Analyse: Der deutsche Wald im Spiegel der

Der deutsche Wald im Spiegel der
Bundeswaldinventur (BWI³)
www . greenpeace . de
Ergebnisse und Entwicklungstrends
aus Sicht des Naturschutzes
Autor: Norbert Panek
(unter Mitarbeit von Markus Schönmüller)
im Auftrag von Greenpeace e.V.
Hamburg im Juni 2016
Kein Geld von Industrie und Staat
Impressum
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Stand 6 / 2016
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zum Schutz der Umwelt.
Inhaltliche Gliederung
Vorbemerkung
Kurzfassung
3
4
1. Ergebnisse der BWI³ – die offizielle Version des BMEL
5
2. Analyse einiger BWI³ -Ergebnisse aus naturschutzfachlicher Sicht mit
kritischen diagnostischen Bemerkungen
6
2.1. Vorbemerkungen zum Merkmal „Naturnähe“ (natürliche Wälder als
Referenzsysteme)
2.1.1. Baumartenanteile und Baumartenzusammensetzung
2.1.2. Baumbestandsalter
2.1.3. Bestandsstruktur (Mischung, Schichtigkeit, „dicke“ Bäume)
2.1.4. Einflüsse auf den Wald durch Schalenwild
2.1.5. Totholz
2.1.6. Bäume mit „ökologisch bedeutsamen Merkmalen“
7
2.2. Nutzungsintensität und ökologische Nachhaltigkeit
2.3. Nutzungseinschränkungen, besonders geschützte Biotope
32
33
10
16
18
21
24
30
3. Zusammenfassung und abschließende Bewertung der vorliegenden Untersuchung
35
4. Ergebnisse einer wissenschaftlichen Analyse des Bundesamtes für Naturschutz
39
5. Literaturhinweise
40
Vorbemerkung
Die Bundeswaldinventur (BWI³) steht auf einer sehr dünnen Datenbasis, was bei der
Ergebnisauswertung berücksichtigt werden muss. Insgesamt resultieren die Daten
aus einem Stichprobennetz, das rund 60.000 Probepunkte in einem 4 x 4-km-Raster
umfasst und an denen rund 420.000 Bäume erfasst wurden. An jedem Punkt wurden
über 150 Merkmale erhoben. Einige Bundesländer haben das Probennetz zusätzlich
verdichtet. Gemessen an der hochgerechneten Gesamtzahl der Bäume im deutschen
Wald ab 7 cm Brusthöhendurchmesser (7,6 Milliarden) beträgt der Anteil der
tatsächlich vermessenen Bäume also 0,005 Prozent. Nach Angaben des
Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) soll aber der
Stichprobenumfang für den gesamten deutschen Wald repräsentativ sein. Allerdings
ist zu beachten: Bei Erhebungsmerkmalen, deren Erfassung auf einem nur
beschränkten Stichprobenumfang basiert, verringert sich die „repräsentative“
Aussagekraft der Daten entsprechend. Bei diesen Daten handelt es sich im
günstigsten Fall um Annäherungswerte. Dies schränkt eine verlässliche
Interpretation der Daten (z.B. auf der Ebene der Bundesländer bei unterschiedlichen
Eigentumsarten sowie bei seltenen Merkmalen) in zum Teil erheblichem Maße ein.
Zudem ist darauf hinzuweisen, dass einige Hochrechnungsergebnisse zur
Veränderung der Bestockung nachträglich geändert wurden. Wie das Thünen-Institut
für Waldökologie gegenüber Greenpeace auf Nachfrage schriftlich am 12. März 2015
versichert hat, waren die Neuberechnungen notwendig geworden, weil nachträglich
Programmierfehler bei der "Zuordnung von Baumarten zur Hauptbestockung“
gefunden wurden.
3
Kurzfassung
Im Oktober 2014 wurden die mit Spannung erwarteten Ergebnisse der dritten
Bundeswaldinventur (BWI³) einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt. Bisherige
Analysen der Inventurdaten beschränken sich weitgehend einseitig auf
forstwirtschaftliche Aspekte und seitens des zuständigen Bundesministeriums
(BMEL) auf oberflächliche, zum Teil tendenziöse Einlassungen zum Waldzustand
allgemein. Parallel hat das Bundesamt für Naturschutz eine Analyse
naturschutzfachlich bedeutsamer Ergebnisse der dritten Bundeswaldinventur
erstellen lassen (HENNENBERG et la. 2015) und zwischenzeitlich veröffentlicht.
Zur Bewertung der BWI³ -Daten aus Naturschutzsicht ist ein Referenzsystem
erforderlich, das waldbezogen einen gedachten „Ideal“-Zustand definiert, der sich am
Vorbild „Naturwald“ (Urwald) orientieren sollte. Entscheidender Maßstab sind die
Naturnähe-Merkmale solcher Wälder, die aus zahlreichen vorliegenden Studien
qualitativ und quantitativ abgeleitet werden können. Wichtige Schlüsselmerkmale
sind hierbei alte Bäume (Altersphasen von Wäldern) und Totholz. Umfang und
Verteilung dieser Elemente entscheiden maßgeblich über den Grad der Naturnähe von
Wäldern.
Für die hier vorliegende Daten-Recherche wurde die vom Thünen-Institut für
Waldökologie ins Netz gestellte BWI-Ergebnisdatenbank (bwi.info) benutzt. Folgende
Aspekte, die nähere Angaben zur Naturnähe von Wäldern zulassen, wurden näher
untersucht:
- Baumartenanteile und Baumartenzusammensetzung
- Alter der Waldbestände
- Bestandsstrukturen (Mischung, Schichtung, Stammdimensionen)
- Totholz
- Bäume mit ökologisch bedeutsamen Merkmalen
- Einflüsse durch Schalenwild.
Auf der Grundlage der vorgenommenen Daten-Auswertung ergibt sich aus
Naturschutzsicht kurzgefasst folgender Befund:
1. Der deutsche Wald ist im gegenwärtigen Zustand aufgrund seiner
Baumartenanteile, Baumartenzusammensetzung und aufgrund der
Bewirtschaftungsintensität als weitgehend „naturfern“ einzustufen. Nur vier
Hauptbaumarten herrschen auf 72 Prozent der Gesamt-Holzbodenfläche vor. Selbst
in den jüngeren Waldbeständen (Bestandsalter bis 60 Jahre) dominieren Nadelhölzer
noch auf fast 60 Prozent der Fläche.
2. Der deutsche Wald ist in weiten Teilen ein junger, unreifer Wald. Alte, der
potenziellen natürlichen Vegetation entsprechende Laubwälder (>160 Jahre) nehmen
lediglich 2,4 Prozent der deutschen Waldfläche ein. Das fast vollständige Fehlen
fortgeschrittener, vorratsreicher Altersphasen ist aus Naturschutzsicht und vor allem
im Hinblick auf die Umsetzung der Biodiversitätsziele als dramatisch zu bezeichnen.
3. Dem deutschen Wald fehlen dicke Bäume: Der Anteil der Bäume ab
Brustdurchmesser (BHD) 70 cm macht laut BWI³ lediglich 0,3 Prozent des
Gesamtbaumbestands aus. Der Anteil des Vorrats dicker Bäume >70 cm BHD liegt im
Hauptbestand bei weniger als 5 Prozent des Gesamtvorrats aller Altersklassen und
BHD-Stufen und der Anteil der Stämme mit Brusthöhendurchmesser über 50 cm
umfasst lediglich rund 3 Prozent.
4. Von den Bäumen „mit ökologisch bedeutsamen Merkmalen“ sind lediglich 0,013
Prozent des rechnerisch ermittelten Gesamt-Baumbestands ab 7 cm BHD als
markierte Biotopbäume ausgewiesen (knapp 1 Baum je 10 Hektar). Die geringe
4
Dichte dieser markierten und damit geschützten Biotopbäume belegt augenfällig die
Unwirksamkeit „integrierter“ Naturschutzmaßnahmen im Wirtschaftswald.
