DIENSTAG, 5. JULI 2016 KUNDENSERVICE 0 8 0 0 / 9 3 5 8 5 3 7 ** D 2,50 E URO Zippert zappt D EM 2016 Lernen von Löw: Team lädiert, Trainer entspannter denn je EM-Seiten 21 bis 23 WISSEN „Benching“ – Klingt cool, sollte man aber nicht tun Seite 17 PANORAMA Fall Peggy: Kinderskelett nach 15 Jahren entdeckt Seite 20 ARGENTINIEN Ein Land drängt zurück auf die Weltbühne Nr. 155 KOMMENTAR ie EU steht kurz vor dem totalen Zerfall, und sie ist selber daran schuld. Nach der Glühbirne, dem zweischlitzigen Toaster und dem saugstarken Staubsauger ist nun der Führerschein dran. Der soll bis 2024 vereinheitlicht werden. Jeder, der noch einen alten, grauen Lappen besitzt, muss ihn hergeben und gegen eine wertlose Plastikkarte eintauschen. Der Führerschein berechtigte uns in den guten alten Zeiten, unangeschnallt tonnenweise krumme Gurken, schrumpelige Äpfel und 100-Watt-Glühbirnen mit Höchstgeschwindigkeit und 2,4 Promille Alkohol im Blut über die Autobahn zu transportieren. Niemand konnte dem Autofahrer verbieten, CDs in zwei Schlitze eines Toasters zu schieben und die Rücksitze mit einem Hochleistungsstaubsauger zu reinigen. Doch von diesen großartigen Errungenschaften ist uns nur noch der Führerschein geblieben. Der Führerscheinzwangseinzug ist der Tropfen, der das europäische Fass endgültig zum Überlaufen bringen wird. Das wird Millionen europäischer Autofahrer zum Austritt treiben. Bei der EU verschließt man die Augen vor den Tatsachen, aber der Lappexit ist nicht mehr aufzuhalten. THEMEN B Thank you, Nigel Farage! ULF POSCHARDT K REUTERS/PETER NICHOLLS;DPA/ARNE DEDERT Anarchy in the UK Nach dem Votum der Briten für einen EU-Ausstieg implodiert auf der Insel das Parteiensystem. Mit Ukip-Chef Nigel Farage tritt die zweite Galionsfigur der britischen Europagegner zurück. „Ich war nie und ich wollte nie ein Berufspolitiker werden“, sagte Farage. „Ich will mein Leben zurück.“ Zuvor hatte schon Londons Ex-Bürgermeister Boris Johnson überraschend das Handtuch geworfen. Premier David Cameron will zurücktreten, Labour-Chef Jeremy Corbyn hat kaum noch Siehe Kommentar und Seite 6 Unterstützer in seiner Partei. Deutsche kaufen so viele Diesel-Pkw wie noch nie Trotz Abgasskandals wurden im ersten Halbjahr 812.000 dieser Fahrzeuge neu zugelassen. Autobauer sehen keinen Anlass für einen Richtungswechsel und wollen den Motor vom Schummel-Image befreien D ie Autofahrer lassen sich durch die Abgasaffäre, die Krise von Volkswagen und Vorwürfe gegen Hersteller wie Fiat, Opel oder Mercedes nicht beeindrucken: In Deutschland sind die Absatzzahlen für Diesel-Pkw auf einem Rekordhoch. Vertreter der Automobilindustrie hatten bei einem internen Treffen des VDA jüngst klargemacht, dass sie keine Glaubwürdigkeitskrise der gesamten Branche sähen und auch keinen Anlass für einen Generalverdacht beim Thema Abgasreinigung und -kontrollen. Dieselgate wird als „VW-Problem“ angesehen. Dabei hatte der Bericht der Untersuchungskommission „Volkswagen“ im April bei zahlreichen Herstellern zum Teil deutliche Überschreitungen der Abgasgrenzwerte festgestellt. Im Fall von Fiat oder Opel stehen die nach Ansicht des Bundesverkehrsministeriums nicht mit der ohnehin dehnbaren Gesetzeslage im Einklang. VDA-Präsident Wissmann kündigte nun allerdings an, die Autoindustrie