SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde „Dirigierende Komponisten und komponierende Dirigenten“ (1) Von Thomas Rübenacker Sendung: Montag, 11. Juli 2016 Redaktion: Bettina Winkler 9.05 – 10.00 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2 2 „Musikstunde“ mit Thomas Rübenacker „Dirigierende Komponisten und komponierende Dirigenten“ (1) Von Thomas Rübenacker SWR 2, 11. Juli – 15. Juli 2016, 9h05 – 10h00 Signet: SWR2 Musikstunde … mit Thomas Rübenacker. Heute: „Dirigierende Komponisten und komponierende Dirigenten“, Teil 1. INDIKATIV Nach der Erkenntnis, dass Malerei und Literatur der Interpretation nicht bedürfen, um verstanden zu werden – dass sie also für sich selbst stehen können -, und dass Musik ohne Interpretation nicht lebensfähig wäre, weil die Codierung der Noten von den wenigsten Menschen „lesbar“ ist: Daraus folgt, dass Musik und Interpretation Hand in Hand gehen müssen, um ihr Publikum zu erreichen. Das wiederum macht Komponisten und Interpreten zu siamesischen Zwillingen, die ohne einander nicht sein können; wobei der Interpret immerhin die Möglichkeit hat, improvisierend quasi selber zum „Komponisten“ zu werden. Die hat umgekehrt allerdings auch der Komponist: Er kann, als Solist oder Dirigent, sein eigener Interpret werden. Mozart war das, wenn er vom Cembalo aus das Orchester leitete, oder Carl Maria von Weber, als er ein Notenblatt rollte und so den Taktstock erfand. Überhaupt: Das Verhältnis Komponist/Dirigent ist noch enger als das von Komponist und Solist. Darum soll es diese Woche um Komponisten gehen, die auch dirigieren – sowie um Dirigenten, die auch komponieren. Zeitweise, im 19. Jahrhundert, führte das dazu, dass jeder brave Kapellmeister glaubte, zu Jacques Offenbachs Operetten je eigene Ouvertüren häkeln zu dürfen. Einer von diesen (einer der gewiefteren) hieß Bernhard Wolff. MUSIK: OFFENBACH/WOLFF, LA VIE PARISIENNE, TRACK 7 (5:20) 1) Offenbach, La vie Parisienne (Ouvertüre); Wiener Symphoniker, Bruno Weil; Sony SK 53288 (LC 6868) So weit nicht etwa die Ouvertüre von Jacques Offenbachs Operette „Pariser Leben“, sondern nur eine mögliche: Sie hat mit Offenbach wenig zu tun, außer dass sie die Highlights des Werkes zu einem Potpourri verbrät; komponiert hat sie der Kapellmeister Bernhard Wolff, und gespielt wurde sie von den Wiener Symphonikern unter Bruno Weil. Das übrigens war im 19. Jahrhundert gängige Praxis. Wie übrigens auch Rossini war Offenbach für all die Noten, die er schrieb, im Herzen ein stinkfauler Kerl. Die Komposition einer Ouvertüre hob er sich für den 3 Schluss auf – und hatte dann oft keine Lust mehr dazu (Rossini benutzte alte Ouvertüren mehrfach). Offenbach wusste seine Unlust zur Ouvertüre sogar ideologisch zu untermauern: Er wollte keine Konzertatmosphäre, wollte nicht den geschlossenen Vorhang, sondern den Zuschauer gleich ins Bühnengeschehen hinein reißen, ungefähr so, wie's auch Giuseppe Verdi in seiner späten Oper „Othello“ tut. Action, Action, Action – da blieb kein Platz mehr fürs konzertante Gebinde. Im Original klingt der Beginn von „Pariser Leben“ ungefähr so … MUSIK: OFFENBACH, LA VIE PARISIENNE, CD 1, TRACK 1 (2:15) 2) Offenbach, La vie Parisienne; Klangforum Wien, Sylvain Cambreling