1 Freitag, 15.07.2016 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Lotte Thaler Stählern, unerbittlich, grandios SOKOLOV Beethoven: Hammerklaviersonate op. 106 SONY CLASSICAL 88985336072 Viel pianistisches Einfühlungsvermögen TRIO STEUERMANN Nuit transfigurée J. B. Borowski, A. Schönberg, A. Webern EDITIONS HORTUS 130 Interpretatorische Sternstunde Insights The String Quartets by A. Schönberg Asasello-Quartett Eva Resch, Sopran GENUIN GEN 16429 Raffinierte Verzögerungskunst Varietas Works by G. F. Händel, D. Buxtehude, G. Böhm, J. S. Bach, J. Mattheson, G. Ph. Telemann and C. P. E. Bach INTERNATIONAL BACH COMPETITION 2014 WINNER IN THE HARPSICHORD CATEGORY Jean-Christophe Dijoux, Harpsichord GENUIN GEN 16420 Filigraner, intonationssicherer Sopran CHRISTINA LANDSHAMER LIEDER ULLMANN SCHUMANN GEROLD HUBER, PIANO OEHMS CLASSICS OC 1848 Grandiose Klangpalette SERGEI PROKOFIEV VIOLIN CONCERTOS NOS 1 & 2 SONATA FOR SOLO VIOLIN VADIM GLUZMAN ESTONIAN NATIONAL SYMPHONY ORCHESTRA NEEME JÄRVI BIS 2142 Signet „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ … mit Lotte Thaler, guten Tag. Ausgewählt habe ich heute Klaviermusik, Kammermusik, Lieder und ein Violinkonzert. Beginnen möchte ich mit einem „Hammer“ – mit der Klaviersonate B-Dur op. 106 von Ludwig van Beethoven. Sie erinnern sich, die beginnt so: 2 Ludwig van Beethoven: Klaviersonate B-Dur op. 106, 1. Satz (Ausschnitt) 0‘10 Also mit einem Wahnsinns-Sprung und rhythmischen Fortissimo-Akkorden, an denen viele Pianisten schon gleich am Anfang scheitern. Die Sonate ist vielleicht Beethovens verrücktestes Werk, zumindest für Klavier, und galt lange als unspielbar, weil sie auch im weiteren Verlauf alle bisher gültigen Vorstellungen einer Klaviersonate sprengt. Beethoven selbst prognostizierte: „Die Sonate wird den Pianisten zu schaffen machen.“ Jetzt ist eine Aufnahme erschienen, die einmal mehr beweist, dass das Stück durchaus spielbar ist, wenn ein Pianist über die entsprechenden technischen und geistigen Fähigkeiten verfügt. Dieser Pianist heißt Grigori Sokolov, ein Kultstar der Klavierszene, weil er wie der Dirigent Sergiu Celibidache so gut wie keine Studioaufnahmen macht, und weil er auf dem Podium ein Exzentriker ist, der gelegentlich noch zwölf Zugaben spielt, obwohl er so wirkt, als gäbe es nichts Leidvolleres, als einen Klavierabend zu geben. Zu Jahresbeginn erschien bei der Deutschen Grammophon der Mitschnitt von Sokolovs Hammerklaviersonate aus Salzburg, vom August 2013. Da klingt der Beginn der Sonate so: Ludwig van Beethoven: Klaviersonate B-Dur op. 106, 1. Satz (Ausschnitt) 0‘10 Also viel langsamer als in dem Beispiel, das ich Ihnen zuerst vorführte. Die Erklärung: Zwischen den beiden Aufnahmen liegen fast vierzig Jahre. Was Sokolov bewogen hat, jetzt seine Studioaufnahme von 1975 in München, die drei Jahre später auf Langspielplatte erschienen war, seinem Salzburger Live-Mitschnitt hinterher zu schicken – und auch noch bei einem anderen Label, nämlich bei SONY, ist ziemlich rätselhaft, zumindest diskografisch gesehen. Musikalisch aber ist diese frühe Einspielung des 25-jährigen Sokolov ein „Hammer“: stählern, unerbittlich, grandios. Was Beethoven in den Sätzen eins bis drei der Hammerklaviersonate schon alles an Klang, Dimension und formaler Anlage ausgeschüttet hatte, ballt sich im vierten Satz nochmals in einer Fuge, die bis heute das Fassungsvermögen des Zuhörers übersteigt. Eingeleitet wird diese Fuge durch ein Largo, eine Art Fantasie durch die entferntesten Tonarten. Ludwig van Beethoven: Klaviersonate B-Dur op. 106, 4. Satz 13‘30 Ein Wunderwerk pianistischen Vermögens: der Schluss-Satz aus der Sonate B-Dur op. 106 mit dem Pianisten Grigori Sokolov in seiner Studioproduktion von 1975, jetzt auf CD wiederveröffentlicht bei dem Label SONY CLASSICAL. Das bekannteste Werk von Arnold Schönberg ist wahrscheinlich sein Streichsextett „Verklärte Nacht“ aus dem Jahr 1899, als Schönberg noch tonal komponierte. 