Das Wiener Transfusionsmodell

SERIE
Patient Blood Management, 7. Teil*
Umsetzung in den Bundesländern
Das Wiener Transfusionsmodell
Seit nunmehr mehr als 15 Jahren beschäftigt sich der Wiener Krankenanstaltenverbund intensiv mit
dem Thema rationaler Einsatz von Blut und Blutprodukten. In den letzten Jahren wurde offensichtlich,
dass der Weg zum Erfolg letztlich über eine konsequente Qualitätssicherung und ein patientenorien­
tiertes Blutmanagement führt.
Dr. Christian Cebulla, Stv. Leiter der Stabsstelle Medizinökonomie und Pharmazie, Generaldirektion Wiener Krankenanstaltenverbund;
Dr. Peter Perger, Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin mit Blutbank und Ambulanz,
Krankenhaus Hietzing mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel, Wien
Bereits im Jahre 1995 wurde von der da­
maligen Arbeitsgruppe „Wiener Blut“ –
unter der Leitung von Dr. Wolfgang Ge­
rold, Leiter der Stabsstelle Medizinökono­
mie und Pharmazie in der Generaldirek­
tion des KAV – festgestellt, dass jede zwei­
te Blutkonserve in den Spitälern des KAV
inklusive Allgemeines Krankenhaus der
Stadt Wien (AKH) theoretisch eingespart
werden könnte. Schon damals wurde auch
durch Abhaltung hochkarätiger internatio­
naler Symposien nicht nur der ökonomi­
sche Aspekt gesehen, sondern erkannt,
dass ein umfangreiches Qualitäts- und
Ausbildungsmanagement erforderlich ist.
Betroffene zu Beteiligten machen
Dieser Paradigmenwechsel wurde im Jah­
re 2001 mit der Gründung der Arbeits­
gruppe „trans:fusion“ eingeleitet. Zu­
nächst als Task Force nach einem Transfu­
sionszwischenfall eingerichtet, entwickelt
sich die Arbeitsgruppe, die aus den Blut-
Abb. 1: Leitlinie Transfusion von
Blut und Blutprodukten
depotleiterInnen der einzelnen Blutban­
ken und -depots des KAV und des
Hanusch-Krankenhauses besteht, rasch zu
einem Referenzmodell für Qualitätsma­
nagement auf Trägerebene. Das Besonde­
re dieser Arbeitsgruppe war die interpro­
fessionelle Besetzung (Anästhesie, Inter­
ne Medizin, Labormedizin, Transfusions­
management), womit ein prozessorien­
tiertes Vorgehen ermöglicht wurde (im
Gegensatz zu den 2001 noch sehr verbrei­
teten hierarchie- und eminenzbasierten
Entscheidungsgremien).
Unterschiedliche Wege –
gemeinsame Ziele
Ein heterogenes System auf einheitliche
Standards zu bringen ist ein Vorhaben,
das sich nicht in ein oder zwei Sitzungen
umsetzen lässt. Hier ist die regelmäßige
Diskussion und Definition gemeinsamer
Ziele die Basis:
• Transfusion wird als unternehmensund abteilungsübergreifender Prozess
gesehen!
• Einsetzung von verantwortlichen Per­
sonen
• Standardisierung von Abläufen =
Verringerung der VMP (Variation in
Medical Practice)
Wiewohl bis dato die historisch gewach­
senen Prozesse in den einzelnen Häusern
unterschiedlicher nicht hätten sein kön­
nen, wurde bereits alleine durch die
Fokussierung auf die gemeinsamen Ziele
eine Harmonisierung bereits eingeleitet.
Qualitätsmanagement als Basis
für Patientensicherheit
Mit der Leitlinie „Transfusion von Blut
und Blutprodukten“, die auf Basis der
58
5/2011 klinik
Dr. Christian Cebulla
Dr. Peter Perger
Evidenz erarbeitet wurde (Abb. 1, Leit­
linie Transfusion von Blut und Blutpro­
dukten“), wurden erstmals einheitliche
Begriffe wie „individueller Transfusions­
trigger“, standardisierte Blutbereitstel­
lungsliste (inklusive Negativliste = keine
standardisierte Bereitstellung von Blut­
konserven erforderlich) oder Berechnung
von Konservenbedarf auf Basis des Sau­
erstoffangebots (DO2) in die regelmäßi­
gen
Schulungen
der
klinisch
tätigen KollegInnen im KAV eingebracht.