col legno 20100 (LC 00645) Ein paar Akkorde, ein paar Zuggeräusche – und dann gleich der Chor des Bahnpersonals: So in etwa beginnt Jacques Offenbachs Operette „La vie Parisienne“, Pariser Leben, wirklich. Sylvain Cambreling dirigierte das Klangforum Wien. Komponieren ist ein einsames Geschäft, Dirigieren das Gegenteil: So könnte man erklären, warum Komponisten gerne dirigieren und Dirigenten auch komponieren. Etwas weiter gedacht: Das Komponieren nährte nicht immer seinen Mann (oder seine Frau), und das Dirigieren allein ließ manche sich als pure Erfüllungsgehilfen sehen. Praktisch alle großen Komponisten haben auch dirigiert, und wenn es nur die eigenen Werke waren; ein Mendelssohn, ein Schumann, ja sogar Richard Wagner aber dirigierten auch Fremdmaterial. Brahms, Reger, Mahler oder Richard Strauss sowieso. Und auf der anderen Seite, die Dirigenten: Felix Weingartner komponierte auch flott, Hans von Bülow eher zäh, Wilhelm Furtwängler dagegen solche verwurstelten Riesenwerke, dass der Hörer glaubt, an einer Darmverschlingung zu leiden. Leonard Bernstein andererseits war ein begnadeter Broadwaykomponist – und im „seriösen“ Fach dann ein eher unglücklicher Epigone Gustav Mahlers. So geht es fort und fort: Hie Arnold Schönberg – dort sein Jünger Igor Markevitch. Hie Richard Strauss – dort der Reger-Schüler George Szell, der sich beim Komponieren aber lieber an Strauss orientierte. Und so weiter. Als Komponist lange verkannt war der Jude Gustav Mahler, und das hatte natürlich auch mit der Ächtung durch die Nazis zu tun. Aber noch einer meiner Musiklehrer aus den sechziger Jahren rümpfte bei Erwähnung des Namens „Mahler“ die Nase und sprach verächtlich von „Kapellmeistermusik“. Dabei ging der Weg der Symphonie eigentlich nicht mit Beethovens „Zehnter“ weiter (so nannte Hans von Bülow die unter Schmerzen geborene Erste von Brahms), sondern mit dem intrikat vermittelten „Naturlaut“ der Ersten von Gustav Mahler. Bei dem ist es allerdings nicht leicht zu sagen, ob er mehr Dirigent war oder mehr 4 Komponist; der Operndirektor von Leipzig und Budapest, Wiener Hofoperndirektor und „Chef“ der New York Philharmonic Society war wohl gleichrangig beides. Als Dirigent jedoch lebt er nicht weiter: Es gibt kein einziges Dirigat von ihm auf Platte. Höchstens eine Handvoll Welte-Mignon-Rollen, auf denen er Auszüge seiner Symphonien auf dem Klavier spielt. Zum Beispiel die folgende … MUSIK: MAHLER, SYMPHONIE 4 (SATZ 4), TRACK 16 (8:05) 3) Mahler, Symphonie Nr. 4 G-dur (4. Satz); Welte-Mignon-Klavierrolle, Gustav Mahler Teldec 8.43932 (LC 3706) Gustav Mahler spielt Gustav Mahler: Auf einer Welte-Mignon-Klavierrolle gibt er den 4. Satz seiner vierten Symphonie G-dur, Sehr behaglich überschrieben, eigentlich ein Vokalsatz auf den Text „Das himmlische Leben“, der aus der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ stammt. Und da wir gleich mit dem komponierenden Dirigenten George Szell weitermachen werden, will ich Ihnen diesen Satz in der superben Orchester-mit-Sopransolo-Aufnahme aus Cleveland vorstellen; Judith Raskin singt den Solopart. MUSIK: MAHLER, SYMPHONIE 4 (4. SATZ), TRACK 4 (10:17) 4) Mahler, Symphonie Nr. 4 G-dur (4. Satz); Judith Raskin (Sopran), Cleveland Orchestra, George