1932 fertigte Eduard Steuermann, der „Hauspianist“ Schönbergs, eine Fassung des Sextetts für Klaviertrio an, die relativ häufig alternativ zur reinen Streicherfassung aufgeführt wird. Meistens wirkt die Triofassung allerdings gegenüber dem Original klangärmer, weil sich Klavier und Streicher weniger gut mischen als sechs Streicher allein, zumal in der verklärten Schlussphase des Stücks. Das Trio Steuermann, das sich den Namen des Bearbeiters zu eigen gemacht hat, demonstriert jetzt auf seiner CD bei dem französischen Label HORTUS mit viel pianistischem Einfühlungsvermögen das Gegenteil. Dieses Ensemble wurde 2011 gegründet und besteht aus der Geigerin Maiko Matsuoka, dem Cellisten Christophe Mathias und der Pianistin Anne de Fornel. Es hat seinen Sitz in Paris, deshalb ist die CD auch unter dem französischen Titel „Nuit transfigurée“ erschienen, der französischen Übersetzung von „Verklärte Nacht“. Hier ist der in eine hymnische Verklärung mündende Schluss des Werks: Arnold Schönberg: „Verklärte Nacht“ (Ausschnitt) 12‘40 Der Schluss aus der „Verklärten Nacht“ von Arnold Schönberg in der Fassung für Klaviertrio von Eduard Steuermann mit dem Steuermann-Trio aus Paris. Gekoppelt ist das Werk mit 3 einer weiteren Bearbeitung eines ursprünglichen Streichersatzes, nämlich mit der Triofassung des „Langsamen Satzes“ für Streichquartett von Anton Webern, die Michel Mathias erstellt hat, sowie einem originalen Klaviertrio neuesten Datums, dem Klaviertrio von Johannes Borowski von 2013. Es ist dem Trio Steuermann gewidmet und wurde bei den letztjährigen Brahmstagen in Baden-Baden aufgeführt. Borowski war übrigens auch Stipendiat der Baldreit-Stiftung hier in Baden-Baden. Wir bleiben noch bei Schönberg, denn gerade ist in Zusammenarbeit mit dem Deutschlandfunk bei dem Label GENUIN eine Doppel-CD mit den vier Streichquartetten von Schönberg erschienen, die aus mehreren Gründen vorgestellt werden muss. Zum einen, weil sie zwei Mentoren gewidmet ist, von denen der erste lange Zeit „Mister Streichquartett“ war: der Geiger Walter Levin vom LaSalle Quartett, der eine ganze Generation junger Streichquartett-Ensembles ausgebildet hat. Der andere ist der Geiger Chaim Taub, ehemaliger Konzertmeister des Israel Philharmonic Orchestra und Primarius des Tel Aviv Quartett. Ihn besuchte das international besetzte Asasello-Quartett mit Sitz in Köln 2005 zum ersten Mal. Dass das Asasello-Quartett diese Widmung vornahm, wurde wiederum unterstützt von David Albermann, der einige Jahre zweiter Geiger im Arditti Quartet war und heute Stimmführer der zweiten Geiger im London Symphony Orchestra ist. Der Hauptgrund, warum ich Ihnen diese Aufnahme ans Herz lege, ist natürlich musikalischer Art, denn das Asasello-Quartett hat sich derart in Schönberg versenkt, dass man nur staunend vor diesen Klanggespinsten sitzt, die die vier Musiker von Satz zu Satz ausbreiten. Die Einstellung bei dieser Arbeit beschreibt das Quartett selbst höchst anschaulich: „Die Arbeit an den Schönberg-Streichquartetten war so etwas wie ein Tauchgang. Ruhig bleiben und gleichmäßig atmen, wenn man an den Riffen entlang zieht und diese farbige Miniaturwelt bestaunt: kleine Korallenbäumchen mit winzigen Fischen im Geäst, dann den Kopf wenden, den Blick ins unendliche Blau, ein Napoleonfisch zieht majestätisch vorbei, Mikrokosmos / Makrokosmos alles gleichzeitig und von allem zu viel, weil das Leben so ist.