Kritik Ostschweiz am Sonntag

Ostschweiz am Sonntag: 10. Juli 2016, 02:35 Uhr
Rebellin an der Stickmaschine
Eine mutige Frau geht ihren Weg. Hauptdarstellerin Monika Ricklin als Stickerin Lydia Roth in der
Inszenierung der Bühne Thurtal. (Bild: Donato Caspari (Donato Caspari))
«Die Stickerin» dokumentiert das Schicksal und
harte Leben von Lydia Roth. Der Bühne Thurtal ist
ein spannendes Stück gelungen mit berührenden
Szenen und Gänsehaut-Momenten. Am Freitag war
Premiere im Alfred-Sutter-Park in Münchwilen.
MIRJAM BÄCHTOLD
MÜNCHWILEN. Das Programmheft verspricht harte Kost. Anstatt Kurzbiographien über die
Darstellerinnen und Darsteller finden sich darin Beschreibungen der Rollen, die sie verkörpern,
und da liest sich ein Schicksal schlimmer als das andere. Da ist die Stickerin Lydia Roth, die nach
dem Tod ihres Mannes fünf hungrige Kinder durchbringen muss und von früh bis spät arbeitet,
um 1500 Stiche pro Tag zu schaffen an der Handstickmaschine. Da ist Traugott Steiner,
gescheiterter Heimsticker, der immer öfter zur Flasche greift. Oder der Handsticker Hans
Nüesch, der nach der Krankheit und dem Tod seiner Frau bankrottgeht und sich gezwungen
sieht, für einen Hungerlohn an der Schifflistickmaschine zu arbeiten.
Ein Stück, das uns etwas angeht
Dass die Stickerei ihre Opfer forderte, wissen wir aus den Geschichtsbüchern. Kinderarbeit,
Hungerlöhne, Arbeitslosigkeit, Armut: Begriffe, die wir schon oft gelesen haben. Doch auf der
Bühne bekommen die Worte ein Gesicht, ein Schicksal. Die Geschichte der Lydia Roth berührt.
Man hofft mit ihr, als sie mit ihrem Mann Jakob eine heruntergekommene Stickerei ersteigert.
Man leidet mit ihr, als Jakob tot im Fabrikweiher gefunden wird. Und fühlt mit ihr, wenn sie
weint, weil sie der Dorflehrerin gestehen muss, nicht mehr genug Essen für ihre Kinder zu haben.
«Die Stickerin» ist ein Stück, das uns etwas angeht. Und mit der Ostschweizer Stickereigeschichte
passt es in die Umgebung. Um Wil und im Untertoggenburg gab es viele Stickerdörfer, etwa
Gähwil, Sirnach oder Balterswil.
Das Stück spielt am Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Schifflistickmaschine – erfunden vom
Uzwiler Isaak Gröbli – die Handstickmaschinen ablöste, denn nun waren statt 100 Stiche pro
Stunde 100 Stiche pro Minute möglich. In dieser Zeit siedelt der Autor Markus Keller die fiktive
Geschichte an, die aber gut so hätte geschehen können. Lydia und Jakob Roth beschliessen, sich
selbständig zu machen und dafür einen technischen Rückschritt in Kauf zu nehmen: eine
Handstickmaschine. Sie können eine heruntergekommene Stickerei ersteigern, doch die
dazugehörige Maschine schnappt ihnen ein Fergger weg. Lydia und Jakob können sie von ihm
pachten und geraten so in die Abhängigkeit. Als Jakob tot aufgefunden wird, will der Fergger
Lydia die Maschine wegnehmen. Doch sie wehrt sich, bietet ihm die Stirn und sagt, sie könne
genauso gut sticken wie ihr Mann. Die erste Frau an einer Stickmaschine.
100 Jahre zurückversetzt hat man das Gefühl, einen Heimatfilm zu sehen. Mit dem Mord an
Jakob Roth wird das Stück auch zum Krimi. Die Inszenierung von Monika Wild lebt von einem
Wechsel aus lauten Massenszenen mit allen rund 30 Darstellern und leisen Dialogen, die unter
die Haut gehen. Sie lässt die Szenen ineinander fliessen durch schnelle Wechsel zwischen Hauptund Vorbühne. Sehr gelungen sind die Szenen, in denen alle auf der Bühne sind: der Streik der
Fabrikarbeiter oder die Versteigerung des Hauses und der Tiere. Hier hat Hollaia ihren Auftritt.
Die Bühnenkuh ist an der Premiere etwas nervös und verewigt sich für den ersten Teil des Stücks
mit einem Kuhfladen auf dem Bühnenboden, sehr zum Amüsement des Publikums.
Aufwendige Kulissen
Das sehr aufwendig gestaltete Bühnenbild und die Kostüme unterstützen die Handlung. Die
mystische und schwermütige Musik von Daniel Nussbaumer gibt die passende Untermalung für
das Drama. Regisseurin Monika Wild hat das Beste aus den Laiendarstellern geholt. Sie spielen
ihre Rollen so überzeugend, dass es manche Momente gibt, die beim Zuschauer eine Gänsehaut
auslösen. Vor allem der erste Teil ist gelungen, nach der Pause wird es stellenweise etwas
schleppend. Der plötzliche Sinneswandel von Fergger Schläpfer ist nicht richtig glaubwürdig,
doch diese Kritik geht an den Autor des Stücks.
Den grossen Applaus haben sich die Darsteller verdient.