Szell; Sony SBK 46535 (LC 6868) Gustav Mahler, der „himmlisch“ doppelbödige Finalsatz der 4. Symphonie G-dur, „Das himmlische Leben“, mit der Sopranistin Judith Raskin, dem Cleveland Orchestra und am Pult George Szell. Szell wurde 1897 als Szél György in Budapest geboren, als dieses noch zum österreich-ungarischen Kaiserreich gehörte. So konnte schon der Knabe György in Wien Musik studieren, mit elf Jahren gab er sein Debüt als Pianist und Komponist. Als er 14 wurde, schloss der Verlag Universal Edition einen ZehnJahres-Vertrag mit ihm ab. 16-jährig dirigierte er zum ersten Mal, die Wiener Symphoniker; und schon ein Jahr später die Berliner Philharmoniker, die ihn gleich in Dreieinigkeit eingekauft hatten: als Pianist, Dirigent und Komponisten. Wieder ein Jahr später holte ihn Richard Strauss als Korrepetitor an die Berliner Oper, beide Männer verband eine Freundschaft bis zum Tod. Auch mit dem sperrigen Otto Klemperer verstand sich der nicht minder despotische Szell glänzend – und wurde dessen Nachfolger bei den Straßburger Philharmonikern. Die Nazi-Seuche trieb die junge Familie Szell dann erst nach New York, wo nunmehr George die Philharmoniker ebenso „beglückte“ wie die Metropolitan Opera, allerdings nur noch als Dirigent – und 1946 wurde er, was ihn zur Legende machte: Chef des 5 Cleveland Orchestra, einer Provinzkapelle, die unter ihm Weltklasse wurde. Erst 1970 gab er die Leitung ab, indem er starb. Als 13-Jähriger hatte George Szell eine Zeitlang Kompositionsunterricht bei Max Reger, in einer jener überfüllten Klassen, für die Reger berühmt-berüchtigt war: Einerseits wollte jeder sein Schüler sein, andererseits wurde der sonst so fleißige Komponist hier oberfaul. Je mehr Hörer in eine Unterrichtsstunde gequetscht, desto besser. Szell sprach später von dem „Erlebnis“ mit Bitterkeit. Die meiste Zeit hätte Reger ohnehin schmutzige Witze erzählt, und der 13-Jährige als Jüngster sei damals regelmäßig vor die Tür geschickt worden. „Bei Reger habe ich nichts, aber auch gar nichts gelernt!“, so Szells Fazit. Richard Strauss dagegen war eine andere Sache. Zwar hatte der Jungkomponist nie formal Unterricht bei Strauss – aber per Osmose sickerte so viel von dessen Ästhetik ein, dass ein Werk von Szell klingt wie der „Bürger als Edelmann“ oder das Ballett „Schlagobers“, mit der ganzen Verführungskraft Strauss'scher Harmonik und mit dessen ganzer Orchestrierkunst, die man nur „begnadet“ nennen kann. Als George Szell Robert Schumanns Symphonien bearbeitete, merkte er selber an, er wolle sie „so gut orchestriert klingen lassen wie Carl Maria von Weber – aber nicht so gut wie Richard Strauss.“ MUSIK: SZELL, VAR. Ü. EIN EIG. THEMA, TRACK 12 (4:31) 5) Szell, Variationen über ein eigenes Thema; Lettische Nationalphilharmonie, Leon Botstein Arabesque Recordings 6752 Die finale Veränderung der „Variationen über ein eigenes Thema“ op. 4 von George Szell, gespielt vom National Philharmonic Orchestra of Lithuania, am Pult stand Leon Botstein. - Nun will ich Ihnen aber noch einmal den Dirigenten George Szell vorstellen, in einer seiner schönsten Aufnahmen. Er war ja ein Orchesterdompteur, der genau so verhasst war, wie er geliebt wurde. Seine Arbeit mit dem Cleveland Orchestra hat er einmal so beschrieben: „Wir geben zehnmal in der Woche ein Konzert, aber nur zu zweien ist Publikum zugelassen!