Weitere wesentliche Faktoren waren
Harmonisierungen von Prozessen, For­
mularen sowie die Einführung von inter­
nen Audits. Ziel ist hier im Gegensatz zu
behördlichen Begehungen nicht das Auf­
decken von Mängeln, sondern das gegen­
seitige „in die Töpfe Schauen“, das
„Lernen vom Besten“ und der offene
Gedankenaustausch. Auch hilft das
strukturierte, dokumentierte Vorgehen
gegenüber vorgesetzten Ebenen berechtigte
Investitionen oder organisatorische Ände­
rungen zu begründen.
Zertifizierung als Basis für
Prozesssicherheit
Mehr als vier Fünftel aller ernsthaften
Transfusionsgefahren (Abb. 2 „SHOT“)
lassen sich durch Verbesserungen der
Prozesse verhindern. Daher sind alle
Blutdepots bzw. -banken der Schwer­
punkthäuser im KAV zertifiziert nach der
Norm ISO 9001:2008. Als Grundlage für
die Einzelzertifizierungen wurde ein ge­
meinsames Qualitätsmanagement-Hand­
buch erarbeitet.
IT-Vernetzung als Teil des QM
Mit großem Aufwand wird derzeit die
Vernetzung der Blutbanksoftware der ein­
zelnen Blutdepots vorangetrieben, wobei
der Informationsaustausch innerhalb des
Trägers auf zwei Ebenen nach höchsten
Qualitätsstandards (GAMP 5) ermöglicht
wird (Abb. 3). Einerseits sind Patienten­
daten, d. h. die Einzelergebnisse der blut­
gruppenserologischen Untersuchungen,
innerhalb der angeschlossenen Blutdepots
online abrufbar, womit bei bereits im
KAV bekannten Patienten die blutgrup­
penserologische Historie sofort bereit­
steht. Dies bringt vor allem bei seltenen
AK-Konstellationen einen entscheiden­
den Zeitvorteil, erspart aber auch die not­
wendige Gegenbestimmung und trägt
enorm zur Identitätssicherung bei.
Auf der zweiten Ebene werden die aktuel­
len Lagerstände der Erythrozytenkonzen­
trate aller am Verbund beteiligten Depots
in Real Time im Sinne eines „Marktplat­
zes” angezeigt. Bei Lieferengpässen von
Seiten des Lieferanten bzw. Überstand im
Depot können so ohne größeren Aufwand
entsprechende Blutkonserven im „eige­
nen System“ gesucht oder angeboten und
eine unternehmensinterne Lieferung an­
gestoßen werden.
Was bringt die Zukunft?
Tab.: Was wurde erreicht?
Die zukünftigen Schritte sind vor allem
durch zwei große Themenbereiche
geprägt:
1. Etablierung des patientenorientierten
Blutmanagements/Patient
Blood
Management (auch extramurale Ver­
antwortlichkeit)
2. Sicherstellung der V
ersorgung mit
Erythrozytenkonzentraten
Verringerung
des Verbrauchs
(seit 1999)
n
Verringerung
der Verwurfrate
(seit 2004)
n
EK:
–30%
d.h. 2010 ca. 40.000 EK
weniger als 1999
n TK:
–20%
n Plasma: –24% (seit 2002)
von 7,3% auf < 5%
(KAV-weit)
Abb. 2: Serious Hazards of Transfusion (SHOT)
Cases reviewed 1996–2009
(n = 6.653)
Unclassified
7 (0,1%)
Autologous
42 (0,6%)
IBCT
2.637 (39,6%)
Incorrect blood component
transfused
Id-U
421 (6,3%)
inappropriate, unnecessary
and under/delayed
transfusion
TTI
69 (1%)
HSE
703 (10,6%)
TA-GvHD
13 (0,2%)
Handling and
storage errors
PTP
49 (0,7%)
TAD
5 (0,3%)
TACO
52 (0,8%)
Anti-D
721 (10,8%)
TRALI
257 (3,9%) HTR
443 (6,7%)
Haemolytic transfusion reactions
ATR
1.234 (18,5%)
Acute transfusion reactions
Abb. 3: Vernetzung der Blutbanksoftware –
Informationsaustausch innerhalb der Träger auf 2 Ebenen
SAP
Vernetzung Verrechnungs- und Leistungsdaten
KFJ
OWS
KES
WIL
SMZ-Ost
KAR
KHR
FLO
GER
SEM
med.archiv
Vernetzung Befund- und Konservendaten
4
5/2011 klinik
59
SERIE
Patient Blood Management, 7. Teil*
4 Die Veränderung der Gewohnheiten der
klinischen AnwenderInnen hat sich als die
größte Herausforderung herausgestellt.