5. Die naturschutzfachliche Analyse der BWI³ -Ergebnisse zum Totholzvorrat im
deutschen Wald ergibt ein alarmierendes Gesamtbild: Statistisch haben die
Totholzvorräte zwar zugenommen, die Totholz-Qualitäten aber dramatisch
abgenommen. Nur etwa ein Drittel des durchschnittlichen, auf die Waldfläche
bezogenen Totholzvorrats (Gesamtvorrat: 20,6 m³ je ha = 224,379 Mio. m³)
besteht aus Laubholz. Die Anteile von stehendem starken Totholz (ab 130 cm Höhe,
Durchmesserklasse 20 bis 59 cm) sowie von liegendem Totholz ab Durchmesser
20 cm haben seit 2002 signifikant abgenommen. Der Anteil des Totholzes bei den
Laubbäumen mit Durchmesserklassen über 60 cm beträgt lediglich 1,0 m³ je ha!
6. Ebenfalls bedenklich sind die Befunde zum Einfluss der Schalenwildarten, die den
auch aus Naturschutzsicht wünschenswerten Waldumbau weiter stark gefährden.
Fazit: Die zu geringen Anteile an alten Wäldern und die unzureichenden
Totholzmengen gefährden die waldbezogenen Biodiversitätsziele. Das öffentlich
(offiziell) verbreitete Credo „Dem Wald geht’s gut“ ist demnach aus
naturschutzfachlicher Sicht nicht länger haltbar.
1. Ergebnisse der BWI³ – die offizielle Version des BMEL
Im Oktober 2014 wurden vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft
(BMEL) die Ergebnisse der dritten Bundeswaldinventur der Öffentlichkeit erstmalig
vorgestellt. Bei der offiziellen Präsentation wurde durchweg der „gute Zustand“ der
deutschen Wälder gelobt (Pressemitteilung Nr. 245 des BMEL vom 8.10.2014 –
siehe Kasten).
„…Deutschland ist mit 11,4 Millionen Hektar zu einem Drittel bewaldet. Die dritte
Bundeswaldinventur (BWI) liefert erfreuliche Nachrichten: Unsere Waldfläche ist
konstant geblieben. Es wächst mehr Holz nach, als wir nutzen. Zudem haben wir
mehr davon als jedes andere Land der Europäischen Union. Der Vorrat im Wald ist
trotz hoher Nutzung auf 3,7 Milliarden Kubikmeter angestiegen. 90 Milliarden alte
und junge Fichten, Kiefern, Buchen, Eichen und seltenere Baumarten prägen das
Gesicht des deutschen Waldes. Der Anteil der Laubbäume ist gestiegen. Die Wälder
sind vielfältiger und naturnäher strukturiert. Wir finden mehr Totholz – eine wichtige
Grundlage für Biodiversität.
Der gute Zustand des Waldes ist das Ergebnis waldbaulichen Handelns vieler
Waldeigentümer und Förster und das Ergebnis einer Waldpolitik, die auf Balance und
Nachhaltigkeit setzt und Verantwortung auf viele Schultern verteilt…“
(Zitat: Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, Christian Schmidt,
Homepage des BMEL, 2015)
Diese nachgerade euphorisch anmutende Gesamtbewertung der Ergebnisse und
Aussagen der BWI³ durch den zuständigen Bundesminister täuscht eine sehr
optimistisch stimmende Nachricht für alle am Wohl des deutschen Waldes
interessierten Bürger vor.
Gleichzeitig beklagt das gleiche Ministerium jedoch den „hohen“ Starkholz-Anteil
(ab 50 cm Brusthöhendurchmesser), da die Verarbeitungskapazitäten im
Starkholzbereich deutlich zurückgegangen seien (BMEL-Broschüre: Der Wald in
Deutschland, S. 31). Zudem wird der Rückgang der Fichte „als wichtiger
5
Rohstofflieferant der Holzwirtschaft“ kritisch hinterfragt. „Wieviel Fichtenwald
brauchen wir und welche Alternativen zur Fichte bieten sich angesichts des
Klimawandels?“ Solche Fragestellungen berühren vornehmlich ökonomische Aspekte
der Holznutzung. Parallel suggeriert die positive Wertung „vielfältiger und
naturnäher“, dass weitere naturschutzpolitische Bemühungen um eine Verbesserung
des Waldzustands weitgehend überflüssig seien (vgl. REIF, WAGNER & BIELING
2005). Die vom BMEL vorgenommene, „offizielle“ Bewertung folgt einer stark
interessengeleiteten Politik. Fakt ist: Generell fehlt bislang eine genaue (offizielle)
Analyse und Interpretation der BWI³ -Ergebnisse speziell aus waldökologischnaturschutzfachlicher Sicht.
Eine gründliche Analyse und Bewertung der vom Bundesministerium ins Netz
gestellten Inventurdaten führt rasch zu der Erkenntnis, dass sich hinter dem
umfangreichen Zahlenwerk eine andere „Wirklichkeit“ des deutschen Waldes verbirgt.
- So fällt zum Beispiel auf, dass der festgestellte Anstieg der Totholzvorräte, für sich
betrachtet, noch kein hinreichendes Merkmal für mehr Naturnähe ist. Schaut man
allein auf die Totholzmengen in Laubwäldern, ist ihr Anteil immer noch deutlich zu
gering.
- Weiterhin sind 64 Prozent der deutschen Waldbestände hinsichtlich ihrer
Baumartenzusammensetzung nicht naturnah. Von den bis zu 60 Jahre alten
Baumbeständen, die immerhin 45 Prozent (also fast die Hälfte!) der Waldfläche
Deutschlands einnehmen, sind immer noch 58 Prozent mit nicht standortheimischen
Nadelhölzern bestockt.
Die wenigen Beispiele verdeutlichen, dass das offizielle, oberflächliche Credo „Dem
Wald geht’s gut“ aus waldökologischer Sicht nicht haltbar ist. Generell ist
festzustellen, dass die BWI³ -Daten größtenteils auf rein forstwirtschaftliche Aspekte
abgestimmt sind. Naturschutzfachlich umstritten ist beispielsweise die Definition der
Naturnähe der Baumartenzusammensetzung (siehe Kap. 2.1.1.). Bereits nach
Abschluss der zweiten Bundeswaldinventur wurde von Naturschutzseite konstatiert,
dass die geleisteten Erhebungen „noch weit davon entfernt sind, die für fundierte
naturschutzfachliche Analysen … notwendigen Daten zur Verfügung zu stellen“
(REIF, WAGNER & BIELING 2005).
2. Analyse einiger BWI³ -Ergebnisse aus naturschutzfachlicher Sicht mit kritischen, diagnostischen Bemerkungen
Die offizielle Aussage des BMEL, dass der deutsche Wald u. a. „vielfältiger und
naturnäher“ geworden sei, ist kritisch zu hinterfragen. Laut BWI³ liegt der derzeitige
Gesamtvorrat im deutschen Wald bei 3,7 Mrd. Kubikmetern, was von Forstseite als
„Rekordniveau“ tituliert wird. Wäre der deutsche Wald ein Urwald, müsste der
Holzvorrat, einen Durchschnittswert von 600 Kubikmeter je Hektar unterstellt, bei
mindestens 6,6 Mrd. Kubikmetern liegen. Allein dieser Vergleich zeigt deutlich die
Diskrepanzen zwischen bewirtschafteten (in der Regel naturfernen) und naturnahen
Wäldern sowie die möglichen Entwicklungspotenziale auf, und relativiert die
Wertungen seitens der Forst-wirtschaft. Daher müsste zur Beurteilung der Daten ein
Bewertungsmaßstab herangezogen werden, der den derzeitigen Waldzustand in
Bezug zu einem theoretisch gedachten „Zustand“ stellt, der sich aus
Naturschutzsicht möglichst nah am Zustand natürlicher (ursprünglicher) Wälder
befinden sollte.