werde die schärferen neuen Verfahren bei Abgastests auf Prüfständen (WLTP) und auf den Straßen (RDE) unterstützen. Die neuen Messmethoden sollen realistischere Ergebnisse als die bisherigen Tests bringen. Doch die Zugeständnisse sind im Grunde nur die Ankündigung, kommende gesetzliche Vorgaben einhalten zu wollen. Weiter gehend war die Ankündigung, die Autobauer wollten Kon- land, im Ausland, besonders auf den drei großen Weltmärkten China, USA und Westeuropa. Erstmals wird die Branche in diesem Jahr wohl die 80-MillionenMarke überschreiten und nach Erwartungen des VDA weltweit 80,6 Millionen Autos in einem Jahr verkaufen. VON NIKOLAUS DOLL Im ersten Halbjahr 2016 wurden in Deutschland 812.000 Diesel-Pkw neu zugelassen. „Mehr als jemals zuvor in einem Halbjahr“, sagte Matthias Wissmann, Präsident des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), anlässlich der Präsentation des Halbjahresberichts. Allerdings ist der Marktanteil der DieselPkw gegenüber den Benzinern leicht auf rund 47 Prozent gesunken. Und es sind vor allem die Flottenkunden, die aufgrund der günstigeren Kraftstoffpreise weiter auf den Diesel setzen. Die Autoindustrie sieht daher keinen Anlass für einen grundlegenden Richtungswechsel. Schließlich läuft es ungeachtet von Dieselgate glänzend – im In- Hersteller setzen auf den britischen Markt Die deutsche Automobilindustrie setzt sich dafür ein, die Freizügigkeit im Handel mit Großbritannien auch nach dem Brexit-Beschluss beizubehalten. Es müsse alles getan werden, um den bislang ungehinderten Waren- und Dienstleistungsverkehr auch künftig zu ermöglichen, so VDA-Chef Matthias Wissmann. Dem Land stünden einige schwierige Jahre bevor. Deshalb dürfe die EU nichts unternehmen, was von „Rachegelüsten“ gespeist sei. trolleuren künftig Einblicke in das Allerheiligste gewähren: die Software. „Die Automobilindustrie befürwortet eine Reform des Typgenehmigungsverfahrens. Die Hersteller bieten an, ihre Softwarekonzepte für die Abgasnachbehandlung den Genehmigungsbehörden zugänglich zu machen“, sagte Wissmann. Doch auch das ist eine Reaktion auf den Vorstoß aus der Politik. Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) hatte bereits als Konsequenz aus dem Abgasskandal angekündigt, die Offenlegung der Motorsoftware und staatliche Prüfstände zur Nachkontrolle würden Teile eines umfassenden Maßnahmenpakets sein. Die Autobauer hatten das verhindern wollen. Denn wer die Software zur Motorsteuerung kennt, bekommt einen umfassenden Einblick in das technische Herz eines Automobils. Nun plädiert der VDA sogar für neutralere Testmannschaften. „Vorstellbar wäre, dass das Prüfpersonal häufiger ausgetauscht wird. Damit können Bindungen zwischen Konzernen und Prüfern nicht so leicht entstehen“, sagte Wissmann. Kommentar Seite 3 und Seite 9 aum hat sich die Erregung über den Fahnenflüchtigen, Feigling, Verführer Boris Johnson gelegt bei den Anständigen und Guten, folgt der nächste Sündenfall. Nigel Farage, der Ukip-Chef und scharfzüngige, oft demagogische Agitator für den Brexit, gibt sein Zepter ab. Er wolle sein Leben zurück, nachdem er sein Land zurückbekommen hatte. Es ist ein Tausch, mit dem im Lande Kants niemand etwas anzufangen weiß. Der im Internet sofort einsetzende „Miststurm“ geißelt den verhassten