“ Zitat Ende. So poetisch das Asasello-Quartett seine Arbeit an Schönbergs Streichquartetten beschreibt, so poetisch ist in der Tat seine Interpretation. Das beginnt schon in der Tempowahl. „Nicht zu rasch“ ist etwa der erste Satz des ersten Quartetts in d-Moll überschrieben, und entsprechend gelassen steigen die Musiker ein, lyrisch und nicht dramatisch, um dann im Verlauf des Satzes eine ungeheure Dichte zu entwickeln. Nirgends herrscht der spezifisch aufgeregte Neue Musik-Ton, nirgends ist die Tongebung rau oder provokativ modern, vielmehr werden die Werke aus der Tradition heraus verstanden, die gerade Schönberg immer wieder für sich reklamierte. Und sie werden als Stadien einer enormen Entwicklung eines einzelnen Komponisten vorgestellt, die ähnlich wie bei Beethoven ins Unvorstellbare vordrang. Deshalb erhält jedes einzelne Quartett seine spezifische Würde und Klang-Aura. Vor allem macht das Asasello-Quartett jede Überlegung zur Satztechnik überflüssig: Es spielt schlicht keine Rolle, dass das vierte Quartett von 1936 zwölftönig ist. Was wir im zweiten Satz mit der Überschrift „Comodo“ hören, sind genau jene Korallenbäumchen einer fantastischen Unterwasserwelt: Arnold Schönberg: Streichquartett Nr. 4, 2. Satz 7‘25 Das war der zweite Satz aus dem vierten Streichquartett von Arnold Schönberg, eingespielt vom Asasello-Quartett bei dem Label Genuin – eine interpretatorische Sternstunde. Aus demselben Hause GENUIN kommt auch unsere nächste Aufnahme. Es ist die DebütCD des Cembalisten Jean-Christophe Dijoux, der 2014 den Leipziger Bach-Wettbewerb gewann. Der auf der Insel Reunion geborene Franzose studierte in Freiburg und Basel und lebt heute in Weil am Rhein. Sein CD-Programm unter dem Titel „Varietas“ ist der norddeutschen Cembaloschule gewidmet – mit Werken von Händel, Dietrich Buxtehude, 4 Georg Böhm, Johann und Carl Philipp Emanuel Bach und Johann Mattheson. Von ihm wählte Dijoux drei Stücke aus seiner „Großen Generalbass-Schule“ von 1731 aus, drei extrem verschiedene, großartige Stücke, in denen der Solist alle seine Fähigkeiten unter Beweis stellt. Dijoux kann nämlich auf dem Cembalo singen und er kann ihm die dramatischsten Klänge entlocken, ohne das Instrument zu malträtieren. Dazu kommt die äußerst raffinierte Verzögerungskunst, die diese Musik noch lebendiger erscheinen lässt. Das Instrument, das Dijoux hier verwendet, ist ein herrlich klingender Nachbau von Matthias Kramer in Anlehnung an Instrumente des barocken Cembalobauers Christian Zell: Johann Mattheson: „Große Generalbass-Schule“, drei Stücke 12‘15 Jean-Christophe Dijoux, der Preisträger des letzten Bachwettbewerbs in Leipzig, auf seiner Debüt-CD „Varietas“ mit drei Stücken aus der „Großen Generalbass-Schule“ von Johann Mattheson. Die CD ist bei dem Label GENUIN erschienen. Sie hören die Sendung „Treffpunkt Klassik“ im Programm SWR 2, heute mit neuen CDs, vorgestellt von Lotte Thaler. Zum Kreis der Schönberg-Schule gehörte auch der Komponist und Dirigent Viktor Ullmann, der von Wien nach Prag zog und dort zusammen mit Alexander Zemlinsky das Neue Deutsche Theater leitete. 