6
2.1. Vorbem erkungen zur „Naturnähe“ (natürliche W älder als
Referenzsystem e)
Nach SCHERZINGER (1997) kann „Naturnähe“ als das Maß der Abweichung, z. B.
eines Waldlebensraumes, von einer hypothetischen Naturausstattung (z. B. Urwald)
gelten, was letztlich nach einer präziseren Definition von „Natur“ (Urwald) verlangt.
Wenn es tatsächlich um die Bewahrung von Waldnatur geht, muss der Naturschutz
unter den gegebenen Rahmenbedingungen maximale Naturnähe fordern. Einziger
zulässiger Maßstab für eine Bewertung kann dann nur die „Ausformung des
Naturwaldes und sein Entwicklungspotenzial“ sein (SCHERZINGER 1997, REIF 2000).
Auch von Seiten der Forstwirtschaft wird Naturnähe als erklärtes Leitbild moderner
Bewirtschaftungsformen zumindest „offiziell“ proklamiert, auch wenn die Praxis in
vielen Fällen davon abweicht. Vor allem im letzten Jahrzehnt wurden mittlerweile
zahlreiche vergleichende Untersuchungen zur „Naturnähe“ von bewirtschafteten und
nicht bewirtschafteten Wäldern angestellt und veröffentlicht, parallel dazu auch
entsprechende Erhebungen in osteuropäischen Urwäldern (siehe beispielhaft Arbeiten
von KORPEL 1995, MÜLLER et al. 2007, WINTER 2008 u. a.). Insgesamt sind somit
nicht nur qualitative, sondern auch quantitative Vergleichsmöglichkeiten zur
Einordnung der Naturnähe-Merkmale von Wäldern gegeben.
Ein wichtiges Merkmal zur Einstufung der Naturnähe ist die Potenzielle Natürliche
Vegetation (PNV). 2010 wurde vom Bundesamt für Naturschutz (BfN) die Karte der
„Potenziellen Natürlichen Vegetation“ von Deutschland veröffentlicht (SUCK,
BUSHART, HOFMANN & BOHN 2010). Damit liegt erstmalig für ganz Deutsch-land
eine flächendeckende Darstellung der natürlichen Vegetationspotenziale vor.
„Die Potenzielle Natürliche Vegetation (PNV) charakterisiert jene elementaren
Bausteine der Vegetationsdecke, die unter den derzeitigen Klima- und Bodenbedingungen ohne Zutun und Einwirkung des Menschen auf natürliche Weise im Wechselspiel zwischen heimischer Flora und dem jeweiligen Standort vorhanden wären“
(SUCK et al. 2014).
Die PNV gibt somit Anhaltspunkte, wie die Vegetationsausstattung unter
natürlichen Bedingungen aussehen könnte. Sie kann insofern als „Gradmesser“
zur Bestimmung der Natürlichkeit der heutigen real vorhandenen Vegetation
herangezogen werden. Aus den Flächenberechnungen zur PNV ergibt sich,
dass Buchenwälder verschiedenster Ausprägungen mit gut 67 Prozent
Flächenanteil (24,3 Millionen Hektar) die weitaus größte Rolle in der PNV
Deutschlands spielen würden, während Nadelwälder mit einem Anteil von
etwa einem Prozent (!) kaum am Aufbau der PNV beteiligt wären (SUCK et
al. 2014).
Nach SCHERZINGER sind neben der Artenausstattung (Vegetations- und
Faunenvielfalt) noch folgende Naturnähe-Kriterien relevant:
• Dimensionen (Baum-Alter, Holzvorrat, „Altersklassen“-Proportionen)
• Totholz (stehend, liegend)
• Strukturvielfalt (Waldentwicklungsphasen, Stufigkeit, „patchiness“,
Sonderstrukturen)
• Dynamik (endogene Alterungsprozesse, Störungen, Sukzession,
Entwicklungszyklen)
• „Stabilität“ (Selbstregulierungsfähigkeit, Struktur-Kontinuität,
Biotop-Tradition, Elastizität).
7
Die Kriterien Dimensionen (alte/dicke Bäume), Totholz und Strukturen gelten als
wichtige Parameter für die faunistische Vielfalt. Eingriffe in die natürlichen Abläufe
(Waldpflege- und Holzerntemaßnahmen) beschränken natürliche Entwicklungsprozesse, verhindern die Ausformung naturnaher Strukturen und minimieren die
Stabilität von Wäldern.
Konkrete Soll-Werte für „Naturnähe“ im Wirtschaftswald lassen sich aus den
typischen Strukturen von Natur- und Urwäldern ableiten. Hierzu wurden in den
letzten Jahren zahlreiche wissenschaftliche Studien veröffentlicht (siehe Literaturhinweise). Daraus wird ersichtlich, dass für Laubwald, speziell Buchenwaldökosysteme in Mitteleuropa, ein sehr kleinräumiges Mosaik verschiedener Phasen
der Verjüngung und der Alterung (bis hin zum Zerfall), die sich zeitlich und räumlich
stark überlappen, charakteristisch ist. Die reiferen Entwicklungsphasen (Alters/Zerfallsphasen) dominieren dabei (MEYER & SCHMIDT 2008), siehe Tabelle 3.
Im Nachfolgenden werden aus der Literatur einige Eckdaten zusammengestellt.
Baum-Alter und Holzvorräte der Naturwälder unterscheiden sich sehr deutlich von
Wirtschaftswäldern (siehe Tabellen 1 + 2).
Tabelle 1:
Baum-Alter der vier häufigsten Baumarten in Natur- und Wirtschaftswäldern
Baumart
Fichte
Kiefer
Buche
Eiche
aus REIF et al. (2005)
Natürlich erreichbares
Alter
>300 Jahre
500 Jahre
250-400 Jahre
850 Jahre
Alter im Wirtschaftswald
100-120 Jahre
80-150 Jahre
120-140 Jahre
200-300 Jahre
Tabelle 2:
Holzvorräte (Referenzwerte aus den Höhenstufen westkarpatischer Urwälder)
Vegetationsstufe
1.Vegetationsstufe
(Eiche)
2. + 3.Vegetationsstufe (Buche/Eiche,
Eiche/Buche)
4.Vegetationstufe
(Buche)
5. + 6.Vegetationsstufe (Tanne/Buche,
Fichte/Buche/Tanne)
7.Vegetationsstufe
(Fichte)
aus KORPEL (1995)
Reservat (Name)
Größe (ha)
Vorrat (m³ je ha)
Jursky Sur
Lanzhot
568
22 + 16
max.791
max.900
Boky
176
max.405
Kasivavrova +
Lesna
20 + 4
max.724
Havesova
Stuzica
171
660
max.800
max.680
Badin
31
max.970
Dobroc
102
Ø 729
Kotlov
71
max.860 (Ø 630)
8
Tabelle 3:
Anteile (%) der Waldentwicklungsphasen in zwei slowakischen Buchen-Urwäldern
Waldentwicklungsphase
Lücke
Verjüngungsphase
Initialphase
Frühe Optimalphase
Mittlere Optimalphase
Späte Optimalphase
Plenterphase
Terminalphase
Zerfallsphase
aus DRÖßLER (2006)
Havesova
1,5
2,6
6,0
8,9
4,7
3,8
27,1
29,6
15,8
Kyjov
2,8
6,8
4,6
8,2
4,0
23,8
36,6
13,2
Die Holzvorräte in mittel- und osteuropäischen Natur- oder Urwäldern liegen in der
Regel mindestens um das Doppelte höher als im deutschen Wirtschaftswald (336 m³
je ha laut BWI³). Infolge Alterung (der Bäume) und einer i.d.R. durch kleinflächige
Störungen in Gang gehaltenen Dynamik weisen Naturwälder eine deutlich höhere
Strukturvielfalt und einen signifikant höheren, permanenten Totholzanteil auf.