Rechtspopulären als Verräter seiner eigenen Idee. Für die Kritikaster, die brodelnden digitalen Massen, handeln er und Johnson pflichtvergessen, weil sie Macht und Karriere abgeben. Dabei verkünden die beiden britischen Spitzenpolitiker eine fundamentale Wahrheit, deren politische Strahlkraft weit über ihre operativen Fähigkeiten hinausreicht: Die Freiheit des Einzelnen ist das Wesen jeder freiheitlichen Demokratie. Sie steht weniger über den Dingen, als dass sie das Fundament aller Entscheidungen sein muss. In Deutschland hängen Politiker auch dann noch an ihren Ämtern, wenn es längst sinnvoll wäre, diese jüngeren, frischeren und überraschenderen KollegInnen zur Verfügung zu stellen. Farage wie Johnson können loslassen. Sie verwechseln sich nicht mit ihrem politischen Amt. Sie betonieren eine Rollendistanz, die bei uns fast undenkbar ist. Es ist dies auch Grundlage des wunderbaren britischen Humors. Das politische Establishment des Königreiches hat sich inklusive der Labour Party selbst dekonstruiert. Und wenn dieses Vakuum jetzt in Kontinentaleuropa als Katastrophe und Menetekel skizziert wird, wissen die Briten doch, dass jeder Neuanfang vor allem eine Chance ist. Das Angelsächsische ist in die Zuversicht ähnlich vernarrt wie in den Common Sense und den Pragmatismus. Die Briten haben sich in den vergangenen 70 Jahren mehrfach neu erfunden. Zuletzt durch Maggie Thatchers Revolution und Tony Blairs Cappuccino Years. Die German Angst würde eine solche Implosion des Vertrauten nicht verkraften. Das Land wäre traumatisiert. Die Briten stehen einfach auf und legen los. Leerräume sind Freiheitsversprechen. Deswegen tritt Farage auch gut gelaunt ab. Er hat scharf gepokert und gewonnen und überlässt den Gewinn und das Spiel jetzt den anderen. Labour, Tories und Ukip haben nun die Chance, ein den Herausforderungen genügendes Personaltableau anzubieten. Die Konservativen legen mit Theresa May schon einmal vielversprechend los. Alles ist möglich. Es ist eine freie Welt. [email protected] Beilage Der Kanal ist voll DAX Im Minus EM-Sieg der Franzosen gegen Island fügt England schon große Schmerzen zu. Jetzt zieht auch noch Wales in der Weltrangliste vorbei Seite 15 Dax Schluss Euro EZB-Kurs Punkte US-$ 9709,09 –0,69% ↘ Dow Jones 01.07.2016 1,1138 17.949,37 +0,02% ↗ +0,11% ↗ Punkte ANZEIGE Fast Food – Das Milliarden-Business Heute um 20.05 Uhr Wir twittern Diskutieren live aus dem Sie mit uns Newsroom: auf Facebook: twitter.com/welt facebook.com/welt „Die Welt“ digital Lesen Sie „Die Welt“ digital auf allen Kanälen – mit der „Welt“-App auf dem Smartphone oder Tablet. Attraktive Angebote finden Sie auf welt.de/digital oder auch mit den neuesten Tablets auf welt.de/bundle D ie Demütigungen nehmen kein Ende. „Ein Fünf-SterneFrankreich zeigt England, wie es geht“, schimpfte die „Daily Mail“. Island, das England so dermaßen blamiert hat bei der EM, ist nun selbst vorgeführt worden – und das ausgerechnet vom großen Rivalen von der anderen Seite des Kanals. Als wäre das alles nicht schon schlimm genug, bekommt das Mutterland des Fußballs sein Versagen am 14. Juli schwarz auf weiß vorgelegt. An diesem Tag wird die neue Weltrangliste des Fußballweltverbands Fifa erscheinen, und England wird dann, how shocking, nicht mal mehr die