Hier ist allerdings seit der Präsentation
der Ergebnisse der zweiten BenchmarkStudie und der darauf folgenden medialen
Diskussion einiges in Bewegung geraten.
Im Konzept zur klinischen Hämothera­
pie im KAV wird der Zugang zum pa­
tientenindividuellen Blutmanagement
durch Etablierung eines „Klinischen
Hämotherapeuten“ in den Krankenhäu­
sern bezweckt. Somit soll die interdiszi­
plinäre Zusammenarbeit, analog zu ei­
nem Tumorboard, in den Spitälern weiter
ausgebaut werden. Diese transfusions­
medizinisch erfahrenen Kollegen (im
Idealfall Fachärzte für Transfusionsme-
Abb. 4: Entwicklung EK im KAV 1999 bis 2010
120.000
115.000
110.000
105.000
100.000
95.000
90.000
85.000
80.000
75.000
99
19
00
20
01
20
02
20
03
20
04
20
05
20
06
20
07
20
08
20
09
20
10
20
dizin oder auch kompetente Anästhesis­
ten, Labormediziner, Internisten oder
entsprechend fachlich ausgebildete Ärz­
te) sollen als Konsiliarfachärzte bei
sämtlichen fraglichen Indikationen ein­
geschaltet werden. Zu erwarten wären ei­
ne Senkung des unangebrachten Ver­
brauches, ein Überdenken zukünftiger
Indikationen, Erfahrungsweitergabe etc.
Diese Maßnahme schafft somit den
Schulterschluss zwischen den Laborund Transfusionsmedizinern und den
klinisch tätigen Anwendern.
Als weitere Herausforderung für die
Zukunft ist die Sicherstellung der Ver­
fügbarkeit von Blutkonserven zu nennen
(auch im Zusammenhang mit der Zu­
nahme wirksamerer antithrombotischer
Therapien). Geplant ist hier in
Zusammenarbeit mit unserem Lieferan­
ten, im Sinne einer supply chain für
geplante Eingriffe bereits im Vorfeld
elektronisch die erforderlichen Konser­
ven zu bestellen. Dies ermöglicht dem
Hersteller
eine
bedarfsangepasste
Planung – zumindest für den elektiven
Bereich.
*Serie Modernes Patient Blood Management
Conclusio
Wissenschaftliche Beratung: MR Dr. Johann Kurz
Bereits erschienen:
n Teil 1: „Patient Blood Management: Der Patient im Mittelpunkt“
(Susanne Hinger, Johann Kurz)
in klinik 5/2010
n Teil 2: „Grundzüge des Eisenstoffwechsels“
(Gerhard Lanzer)
„Blutverlust und überlegtes Nutzen von Kompensationsmechanismen“ in klinik 6/2010
(Arno Schiferer, Michael Hiesmayr)
n Teil 3: „Variabilität im Transfusionsbedarf: Handlungsbedarf in Österreich“
(Susanne Hinger, Hans Gombotz)
in klinik 1/2011
n Teil 4: „Präoperative Korrektur der Anämie“
(Christian Cebulla, Peter Perger)
in klinik 2/2011
n Teil 5: „Patient Blood Management auf der Intensivstation“
(Michael Hiesmayr, Arno Schiferer)
in klinik 3/2011
n Teil 6: „Minimierung des intraoperativen Fremdblutverbrauches“
(Albert Reiter)
in klinik 4/2011
Weitere geplante Themen:
n Perioperative Anämie (Alexander Kulier)
n Strategien in ausgewählten Bundesländern
60
5/2011 klinik
in klinik 6/2011
in klinik 6/2011
Im Rahmen der langjährigen intensiven
Auseinandersetzung mit dem Thema
Blutmanagement konnten im Wesent­
lichen drei kritische Faktoren allokiert
werden:
1. konsequentes Qualitätsmanagement
2. patientenorientiertes und -individuelles
Blutmanagement
3. Schulung und Ausbildung
Durch konsequente Entwicklung eines
Qualitätsmanagements und zahlreiche er­
gänzende Maßnahmen konnten im Wiener
Krankenanstaltenverbund seit 1999 deutli­
che Reduktionen (> 30%, Abb. 4) beim
Blutkonservenverbrauch erzielt werden.
Allerdings kann nur eine nachhaltige Ent­
wicklung aller drei Säulen in interdiszipli­
närer Zusammenarbeit die für eine opti­
male Patientenbetreuung notwendigen
Rahmenbedingungen schaffen.
n