (18) Teil der Freizeit mit ihr. evangelische Gemeinde aus Syrien. In Damaskus hat Dania kam der Kontakt zustande. die Schule beendet und ein Wir wollten der Familie möglichst Semester englische Literatur stuschnell helfen und haben viel Klei- diert. Ihre offene, freundliche Art dung zu ihnen gebracht. hat dazu geführt, dass sie schnell Da Dania die einzige der Fami- Kontakt zu Schülern unserer Schulie war, mit der wir uns auf Eng- le aufbauen konnte. Im Mai belisch verständigen konnten, wurde gann der Deutschkurs für sie und sie mehr und mehr von uns in den ihre Familie. Seitdem sehen wir Schulalltag eingebunden. Wir be- uns nur noch selten. Astrid Golla XVI Mittwoch, 20. Juli 2016 Angekommen – und willkommen!? Die Lübecker Nachrichten machen mit bei „Angekommen – und willkommen!?", einem Pilotprojekt der Hertie Stiftung, unterstützt vom Izop-Institut in Aachen. Es soll einen Beitrag zur Förderung einer Willkommenskultur gegenüber Flüchtlingen in Deutschland leisten. Dabei setzen sich Schüler mithilfe von Tageszeitungen mit der Situation von jugendlichen Zuwanderern auseinander. Außerdem berichten sie über die Lebenssituation, Hoffnungen und Perspektiven junger Migranten in der Zeitung. > < JUGEND Neue LN-Serie: „Angekommen – und willkommen!?“ (Teil 3) Mit quietschenden Reifen durch Lübeck Am Johanneum geben Schüler Flüchtlingskindern Verkehrsunterricht. Es wird viel gelernt und gelacht. Wir sind dabei Wer wir sind: Wir sind die Presse-AG des Johanneums: 20 Schülerinnen und Schüler der 6. bis 11. Klasse, die sich für Medien im Allgemeinen, das Schreiben von spannenden Artikeln und die journalistische Arbeit interessieren. Warum wir mitmachen: In unserer Arbeitsgemeinschaft lernen wir, wie man Interviews führt, Informationen recherchiert und Artikel schreibt. Wir finden es toll, dass wir durch dieses Projekt die Chance haben, eigene Texte in der Zeitung veröffentlichen zu dürfen. Was unser Thema ist und wie wir gerade darauf gekommen sind: Bisher wussten wir zwar, dass es am Johanneum eine Flüchtlingshilfe-AG gibt, über deren Arbeit wir im Rahmen unseres Projektes berichten wollten. Aber erst durch unsere Recherchen haben wir erfahren, wie spannend und vielfältig das Engagement unserer Mitschüler ist. Halla (5) saust fröhlich über den Schulhof des Johanneums. Sie ist eines der Kinder, die beim VerkehrstraiFotos: Foto-AG, Leiter: André Feller ning am Johanneum lernen, wie sie sich im Straßenverkehr richtig verhalten. Was wir Neues zum Thema erfahren haben: Wir haben in vielen persönlichen Begegnungen erlebt, dass es toll ist, geflüchtete Kinder und Jugendliche persönlich kennenzulernen, ihnen zu helfen und sie bei der Integration zu unterstützen. Und wir finden die Ideen der Flüchtlingshilfe-AG großartig, Verkehrserziehung anzubieten und gemeinsame Musikprojekte zu veranstalten. Worauf wir erst jetzt oder jetzt mehr im Umgang mit anderen Menschen/ Flüchtlingen achten: Uns ist aufgefallen, dass es in den Gesprächen mit uns für die geflüchteten Kinder viel wichtiger war, wie sie ihre Gegenwart gestalten können und wie ihre Zukunft in Deutschland aussehen kann, als über ihre zum Teil sehr schrecklichen Erlebnisse in der Vergangenheit zu reden. Sie wollen genauso wie wir lachen, unbeschwert leben, Spaß haben und Neues lernen. Die größte Herausforderung bei unserer Reporterarbeit war: Es war manchmal ziemlich