beste Mannschaft des Vereinigten Königreichs sein. Britanniens Nummer eins ist dann sogar Wales – sozusagen amtlich beglaubigt. Die Mannschaft spielt morgen Abend im EMHalbfinale gegen Portugal. Die „Roten Drachen“ lagen schon im Oktober kurzfristig in der Rangliste vorne, aber in knapp zwei Wochen wird die Wachablösung längerfristig sein. Das nagt natürlich am Selbstverständnis der Engländer. Aber das ist noch nicht alles. Die Suche nach einem Nachfolger für Teammanager Roy Hodgson zieht sich hin. Chris Coleman, der erfolgreiche Coach der Waliser, würde den Job ablehnen, hat er wissen lassen, „das würde für mich nie infrage kommen“. Nach wie vor gilt Jürgen Klinsmann als erster Anwärter, auch bei den Buchmachern liegt der 51-Jährige vorn. Doch es ist unklar, ob die dreiköpfige Trainerfindungskommission des Verbandes FA das auch so sieht. Klinsmanns Vertrag als Trainer des US-Nationalteams läuft zudem noch bis zur Weltmeisterschaft 2018 in Russland. Am 22. Juli findet das sogenannte Sommertreffen der FA statt, bis dahin wollen Generalsekretär Martin Glenn, der technische Direktor Dan Ashworth und Vizepräsident David Gill Kandidaten gesichtet haben. Am Freitag haben die drei sich zum ersten Mal getroffen. „Warum hat das so lange gedauert?“, fragt die „Daily Mail“. Und nur, falls die Herren an Jürgen Klinsmann dächten: Wo sei bei dieser Wahl noch „die DNA der FA zu finden“, bitte? Auch der „Daily Mirror“ findet es peinlich, dass womöglich ein Ausländer in Erwägung gezogen wird, er schlägt Sam Allardyce vom FC Southampton als Hodgsons Nachfolger vor. Mittlerweile hat der ehemalige Teammanager Sven-Göran Eriksson seine Hilfe angeboten, „liebend gerne“, ließ der Schwede ausrichten, wäre er wieder der Boss, wie von 2001 bis 2006. Eriksson arbeitet derzeit beim chinesischen Erstligisten Shanghai SIPG. England wäre nicht England, würden nicht auch die Spieler für einige Peinlichkeiten angeprangert werden. Kapitän Wayne Rooney wurde im Urlaub fotografiert, wie er an Deck einer Yacht ausrutschte – dabei aber noch geistesgegenwärtig sein halb volles Rotweinglas senkrecht hielt. Von Abwehrspieler Chris Smalling wird berichtet, dass er auf Bali vom Surfbrett fiel und in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Aber sollen sie doch, sie haben momentan ja auch wenig zu tun. DIE WELT, Axel-Springer-Straße 65, 10888 Berlin, Redaktion: Brieffach 2410 Täglich weltweit in über 130 Ländern verbreitet. Pflichtblatt an allen deutschen Wertpapierbörsen. Telefon 030 / 25 91 0 Fax 030 / 25 91 71 606 E-Mail [email protected] Anzeigen 030 / 58 58 90 Fax 030 / 58 58 91 E-Mail [email protected] Kundenservice DIE WELT, Brieffach 2440, 10867 Berlin Telefon 0800 / 93 58 537 Fax 0800 / 93 58 737 E-Mail [email protected] A 3,40 & / B 3,40 & / CH 5,00 CHF / CZ 96 CZK / CY 3,40 & / DK 26 DKR / E 3,40 & / I.C. 3,40 & / F 3,40 & / GB 3,20 GBP / GR 3,50 & / I 3,40 & / IRL 3,20 & / L 3,40 & / MLT 3,20 & / NL 3,40 & / P 3,40 & (Cont.) / PL 15 PLN / SK 3,40 € + © Alle Rechte vorbehalten - Axel Springer SE, Berlin - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.axelspringer-syndication.de/lizenzierung DW-2016-07-05-zgb-ekz- 5a80c4b15e4c655e41752e0b4f71c4c4 ISSN 0173-8437 155-27 ZKZ 7109
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