Forstliche Eingriffe (anthropogene Störungen) treten in der Nutzungsphase in der
Regel „großflächig“ auf und wirken im Endergebnis nivellierend in Bezug auf Habitatund Artenausstattung sowie auf Besiedlungsdichten von Arten. Die Unterschiede
zwischen nicht bewirtschafteten und bewirtschafteten Wäldern zeigen
Untersuchungen an 5.000 Bäumen in Schweizer Wäldern (siehe Tabelle 4).
Tabelle 4:
Strukturen und Totholz in nicht bewirtschafteten und bewirtschafteten Wäldern
Totholzvolumen
Liegendes Totholz
Totholz stehend
(Dürrständer BHD
>30 cm)
Anzahl „dicke“
Bäume (BHD
>80 cm)
Anzahl der Habitatstrukturen (in
Buchenwäldern)
Wald ohne Bewirtschaftung (>30
Jahre ungenutzt/
Alter >120 Jahre)
98 – 143 m³ je ha
Ø 70 m³ je ha
20 Stück je ha
Wald mit
Bewirtschaftung
Urwald (Nord-/
Mitteleuropa)
15 – 19 m³ je ha
Ø 11 m³ je ha
3 Stück je ha
bis 500 m³ je ha
1 Baum je ha
0,2 Bäume je ha
5 – 19 Bäume je ha
498 je ha
199 je ha
-
24 Stück je ha
alle Angaben aus BÜTLER & LACHAT 2009
In Buchenwald-Reservaten des nordostdeutschen Tieflands, die zum Teil über 100
Jahre lang nicht mehr bewirtschaftet werden, wurden beispielsweise pro Hektar 250
unterschiedliche Sonderstrukturen (Mikrohabitate) an Bäumen ermittelt, in
bewirtschafteten Buchenwäldern hingegen nur 70 pro Hektar (WINTER 2008).
Naturwälder sind durch kleinräumig wechselnde Vorkommen von unterschiedlichen
Waldentwicklungsphasen auf engstem Raum gekennzeichnet (Tabelle 3). Nach
WINTER (2008) sind in seit über 100 Jahren nicht bewirtschafteten Naturwaldreservaten ca. 20 solcher Einheiten von Waldentwicklungsphasen je Hektar zu finden,
9
in bewirtschafteten Wäldern lediglich 10 je Hektar. Späte Optimalphasen
(„Alterungsphasen“, in Buchenwäldern ab Bestandsalter 200 Jahre beginnend) sowie
Terminal- und Zerfallsphasen sind in Wirtschaftswäldern infolge kurzer
Umtriebszeiten so gut wie überhaupt nicht vorhanden.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass insbesondere alte Bäume und Totholz
als die wichtigsten Schlüssel-Elemente für Naturnähe und damit auch für die
natürliche Biodiversität von Wäldern gelten können. Umfang und Verteilung dieser
Elemente entscheiden maßgeblich über den Grad der Naturnähe und „Reife“ von
Wäldern.
Grundlage der nachfolgend vorgenommenen Bewertungen und Analysen ist die auf
der Website des Thünen-Instituts https://bwi.info/ abrufbare Ergebnisdatenbank der
Dritten Bundeswaldinventur (2012). Wir versichern, dass die im Text dargestellten
Tabellen ausnahmslos mit aus der Ergebnisdatenbank übernommenen Daten erstellt
wurden. Einzelne Tabellen wurden im Sinne der jeweiligen Fragestellung individuell
zusammengestellt und gefiltert.
2.1.1. Baum artenanteile und Baum artenzusam m ensetzung
Laut BWI³ wachsen im deutschen Wald insgesamt 51 Baumarten, davon nehmen aber
nur 11 Arten etwa 90 Prozent der Holzbodenfläche ein, die insgesamt rund
11 Millionen Hektar umfasst (inklusive Lücken und Blößen). Die vier häufigsten Baumarten Fichte, Kiefer, Buche und Eiche bedecken noch 72 Prozent des Holzbodens.
Die Flächen dieser genannten Arten verteilen sich wie folgt:
Tabelle 5:
Flächen-Anteile der vier häufigsten Baumarten
Baumart
Fichte
Wald-Kiefer
Rotbuche
Eiche
*rechnerischer Reinbestand (BWI³)
Fläche in Hektar*
2.763.219
2.429.623
1.680.072
1,129.706
in % vom Holzboden
25
22
15
10
Fichte, Kiefer, Buche und Eiche dominieren mit einem Flächenanteil von etwa
8 Millionen Hektar.
Bemerkenswert ist zudem der relativ hohe Anteil der Baumarten mit niedriger
Lebensdauer (Pionierbaumarten wie Birke, Weide, Pappeln etc.) – siehe
Kreisdiagramme (Grafik 1 + 2), was u. a. durch die in den letzten Jahren
ansteigenden Anteile von schlagflurartigen Windwurf- und Kalamitätsflächen zu
erklären ist. In den jüngsten Baumaltersklassen bis 60 Jahre liegt der Anteil dieser
Baumartengruppe bei knapp 18 Prozent!
10
Flächen-­‐Anteile wich3ger Baumarten (%)
20
25
Fichte
Kiefer
Rotbuche
10
Kurzlebige Laubhölzer
22
10
Eiche
Übrige Bäume
15
Grafik 1
Der Anteil aller Laubbäume im deutschen Wald umfasst insgesamt 4,727 Millionen
Hektar oder 43 Prozent, der Anteil aller Nadelbäume 5,900 Millionen Hektar oder 54
Prozent. Der Anteil der Laubbäume ist seit der vorletzten Erhebung (2002) um 7
Prozent gestiegen, der Anteil der Nadelbäume um 4 Prozent gesunken. Allein die
Rotbuchenfläche hat seit 2002 um insgesamt 6 Prozent zugenommen. Dieser
positive Entwicklungstrend (hin zu mehr „Naturnähe“ bei den Baumarten-Anteilen)
täuscht darüber hinweg, dass bei den jüngeren Bestandsaltersklassen, d. h. bei den
bis zu 60 Jahre alten Baumbeständen, die immerhin rund 45 Prozent, also fast die
Hälfte des deutschen Waldes einnehmen, der Nadelholz-Anteil noch weiterhin deutlich über dem Durchschnitt, nämlich bei 58 Prozent liegt. Davon umfassen
Fichtenbestände 30 und Kiefernbestände 19 Prozent. Der Buchen-Anteil hingegen
erreicht nur 9 Prozent der Altersklassenbestände bis 60 Jahre (siehe Tabellen 6 +
7). Insgesamt hat sich der Rotbuchen-Anteil in diesen jungen Altersklassen zu
Ungunsten der Nadelholz-Anteile (Fichte, Kiefer) nur geringfügig verschoben (Tabelle
7, farbig markierte Spalten)
Tabelle 6:
Baumartengruppen-Anteile in den Altersklassen bis 60 Jahre (ha)
Anteil – alle
Bäume (ha)
Anteil – alle
Nadelbäume
(ha)
Anteil – alle
Laubbäume
(ha)
Altersklasse
1 – 20 Jahre
1,067 Mio.
Altersklasse
21 - 40 Jahre
1,631 Mio.
Altersklasse
41 – 60 Jahre
2,228 Mio.
0,451 Mio.
0,957 Mio.
1,473 Mio.
0,616 Mio.
0,674 Mio.
0,755 Mio.
gerundete Zahlenangaben
11
Summe
1 - 60 Jahre
4,926 Mio.
(100 %)
2,881 Mio.
(58 %)
2,045 Mio.