schwierig für uns, richtige professionelle Interviews mit den Flüchtlingskindern zu führen. Die wollten nämlich meistens viel lieber mit uns spielen, als nur mit uns zu sprechen. Was uns Lustiges, Besonderes, Verrücktes während des Projekts passierte: Einige Kinder waren total quirlig, ein bisschen zappelig und die Verständigung mit ihnen gestaltete sich ganz schön schwierig. Aber dann haben sie bei unserem Schulfest gemeinsam mit dem Juniorchor des Johanneum gesungen und musiziert. Auf einmal war das eine harmonische Gruppe, die etwas Tolles zusammen auf die Beine gestellt hat. Unser Lieblingswitz, -spruch oder -zitat zum Thema „Angekommen – Willkommen“: Uns ist klar geworden, wie wichtig der erste Artikel unseres Grundgesetzes ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Noch ist der Fahrstil etwas unsicher, aber die Johanneer stehen den syrischen Kindern mit Tipps und Tricks zur Seite. Ein Raum zum Wohlfühlen Die AG Flüchtlingshilfe lässt Kinder Kinder sein Gemeinsam malen, basteln, spielen, lachen und einfach mal die Sorgen aussperren. All das ermöglichen die Schüler der Arbeitsgemeinschaft (AG) Flüchtlingshilfe des Johanneums den drei- bis zehnjährigen Kindern, die erst vor Kurzem mit ihren Familien in Lübeck angekommen sind. Seit Anfang des Jahres treffen sich die Johanneer zweimal wöchentlich mit den zehn bis zwölf Flüchtlingskindern. Sie helfen ihnen dabei, sich mit den deutschen Gepflogenheiten und kulturellen Besonderheiten vertraut zu machen: Wann gebe ich jemandem die Hand? Wie beginne ich ein Gespräch? Was gehört sich und was nicht? Zum anderen geht es darum, zusammen kreativ zu sein, zu toben und einfach Spaß zu haben. In einem eigens für diesen Zweck zur Verfügung gestellten Raum haben sich die Kinder mittlerweile einen tollen Rückzugsort geschaffen: Hübsche Zeichnungen sowie bunte Schmetterlinge und andere gebastelte Tiere schmücken die vorher so kahlen Wände und Fenster. Die Kinder haben alles selbst gestaltet und nach ihren Vorstellungen dekoriert. ,,Es ist viel schöner und total wichtig, in einem Raum zu sein, in dem man sich wohlfühlen kann und der nicht so leer und kahl aussieht“, erklärte Anna (13), eine Schülerin der AG. Zum wöchentlichen Programm gehört vor allem das Spielen mit Playmobilfiguren und „Mensch-ärgere-dich-nicht“. Auch das Malen ist sehr beliebt. Die Tafel an der Stirnseite des Raumes wird mit Häusern, Bäumen und Tieren bemalt. „Mit den Zeichnungen lassen sich unbekannte Wörter gut darstellen, so lernt man spielerisch neue Vokabeln“, sagt Talim (16), der hier ebenfalls hilft. Beim aktuellen Lieblingsspiel der Kinder namens „Halli Galli“ muss blitzschnell auf eine Tischklingel gehauen werden, wenn zwei identische Karten gelegt werden. Dabei haben die Kinder nicht nur viel Spaß, sondern verbessern nebenbei ihre Deutschkenntnisse. Auch wenn viele der Kinder berichten, dass sie schon erste Freunde in Deutschland gefunden haben, kommen sie immer noch gern zu den AG-Treffen. Denn es wird sehr viel gelacht in diesem Raum, der viel Platz schafft, um einfach Kind sein zu können. Caroline (13) erklärt, welche Zeichen im Kreisverkehr nötig sind. Lübeck. Langsam füllt sich der Schulhof des Johanneums zu Lübeck mit neugierigen und fröhlichen Kindern. Die meisten haben Fahrräder dabei und strahlen übers ganze Gesicht. Wenn man die Augen schließt und sich nur auf ihr Lachen