1931 hörte er zwischenzeitlich auf zu komponieren, wurde Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und führte eine Bücherstube in Stuttgart. Nach der Machtergreifung der Nazis kehrte er nach Prag zurück und wurde Mitarbeiter beim Tschechischen Rundfunk. 1938 versuchte er auszuwandern – zu spät. 1942 kommt er nach Theresienstadt, 1944 nach Auschwitz. Noch 1941 publizierte er im Eigenverlag seinen Liederzyklus von sechs Sonetten op. 34 nach Gedichten der französischen RenaissanceDichterin Louise Labé. Diese führte in Lyon einen literarischen Salon. Für damalige Verhältnisse waren ihre Sonette revolutionär, denn sie stellen das weibliche Ich in den Mittelpunkt: die Sehnsucht nach dem Geliebten, die Liebesglut, die Leidenschaft in der sinnlichen Begegnung. Diesen Liederzyklus hat die Sopranistin Christina Landshamer zusammen mit dem Pianisten Gerold Huber bei dem Label OEHMS CLASSICS herausgebracht, und das ist eine echte Entdeckung. Einmal wegen der Lieder selbst, aber auch wegen der Intensität der Wiedergabe. Ullmanns Liederzyklus gleicht einer dramatischen Szene, die sich aus einsamer Nacht heraus in größte Leidenschaft steigert und in der Todessehnsucht des letzten Liedes wieder in die Nacht zurückkehrt. Christina Landshamer erspürt all diese Seelenregungen mit ihrem filigranen, intonationssicheren Sopran, zeichnet Ullmanns ganz eigenständige melodische Linien mit großer Präzision nach. Im Booklet schreibt die Sängerin, dass ihr diese Lieder schon seit ihrer Studienzeit zur Herzensangelegenheit geworden seien. Das spiegelt sich nicht zuletzt auch in ihrem makellosen Französisch wider. Hier sind die Sonette op. 34 von Viktor Ullmann: Viktor Ullmann: Sonette op. 34 14‘35 Viktor Ullmann, Sechs Sonette nach Louise Labé op. 34 mit den Solisten Christina Landshamer und Gerold Huber. Die Aufnahme aus dem Hause OEHMS CLASSICS ist eine Konzept-CD mit Liedern von Viktor Ullmann und Robert Schumann unter besonderer Perspektive: Es geht um die Liebe aus der Sicht von Frauen. Die letzte Aufnahme, die ich Ihnen heute vorstelle, stammt von dem Geiger Vadim Gluzman, der zusammen mit dem Estnischen Nationalen Symphonieorchester unter der Leitung von Neeme Järvi die beiden Violinkonzerte von Sergei Prokofjew und gewissermaßen als Zugabe noch die Solosonate op.115 von Prokofjew aufgenommen hat. Gluzman ist ein Geiger, der bei uns eigentlich viel zu wenig bekannt ist, obwohl er sicher zu den Großen 5 seiner Zunft gehört. Vielleicht wachen jetzt manche Veranstalter auf, wenn sie diese CD des schwedischen Labels BIS hören. Sicher, so präsent wie hier auf der Aufnahme, klingt die Geige im Konzertsaal gegenüber dem Orchester nicht – das ist eben der Vorteil der CD, dass sie den Solisten durch die Aufnahmetechnik akustisch in den Vordergrund holen kann. Andererseits aber nimmt man dadurch auch die grandiose Klangpalette, die Prokofjew vor allem im ersten Konzert D-Dur ausbreitet wahr, seinen Melodienreichtum, seine Quirligkeit in der Figuration, seinen Esprit. Hier sind Scherzo und Moderato, die Sätze zwei und drei, aus dem ersten Violinkonzert von Sergei Prokofjew: Sergei Prokofjew: Violinkonzert Nr. 1, 2. und 3. Satz 11‘25 Vadim Gluzman war der Solist im ersten Violinkonzert D-Dur op. 19 von Sergei Prokofjew. Das Estnische Nationale Symphonieorchester begleitete ihn unter der Leitung von Neeme Järvi. Wenn Sie mögen, können Sie diese Sendung im Internet nachhören, dort finden Sie auch eine Liste mit den vorgestellten Neuaufnahmen. Für’s Zuhören dankt Lotte Thaler.
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