(41 %)
Tabelle 7:
Veränderungen der Baumarten-Anteile seit 2002 (%)
Buchen-Anteil (%)
Fichten-Anteil (%)
Kiefern-Anteil (%)
Altersklasse
1 - 20
12,5
28
7
21 - 40
7
30
20
41 - 60
8,5
32
24,5
1 - 60
9
30
19
Veränderung
gegenüber BWI²
+2
-1
-3
Flächen-­‐Anteile der Baumartengruppen (%) in der Altersklassen 1 -­‐ 60 Jahre
9
5,8
Buche
Eiche
17,7
Andere Laubbäume kurzlebig Andere Laubbäume langlebig
58
Nadelbäume
9
Grafik 2
Grafik 2 verdeutlicht nochmals den hohen Anteil der Nadelbäume in den jüngsten
Baumaltersklassen bis 60 Jahre sowie den auffallend hohen Anteil kurzlebiger
Laubbäume, der sogar höher liegt als die Anteile von Buche und Eiche zusammengenommen. Die bedenkliche Entwicklung des Anteils der beiden wichtigsten
Baumarten in den genannten Altersklassen wird somit durch den hohen PionierbaumAnteil überdeckt (vgl. dazu auch SPERBER 2000). Laut BWI³ wird die Naturnähe der
Baumartenzusammensetzung des deutschen Waldes im Vergleich zur Potenziellen
Natürlichen Vegetation (PNV) wie folgt bewertet:
Tabelle 8:
Anteile der Naturnähe-Stufen an der Hauptbestockung (in % und in Mio. ha)
Sehr naturnah
15
(1,576)
naturnah
21
(2,311)
bedingt naturnah
41
(4,400)
kulturbetont
7
(0,779)
gerundete Daten (BWI³/ Auftragskürzel 69Z1JI_L379of_2012/ 2015-2-26)
kulturbestimmt
16
(1,779)
Im Rahmen des PNV-Projekts des Bundesamtes für Naturschutz (SUCK et al. 2014)
wurde der Versuch unternommen, auf der Grundlage der CORINE-Land-Cover-Daten
flächendeckend einen Abgleich mit der Potenziellen Natürlichen Vegetation
annäherungsweise herzustellen. Da es sich dabei meistens um Laubholzbestände
handelt, bilden die in der CORINE-Auswertung ermittelten, realen Laubwaldflächen
(größer als 100 Hektar) das Grundpotenzial der vorhandenen Waldflächen, die der
12
PNV am ehesten entsprechen. Auf dieser Basis konnten, abweichend von der BWI³Erhebung, lediglich 18,6 Prozent der deutschen Waldfläche oder 2,06 Mio. Hektar
hinsichtlich ihrer PNV-Artenausstattung als „naturnah“ eingestuft werden. Mit
Abstand den höchsten Anteil an „naturnahen Waldbeständen“ weisen die drei PNVHauptgruppen der Buchenwälder auf (insgesamt 1,74 Mio. Hektar = 15,7 Prozent der
deutschen Gesamtwaldfläche).
Zu bedenken ist, dass Buchenbestände in Deutschland aktuell nur noch 7 Prozent
ihrer angenommenen potenziellen Arealfläche belegen (siehe Tabelle 9).
Tabelle 9:
Potenzielle und reale Anteile der Buchenwälder in Deutschland (ha)
PNV-Hauptgruppe
Potenzielle Fläche
(ha)
Buchenwälder
basenarmer
Standorte (L)
Buchenwälder
mäßig basenreicher
Standorte (M)
Buchenwälder
basen- und
kalkreicher
Standorte (N)
Buchenwäldergesamt
Anteil der vorhandenen
naturnahen Bestände
(ha)
12 Mio.
nach SUCK et al. (2014)
in %
0,846 Mio.
7,0
9,1 Mio
0,536 Mio.
5,8
3,5 Mio.
0,362 Mio.
10,3
24,6 Mio.
1,74 Mio.
Natürliche WaldgesellschaFen
-­‐potenzielle Anteile an der deutschen Waldfläche (%)-­‐
2 % Nadelwälder
23 % übrige Laubwälder
75 % Buchenwälder
Grafik 3
13
7,0
Die Grafiken 3 + 4 verdeutlichen nochmals die extreme, anthropogen bedingte
Zunahme der Nadelwälder im Vergleich zum potenziellen natürlichen Anteil sowie die
Abnahme des Buchen-Anteils.
Heu3ge WaldgesellschaFen
-­‐rezente Anteile (%)-­‐
15 % Buchenwälder
54 % Nadelwälder
31 % übrige Laubwälder
Grafik 4
Im Vergleich zur potenziellen Fläche hat der heutige Flächenanteil der Buche um den
Faktor 14 abgenommen und der Flächenanteil der Fichte um den Faktor 25 (!)
zugenommen (siehe Tabelle 10).
Tabelle 10:
Potenzielle und rezente Anteile einzelner Baumarten (ha)
Baumart
Fichte
Waldkiefer
Rotbuche
Stiel- u. Traubeneiche
Weißtanne
Potenzieller
natürlicher
Flächenanteil (ha)
0,113 Mio.
0,152 Mio.
23,36 Mio.
2,15 Mio.
0,412 Mio.
Natürliche Flächenanteile nach SUCK et al. (2014)
Rezenter
Flächenanteil laut
BWI³ (ha)
2,76 Mio.
2,43 Mio.
1,68 Mio.
1,13 Mio.
0,183 Mio
Die Zahlen verdeutlichen augenfällig, dass der deutsche Wald im gegenwärtigen
Zustand insgesamt als weitgehend naturfern in Bezug auf die Baumartenzusammensetzung einzustufen ist. 81,4 Prozent der Waldfläche stimmen nach SUCK
et al. 2014 in ihrem Artenspektrum weitgehend nicht mit der Potenziellen
Natürlichen Vegetation überein. Wo von Natur aus Buchenwälder wachsen würden,
stehen heute nur zu 21 Prozent tatsächlich Buchen, aber zu mehr als 50 Prozent
Nadelhölzer. Die heute vorherrschenden Nadelbaum-Forstökosysteme (die aktuell
54 Prozent der deutschen Waldfläche einnehmen) stellen somit eine gravierende
Abweichung von dem gedachten Naturzustand dar. Ihre Naturferne birgt
bekanntermaßen hohe ökologische und ökonomische Risiken.
14
Grafik 5
Naturnähe der Baumartenzusammensetzung
Gesamtwald (alle Bestockungstypen) in %
16,5
15
sehr naturnah
7
naturnah
21
bedingt naturnah
kulturbetont
kulturbesOmmt
40,5
Nach der aktuellen BWI³ wurden nur 64 Prozent Waldflächenanteile ermittelt, die
weitgehend nicht der PNV entsprechen (siehe Grafik 5). 15 Prozent der deutschen
Waldfläche weisen nach BWI³-Angaben eine mit der PNV übereinstimmende, „sehr
naturnahe“ Baumartenzusammensetzung sowie 21 Prozent eine „naturnahe“
Baumartenzusammensetzung auf. Zu beachten ist: Laut BWI-Definition können in
„naturnahen“ Waldbeständen allerdings bis zu 30 Prozent außereuropäische
Baumarten vorkommen. Der Mindestanteil der PNV-konformen Haupt-, Neben- und
Pionierbaumarten darf 75 Prozent betragen! Diese definierte „BaumartenNaturnähe“ erklärt die Diskrepanz zwischen den Erhebungsergebnissen der BWI³ und
des PNV-Projekts (vgl. SUCK et al. 2014).
Hinsichtlich ihrer Bestandsstruktur sind die meisten Buchenwälder als „naturfern“
(kulturbetont) einzustufen (-überwiegend handelt es sich um großflächige,
homogene Altersklassenbestände), siehe Abb. 1 – 3. Zieht man als zusätzliches
Kriterium den altersbedingten „Reifegrad“ der Bestände bzw. das Baumalter (> 160
Jahre) heran, dann schrumpft der Anteil bei den PNV-relevanten, „naturnahen“
Laubwäldern auf 2,5 Prozent (= 270.155 Hektar) sowie bei der relevanten
Baumartengruppe „Buche“ auf 1,3 Prozent (= 140.260 Hektar).