“ Und ein ander Mal beschrieb er die Qualität seines Orchesters so: „Es funktioniert wie ein Streichquartett.“ Hier kommt der schönste der „Slawischen Tänze“ von Antonín Dvorák. MUSIK: DVORAK, SLAWISCHER TANZ OP. 72/2, TRACK 10 (4:50) 6) Dvorák, Slawische Tänze; Cleveland Orchestra, George Szell CBS MBK 44802 (LC 0149) George Szell dirigierte „sein“ Cleveland Orchestra mit Antonín Dvoráks „Slawischem Tanz“ op. 72/2, einer Aufnahme von 1964. 6 Zwei der bedeutendsten Komponisten/Dirigenten auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert waren Gustav Mahler und Richard Strauss. Aber während Mahler lange Zeit das Etikett „komponierender Kapellmeister“ anhaftete, wäre bei Strauss niemand auf die Idee gekommen – obwohl er wahrscheinlich ebenso häufig dirigierte wie Mahler. Das hatte weniger damit zu tun, dass er der „bessere“ Komponist gewesen wäre; wohl eher damit, dass ihm die Nationalsozialisten größte Verehrung zollten – er also nicht diesen Karriereknick hatte wie Gustav Mahler. Mahler soll auf dem Pult ein „Fuchtler“ gewesen sein: nervöse, mitunter abgerissene Bewegungen, ein Fordern und Kneten, ein Beschwören und Hypnotisieren. Strauss war eher das Gegenteil: ein Dirigent, dem man von hinten kaum ansah, dass er dirigierte – so sparsam, so vernünftig war seine Zeichengebung. Zwei der größten Dirigenten unter seinen Protégées, Fritz Reiner und George Szell, taten's ihm darin gleich. Reiner hatte zwar den größeren baton, tat damit aber scheinbar noch weniger – er dirigierte mit seinem Adlerauge. Richard Strauss arbeitete sich am Pult quer durch die Musikgeschichte, und er hatte Spaß daran – auch wenn er's für das Publikum nicht so ausstellte wie etwa Hans von Bülow, der stets „für die Galerie“ dirigierte. Und es gab Wichtigeres für Strauss als die Stabschwingerei: Berühmt-berüchtigt war er dafür, dass er den letzten Akt einer Oper gern im Tempo anzog – damit er noch rechtzeitig zum Tarocken in seiner Lieblingskneipe kam. Überhaupt war Strauss so ziemlich das Gegenteil fast all seiner Figuren: ein wilhelminischer Spießbürger, der unter dem Pantoffel seiner Frau Pauline stand und es am liebsten behaglich hatte. Er war kein Don Juan und kein Till Eulenspiegel, kein Zarathustra und kein Don Quixote, von den großen Frauenfiguren Elektra, Salome oder Marschallin ganz zu schweigen. Aber vielleicht war's gerade seine relative Gesichtslosigkeit, war's gerade dieses weiße Blatt, auf das er dann seine starken Charaktere zeichnete. Noch ziemlich jung war er, nämlich 24, als er den „Don Juan“ komponierte – kein postpubertäres, eher ein spätpubertäres Stück jugendlichen Auftrumpfens, die Selbstvergewisserung durch Selbstbehauptung. Zwar haben wir meines Wissens auf Tonträger kein Fremddirigat von Strauss; aber seine eigenen Werke hat er oft mehrfach aufgenommen, den „Don Juan“ sogar dreimal. Die nun folgende Einspielung mit dem Orchester der Staatsoper Berlin entstand 1932. MUSIK: R. STRAUSS, DON JUAN, TRACK 3 (14:43 7)Richard Strauss, Don Juan; Orchester der Staatsoper Berlin, R. Strauss ZYX Music 5025-2
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