konzentriert, vergisst man schnell, dass diese Kinder zum Teil schon traumatische Erfahrungen machen mussten. Sie alle kommen aus den Kriegsgebieten Syriens und mussten mit ansehen, wie ihre Heimatorte zerstört oder ihre Nachbarn getötet wurden. Der Kontrast zu der unbeschwerten Atmosphäre des Verkehrstrainings am Johanneum könnte kaum größer sein. Seit vier Monaten treffen sich engagierte Schüler jeden Montag auf dem Schulhof, um die Flüchtlingskinder, die erst seit kurzer Zeit in Lübeck leben, auf den deutschen Straßenverkehr vorzubereiten. Caroline Lehmann (13) legt mit Hilfe von Pylonen Kurven an. Hier üben die Kinder, die entsprechende Hand rauszustrecken, bevor sie an einer Kreuzung abbiegen. Auch Kreisverkehre werden auf dem Schulhof nachgestellt. „Die sind in Lübeck sehr gefährlich“, sagt Caroline. „Die Kinder lernen, wie man anzeigt, wenn man dem Kreisverkehr noch weiter folgen oder ihn verlassen möchte.“ Einige Schüler malen mit Kreide einen Zebrastreifen auf den Boden. Sie erklären den syrischen Kindern, dass sie hier Fußgänger die Straße überqueren lassen müssen. Viele von ihnen kennen keine Zebrastreifen, da es diese in ihren Heimatstädten nicht gibt, und fahren einfach weiter, wenn sie eigentlich halten müssten. Als einige Schüler mit den Flüchtlingskindern vor einigen Monaten eine Straße passierten, entstand dabei ein heilloses Chaos. Die Kinder rannten kreuz und quer über die Straße, ohne zu gucken, ob Autos die Straße entlang fahren. Einige spielten sogar Fangen. Zum Glück konnten alle Pkw rechtzeitig bremsen und es wurde keiner verletzt. Die Kinder wussten nicht, dass man nach rechts und links gucken muss, bevor man eine Straße überquert. Sie wussten nicht, dass man auf den meisten Straßen nicht spielen darf. In ihren Heimatorten waren meist nicht viele Autos unterwegs gewesen, dort konnten sie auf den Straßen Fangen oder Fußball spielen. Auch Ampeln sind vielen der jungen Verkehrsteilnehmer fremd. Nach diesem Erlebnis kam Anton und Talim (beide 16), zwei Oberstufenschülern des Johanneums, die Idee, mit den Flüchtlingen genau solche Situationen zu üben. In Absprache mit der Schulleitung wurde das Projekt der Verkehrserziehung ins Leben gerufen. Ursprünglich war es nur für eine Stunde angesetzt, doch der Ansturm war so groß, dass die Flüchtlingshilfe-AG beschloss, das Projekt fortzuführen. Manchmal kommen bis zu zehn Kinder im Alter von fünf bis zwölf Jahren. In den ersten Wochen traf man sich in der Sporthalle. Da diese aber zu klein ist, um mit Fahrrädern darin zu fahren, entschlossen sich die Mitglieder der AG dafür, in dieser Zeit erst einmal theoretische Grundlagen zu vermitteln. Wichtige Verkehrsschilder wie Stopp-, Vorfahrts- oder Sackgassenschilder wurden auf die Tafel gemalt und erklärt. Um den theoretischen Unterricht aufzulockern, wurde am Ende jeder Stunde ein Spiel gespielt, am beliebtesten war „Halli Galli“. „Vor allem Halla, unserer jüngsten Teilnehmerin, macht das Spiel wahnsinnigen Spaß. Sie tippt immer viel schneller auf die Klingel als alle anderen, obwohl sie erst fünf Jahre alt ist“, erzählt Talim und lacht. Weil viele der Kinder noch nicht so gut deutsch sprechen, erklären die Mitglieder der AG viel mit Mimik und Gestik. Ab und zu können auch die älteren Flüchtlinge Sachen für die anderen Kinder übersetzen, da sie die Sprache meistens schon etwas besser beherrschen. Da