Berücksichtigt man als weiteres Kriterium den menschlichen Nutzungseinfluss
(Hemerobiegrad), dann verringert sich der Anteil der tatsächlich ungestörten
(„unversehrten“) Waldbestände auf ein absolutes Minimum. Wälder, deren
Baumartenzusammensetzung der PNV entsprechen und die sich zudem seit längerer
Zeit in natürlicher Entwicklung befinden („Naturwälder“), gelten als „oligohemerob“
(vom Menschen gering beeinflusst). Völlig unberührte Urwälder, die in Deutschland
großflächig nicht mehr vorkommen, wären hingegen als „ahemerob“ einzustufen.
Nach einer vom Bundesamt für Naturschutz in Auftrag gegebenen Studie liegt der
Anteil der Wälder „mit natürlicher (nicht mehr menschlich beeinflusster)
15
Entwicklung“ bei 213.145 Hektar (= 1,9 Prozent der deutschen Waldfläche). Dabei
stimmen nur 23 Prozent dieser ermittelten Baumbestände (= 49.023 ha) mit der
potenziellen natürlichen Baumartenzusammensetzung überein und wären demnach
als „oligohemerob“ und damit tatsächlich als naturnah (im Sinne von „wenig
kulturbeeinflusst“) zu betrachten. Somit wären lediglich 0,44 Prozent der deutschen
Waldfläche auf der Hemerobie-Skala als naturnah einzustufen.
Die günstigen, auf die Baumartenzusammensetzung bezogenen Naturnähe-Werte der
BWI³ („sehr naturnah“ + „naturnah“ = 36 Prozent der Wald-Gesamtfläche) vermitteln
somit ein unvollständiges und geschöntes Bild vom deutschen Wald.
Die BWI³-Daten zeigen zudem, dass sich die Flächenanteile mit „naturnahen“
Baumarten in den letzten zehn Jahren nur geringfügig positiv verändert haben. Die
Anteile der Waldflächen mit einer „sehr naturnahen“ sowie „naturnahen“
Baumartenzusammensetzung in der Hauptbestockung haben seit der letzten BWI
(2002) um 210.580 Hektar zugenommen (was nur etwa 2 Prozent der deutschen
Waldfläche entspricht) und die Bestände mit einer „kulturbestimmten“
Baumartenzusammensetzung haben um 142.301 Hektar abgenommen. Auf die
gesamte deutsche Waldfläche bezogen, hat der Anteil der „sehr naturnahen“
Waldbestände in der Hauptbestockung seit 2002 lediglich um 65.948 Hektar
zugenommen (0,6 Prozent der deutschen Waldfläche!). Bei der Jungbestockung
weist Niedersachen als einziges Bundesland eine Negativ-Bilanz auf: Dort hat die als
„sehr naturnah“ und „naturnah“ eingestufte Baumartenzusammensetzung
(Jungbestockung mit und ohne Schirm) um 23.901 Hektar abgenommen.
Abb. 1 – 3: Dreimal Buchenwald mit PNV-konformer Baumartenzusammensetzung, aber
unterschiedlichen Hemerobie-Graden – links: Urwald im slowenischen Karst; Mitte: Buchen-Niederwald
(Hochsauerland); rechts: Großschirmschlag im nordhessischen Kellerwald (Fotos: Panek).
2.1.2. Baum bestandsalter
Das Alter von Bäumen bzw. Waldbeständen ist ein wichtiges, wertgebendes Kriterium
für Naturnähe, da die Bäume erst mit zunehmendem Alter faunistisch relevante
Strukturen ausbilden (raue Borken, Faulstellen, Höhlungen etc.). Untersuchungen
belegen, dass die höchste Struktur-Diversität und damit auch die höchste
waldspezifische biologische Vielfalt in den Alters- und Zerfallsphasen von Urwäldern
erreicht werden (siehe SCHERZINGER, WINTER et al.). Entscheidend sind auch die
Flächenanteile solcher reifen Phasen im Verhältnis zum Gesamtwaldbestand. In ostund südosteuropäischen Buchen-Urwäldern liegen diese Phasen-Anteile bei etwa 50
bis 60 Prozent (TABAKU 1999, DRÖßLER 2006, MEYER & SCHMIDT 2008). In
Buchen-Wirtschaftswäldern ist die Waldentwicklung ab der späten Optimal-Phase
bzw. Altersphase (ab 180 bis 200 Jahre) infolge der verkürzten Hiebzeiten faktisch
gekappt (siehe Tabelle 1).
Laut BWI³ sollen die Wälder Deutschlands im zurückliegenden Erhebungszeitraum
„älter“ geworden sein. Das Durchschnittsalter des Gesamtbestands beträgt 77 Jahre
(in Buchen-Urwäldern der Westkarpaten zum Vergleich: 90 Jahre!) und 24 Prozent
16
der Waldbestände sind älter als 100 Jahre (der Anteil der Bäume der reiferen
Altersphasen liegt in Urwäldern wesentlich höher – vgl. Tabelle 3). Die Fläche der
über 100-jährigen Bestände hat seit 2002 um rund 393.000 Hektar zugenommen.
Aus Naturschutzsicht sagen die genannten Zahlen für sich betrachtet wenig über den
tatsächlichen Reifegrad von Wäldern aus, wenn man weiß, dass die meisten Bäume
im deutschen Wald erntebedingt ein Alter von höchstens etwa 150 Jahre erreichen
(Ausnahme: Eichen). –Siehe Tabelle 1. Der Anteil der jungen, unter 60-jährigen
Baumbestände liegt bei fast 50 Prozent der Gesamtwaldfläche (vgl. Kap. 2.1.1.). Der
deutsche Wald ist also immer noch ein junger, in weiten Teilen unreifer Wald. „Reife“
Wälder wären bei der Buche beispielsweise Bestände, die deutlich älter als 200
Jahren sind. Solche Bestände sind heute auf größerer Fläche nur noch in
Nationalpark-Kernzonen zu finden und werden von der BWI nicht erfasst. Die
Erhebungen enden bei der Altersklasse >160 Jahre. Die aktuellen Anteile dieser
Altersklasse in den einzelnen Baumbeständen sind der nachfolgenden Tabelle 11 zu
entnehmen.
Tabelle 11:
Altersklassen (ab 140 Jahre) - getrennt nach Baumartengruppen
sowie absoluten und relativen Flächenanteilen
Baumartengruppe
Alle Baumarten
Alle Laubbäume
Alle Nadelbäume
Rotbuche
Eiche
Andere
Laubbäume
hoher
Lebensdauer
Fichte
Kiefer
Altersklasse
141 – 160
Jahre
468.986 ha
316.076 ha
152.910 ha
177.252 ha
122.725 ha
in %
*
Altersklasse
>160 Jahre
in %
*
4,2
2,8
1,4
1,6
1,1
350.169 ha
270.155 ha
80.014 ha
140.260 ha
119.029 ha
3,2
2,4
0,7
1,3
1,1
14.546 ha
0,1
10.497 ha
0,09
51.869 ha
79.154 ha
0,5
0,7
35.414 ha
29.745 ha
0,3
0,25
*Bezugsfläche = Holzboden (Gesamtwald) = 11,054 Mio. ha
Insgesamt umfasst der Anteil aller über 160-jährigen Baumbestände im deutschen
Wald lediglich rund 3 Prozent, der Anteil der Laubbaumbestände dieser Altersklasse
2,4 Prozent. Die insgesamt geringen absoluten Anteile der Altersklassen ab 140
Jahre sind Ergebnis der kurzen Umtriebszeiten, was insbesondere bei den
Nadelhölzern (Fichte, Kiefer) deutlich wird, die in der Regel bereits ab einem
Bestandsalter von 80 Jahren hiebreif sind. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass
über 160-jährige Buchenbestände meist nur noch geringe Bestockungsgrade
aufweisen. Nach Erhebungen in Hessen weisen nur noch etwa 10 Prozent dieser
Altersklasse „Vollbestockung“ auf (PANEK 2015). Die restlichen Buchen-Altbestände
sind, laienhaft ausgedrückt, „abgeerntet“, aber in der Statistik dennoch als
Altersklasse „über 160 Jahre“ deklariert.
Das fast vollständige Fehlen alter (fortgeschrittener/reifer/vorratsreicher)
Waldentwicklungsphasen im Wirtschaftswald ist aus Naturschutzsicht und vor allem
im Hinblick auf die Umsetzung der Biodiversitätsziele als dramatisch zu bezeichnen.
17
2.1.3. Bestandsstruktur (Mischung, Schichtigkeit, „dicke“ Bäum e )
Unter „Bestandsstruktur“ ist die horizontale („patchiness“) sowie vertikale
Strukturierung (Schichtigkeit) des Waldbestands zu verstehen. Der Begriff
„patchiness“ umschreibt das Flächen-Mosaik bzw. das räumliche Verteilungsmuster
der unterschiedlichen Waldentwicklungsphasen. Typisch für Buchen-Urwälder ist ein
sehr kleinräumiges Mosaik der verschiedenen Entwicklungsphasen, die sich zeitlich
und räumlich stark überlappen (MEYER & SCHMIDT 2008). Nach Beobachtungen in
den Westkarpaten bilden Buchen-Urwälder sowohl auf produktionsschwachen als
auch auf fruchtbareren Standorten ausgeprägt verschieden altrige Bestände mit
einem zwei- bis dreischichtigen Bestandsaufbau (KORPEL 1995). Die vertikale
Strukturierung wird durch natürliche Alterungsprozesse der Baumindividuen und
Massenzuwachs im hohen Baumalter forciert. Natürliche Wälder sind durch einen
permanent hohen Massen-Anteil „dicker“ Bäume (ab BHD 70 cm) gekennzeichnet.
Ihre Zahl und ihr Anteil am Gesamt-Holzvorrat steigen im Verlauf der zyklischen
Urwald-Entwicklung kontinuierlich. Im Heranwachs-Stadium deckt diese BHD-Stufe bis
zu 60 Prozent der gesamten Derbholzmasse ab (vgl. Tabelle 12, farbig markierte
Zeile). Die Ergebnisse der BWI³ zeigen hingegen, dass der Anteil des Derbholzvorrats
der BHD-Stufe 70 bis 90 cm in unseren deutschen Wäldern deutlich unter 10
Prozent liegt (Tabellen 13 + 14). Bei den Stammzahlen liegt der Anteil der
Durchmesserklassen ab 50 cm bei rund 200 Millionen (= 3 Prozent), der Anteil der
Stämme mit einem Durchmesser <50 cm bei etwa 97 Prozent (siehe Grafik 6). Die
Aussage, dass im deutschen Wald mehr „dicke Bäume“ wachsen, relativiert sich
damit.
Tabelle 12:
Anzahl der Bäume und das Derbholz-Volumen nach Stärkeklassen auf einer
Probefläche im slowakischen Buchen-Urwaldreservat Rozok
Stärkeklasse
cm
10 - 14
19 - 22
26 - 34
38 - 50
54 - 70
>74
Gesamt
Aus KORPEL (1995)
Anzahl der
Bäume
pro 0,5 ha
85
22
23
19
20
22
191
Vorrat
m³ pro 0,5
ha
5,32
6,61
19,05
52,25
112,83
300,66
496,72
18
in %
1,07
1,33
3,84
10,52
22,72
60,53
100,00
Stammzahlen-­‐Anteile nach Brusthöhendurchmesser (Mio.)
203
7 bis 49,9 cm
50 bis >90 cm
7364
Grafik 6
Tabelle 13:
Stammzahlen (pro ha) und Vorräte (m³ pro ha) nach Altersklassen ab 141 Jahre
und Brusthöhendurchmesser (BHD) ab 70 cm im Hauptbestand: alle
Baum artengruppen
Altersklassen
Alle
Altersklassen
Altersklasse
141 – 160
Jahre
Altersklasse
>160 Jahre
Stammzahl
pro ha,
alle BHDStufen
Stammzahl
pro ha, ab
BHD 70 bis
über 90 cm
622
1
0,16
333
15
4,5
179
9
5
448
67
15
131
17
13
445
147
33
BHD = Brusthöhendurchmesser
in % der
Gesamtstammzahl
Vorrat
(m³ je ha),
alle BHDStufen
Vorrat
(m³ je ha),
ab BHD
70 bis über
90 cm
in % des
Gesamtvorrats
Tabelle 14:
Stammzahlen (pro ha) und Vorräte (m³ pro ha) nach Altersklassen ab 141 Jahre und
Brusthöhendurchmesser (BHD) ab 70 cm im Hauptbestand: Baum artengruppe
Buche
Altersklassen
Alle
Altersklassen
Altersklasse
141 – 160
Jahre
Altersklasse
>160 Jahre
Stammzahl
pro ha,
alle BHDStufen
Stammzahl
pro ha, ab
BHD 70 bis
über 90 cm
490
3
0,6
356
31
8,7
149
9
6
446
81
18
120
16
13
447
144
32
in % der
Gesamtstammzahl
19
Vorrat
(m³ je ha),
alle BHDStufen
Vorrat
(m³ je ha),
ab BHD
70 bis über
90 cm
in % des
Gesamtvorrats
Aus den Tabellen 13 + 14 geht hervor, dass die Hektar-Anteile der „dicken“ Bäume
(ab 70 cm BHD) im Durchschnitt über alle Altersklassen hinweg verschwindend
gering sind (bei allen Baumartengruppen: nur 1 Baum pro Hektar (!); bei der
Baumartengruppe „Buche“: 3 Bäume pro Hektar).
Insgesamt wachsen laut BWI³ in den Hauptbeständen des deutschen Waldes rund
6,611 Milliarden Bäume ab einem Brusthöhendurchmesser von 7 cm. Die Zahl der
über 70 cm dicken Bäume beträgt 19,918 Millionen, was einem Anteil von 0,3
Prozent am Gesamtbestand entspricht. Bei der Baumartengruppe Buche umfasst der
Gesamtbestand 823,492 Millionen Bäume, wovon 0,73 Prozent einen Durchmesser
von 70 cm überschreiten. Nach der Statistik sind wirklich dicke (alte) Bäume somit
eine absolute Mangelerscheinung im deutschen Wald!
Nach Lesart des Bundeslandwirtschaftsministeriums soll der Wald in Deutschland
hinsichtlich der Baumarten-Mischung und vertikalen Schichtung im Vergleich zum
Jahr 2002 „vielfältiger“ aufgebaut sein. So sind nach BWI-Definition bundesweit mit
einem Flächenanteil von 76 Prozent Mischwälder prägend. 68 Prozent der Wälder
sind zwei- oder mehrschichtig aufgebaut. Schaut man genauer hin, liegt der Anteil
der mehrschichtigen Waldbestände, die als „Naturnähe“-Indikator herangezogen
werden könnten, nur bei 11 Prozent. Laut BWI-Definition gelten auch stark (durch
Schirmschlag) ausgelichtete Bestände als zweischichtig, die in der Hauptbaumschicht
nur 10 Prozent Deckungsgrad aufweisen und ansonsten durch eine flächendeckende
Naturverjüngung gekennzeichnet sind. Optisch wären solche Waldbestände als
einschichtig einzustufen. Laut BWI-Definition sind Wälder schon „gemischt“, wenn
lediglich zwei unterschiedliche Baumarten vorkommen und eine der Baumarten
mindestens 10 Prozent Flächenanteil hat. Dies bedeutet, dass selbst ein naturferner
Nadelwald mit nur 10-prozentigem Laubholz-Anteil als „gemischt“ gilt.