es immer genug Schüler des Johanneums gibt, die helfen möchten, kann sich meist ein Schüler intensiv um einen Flüchtling kümmern und so bei Problemen immer zur Stelle sein. Die Fahrräder, die die Flüchtlingskinder benutzen, wurden von der Stadt gestellt. Bislang steht nicht jedem Kind ein Fahrrad zur Verfügung, deshalb wird untereinder getauscht. „Es wäre toll, wenn das Johanneum eigene Fahrräder hätte, sodass noch mehr Teilnehmer gleichzeitig fahren könnten“, sagt Anton. „Dann würden womöglich auch noch mehr Kinder mitmachen, die sich bis jetzt nicht trauten, weil sie kein eigenes Fahrrad haben“, vermutet der Teenager. „Wer also ein funktionstüchtiges Fahrrad übrig hat, das er ausrangieren möchte, der kann das gern unserer Flüchtlingshilfe-AG zukommen lassen. Wir würden uns über solche Spenden sehr freuen“, sagt Anton. Dann muss er zurück an die Arbeit. Halla ist inzwischen längst wieder davongesaust. Musik verbindet Das Projekt „Integration durch Kunst“ setzt auf die Kraft von Tönen und Melodien „Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist“, sagte der französische Schriftsteller Victor Hugo. Die besondere Kraft von Musik wird von Menschen schon lange geschätzt. Töne und Melodien sind ein wichtiges Kulturgut, können Vertrauen schaffen und heilende Wirkung haben. Diese Aspekte werden in dem Projekt „Integration durch Kunst“ aufgegriffen. Es wurde von dem Verein „Talente e.V.“ ins Leben gerufen, der sich vor allem für die sprachliche, kulturelle und berufliche Integration von Ausländern einsetzt. Mit dem Hintergedanken, Musik als starkes Mittel der Kommunikation und Integration zu verwenden, werden seit Anfang Februar rund 25 Zufluchtsuchende jeden Alters von professionellen Musiklehrern am Johanneum zu Lübeck unterrichtet, um kulturelle Erfahrungen auszutauschen und Erlebtes zu verarbeiten. In kleinen Gruppen aus zwei bis fünf Teilnehmern, soll das gemeinsame Musizieren ihnen ein Gefühl von Normalität geben und eine Vertrauensbasis schaffen. „Es ist schön, so motivierBei einem Auftritt zum Schulfest te und lebensfrohe Menschen un- wurde deutlich, was Musik alles terrichten zu dürfen. Die Musik tut bewegen kann und wie viel Potenuns allen gut“, sagt Tatiana Vit- tial darin steckt. Der Junior-Chor kovskaya, Leiterin des Projektes. des Johanneums und ein EnsemDer Umgang mit Gesang, Trom- ble von geflüchteten Kindern tramel, Gitarre und anderen Instru- ten gemeinsam auf, sangen und menten soll den Integrationspro- musizierten zusammen. Der Erlös zess unterstützen, da es für Men- ging an die Flüchtlings AG. schen mit geringen Sprachkenntnissen oft schwer ist, in einem fremden Land mit fremder Kultur Fuß zu fassen. „Die Zeit mit den anderen Schülern hilft den geflüchteten Kindern sehr, da sie schnell in Kontakt kommen und viel Spaß zusammen haben“, sagt eine Schülerin. Um die Sprachbarriere zu überwinden, stellt sich eine Lehrerin als Dolmetscherin zur Verfügung, die aus Syrien stammt. Gespielt wird in den Musikräumen des Johanneums, dessen Schüler sich ebenfalls tatkräftig für das Projekt engagieren. So kann eine individuelle musikalische Betreuung angeboten werden. Oft entsteht beim Spielen eine ausgelassene Stimmung, die Freude steht den Teilnehmern ins Gesicht geschrieben. Die Musik Musik verbindet. Sprache ist hier nicht so wichtig. verbindet sie alle miteinander.
© Copyright 2024 ExpyDoc