Abb. 4 + 5: Unterschiedlich strukturierte Buchenbestände – links: Urwald (Rothwald),
rechts: Typischer homogener Altersklassen-Wirtschaftswald.
Vertikalstrukturen im Naturwald sind durch zahlreiche Sonder-Merkmale
gekennzeichnet, die sich nur in alten, ausgereiften Wäldern optimal entwickeln
können (Uralt-Riesen, gebrochene, abgestorbene und krumme Bäume, Bäume mit
Höhlen und Spalten, schwachwüchsige Unterständer etc.). Sie sind im
Wirtschaftswald meist nur in geringer Zahl vertreten und kommen im Zuge der
üblicherweise früh einsetzenden Stamm-Auslese („das Schlechte fällt zuerst“) kaum
zur Entfaltung. Im Zuge der BWI³ wurden Bäume mit besonderen ökologischen
Merkmalen ermittelt (vgl. auch Kap. 2.1.5.); ihre geringen rechnerischen Anteile am
Gesamt-Baumbestand bestätigen den reduzierenden Einfluss der forstlichen Nutzung
(siehe Tabelle 15).
20
Tabelle 15:
Stammzahl nach Brusthöhendurchmesser >70 cm, Baumaltersklasse >160 Jahre,
ökologisch bedeutsame Baummerkmale (alle Bestandsschichten)
Baummerkmal
Gesamt
BHD ab 70 cm
Baumaltersklasse
>160 Jahre
Bäume mit
ökologisch
bedeutsamen
Merkmalen
Specht- und
Höhlenbäume
Markierte
Biotopbäume
Stammzahl
absolut
7.567 Mio.*
21,689 Mio.
Stammzahl
in Prozent
100
0,28
49,694 Mio.
0,65
93,047 Mio.
1,23
21,777 Mio.
0,982 Mio.
0,28
0,013
*Bäume ab 7 cm BHD
2.1.4. Einflüsse auf den W ald durch Schalenwild
Aus Naturschutzsicht sind große pflanzenfressende Wildarten natürlicher Bestandteil
des Waldökosystems. Große ungestörte Referenzflächen, die den natürlichen Einfluss
der sogenannten Megaherbivoren speziell auf sommergrüne Laubwälder unter
Urwald-Bedingungen belegen, fehlen heute in Europa allerdings weitgehend.
Untersuchungen zeigen große Unterschiede zwischen den Wildtierdichten in weitgehend „naturnahen“ Wald-Regionen (Rumänien) und in Regionen, die durch starke
zivilisatorische Einflüsse gekennzeichnet sind (Deutschland). Dementsprechend
ausgeprägt sind die Auswirkungen auf die Waldvegetation (siehe Tabelle 16).
Tabelle 16:
Wildtierdichten (Einzeltier je 100 ha) in Rumänien und in Deutschland (HainichRegion, Westerwald) unter verschiedenen Management-Bedingungen im Vergleich
Land
Region
Rumänien
Nordost-R.
Zentral-R.
Süd-R.
(Altersklassenwald)
Mühlhausen
Westerwald
EinzelstammNutzung
Nutzungsfrei
Deutschland
Rehwild
Damwild
Rotwild
Wolf/
Bär/
Luchs
1,0
0,9
1,0
0
0
0
0,2
0,2
0,2
0,06
0,08
0,08
27,0
7,0
17,0
3,3
0
4,2
0
1,2
1,2
0
0
0
7,4
3,1
5,3
0
BaumartenVerluste
durch Verbiss (%)
10 – 30
52 - 67
Aus: SCHULZE et al. 2014, verändert; Zahlenangaben nach Experten-Schätzungen aus 347
Jagddistrikten (Rumänien) sowie stichprobenartige Zählungen (2002 und 2008), auffällig die
dramatisch hohen Rehwild-Dichten und hohen Verbiss-Verluste in Deutschland.
Neuere Erkenntnisse scheinen die These zu unterstützen, dass die Populationsdichte
von Huftierbeständen unter natürlichen Bedingungen nicht nur durch Prädatoren,
sondern maßgeblich auch durch die „Lebensraumkapazität“ bzw. durch winterliche
21
Nahrungsengpässe, Seuchen und Witterungsextreme reguliert wird und durch
Wanderbewegungen ausgeprägten saisonalen Schwankungen unterliegt. Derartige
natürliche „Rahmenbedingungen“ werden durch den jagdlichen („hegenden“) Einfluss
sowie durch die durch Landnutzung und Infrastruktur hochgradig zerschnittene
Kulturlandschaft weitgehend aufgehoben, was die räumliche Konzentration
„unnatürlich“ hoher Wilddichten fördert. Überhöhte Schalenwilddichten können dann
durch unterschiedliches Fressverhalten erheblichen Einfluss auf die Bestandsstrukturen von Wäldern nehmen. So kann beispielsweise bei sehr hohen Wilddichten
die Waldverjüngung durch Verbiss massiv gestört werden (AMMER et al. 2010,
SCHULZE et al. 2014). Zudem findet durch selektiven Verbiss eine Verdrängung von
Mischbaumarten, in erster Linie von Laubholzarten („Entmischung“) statt (AMMER &
VOR 2013). Daneben treten auch so genannte Schälschäden an den Rinden der
Bäume auf. Hauptverursacher ist vor allem das Rotwild. Vor diesem Hintergrund sind
die dramatisch angestiegenen Kopfzahlen bei den Haupt-Wildarten (abgeleitet aus
den Jagdstrecken der letzten 75 Jahre) besonders alarmierend (siehe Tabelle 17).
Tabelle 17:
Entwicklung der Jagdstrecken in Deutschland
Wildart
Rotwild
Rehwild
Schwarzwild
Damwild
Jagdstrecke
1936/1937
Jagdstrecke
2010/2011
56.960
643.364
36.642
12.743
67.969
1.138.593
585.244
63.266
Datenquelle: Deutscher Jagdschutzverband (www.jagdnetz.de)
Veränderungen
gegenüber
1936/37
+ 11.009
+ 495.229
+ 548.602
+ 50.523
Wildunfälle
2010/2011
2.682
205.320
25.690
3.920
Wie obiger Tabelle zu entnehmen ist, haben die Zahlen insbesondere bei Reh- und
Schwarzwild drastisch zugenommen. Laut BWI³ hat sich demzufolge die Schäl- und
Verbiss-Belastung im deutschen Wald weiter verschärft. Nach den Erhebungen ist
bundesweit etwa jeder vierte Jungbaum (27,6 Prozent) verbissen. Nach BWI² (2002)
war noch knapp ein Fünftel aller 20 bis 130 cm hohen Jungpflanzen verbissen.
Tabelle 18:
Verbiss an Jungbäumen (20 - 130 cm Höhe) im Haupt- und
Nebenbestand, Pflanzenzahl je bestockter Holzbodenfläche (ha)
Verbiss-Status
Mit oder ohne Verbiss
Kein Verbiss
Einfacher Verbiss
Mehrfacher Verbiss
Pflanzenzahl je ha
6.008
4.349
725
924
in Prozent
100
72,4
12,1
15,5
Deutlicher wird die Verbiss-Belastung an ungeschützten Jungbäumen der einzelnen
Baumartengruppen (Tabelle 19). Im Vergleich zu den Angaben der BWI² (2002)
zeigen vor allem die Baumarten Buche, Eiche, andere Laubbaumarten hoher und
niedriger Lebensdauer sowie die Tanne signifikant erhöhte Werte auf. Bei Eiche und
langlebigen Laubbäumen (Edellaubhölzer) liegt der Verbiss-Anteil bei über 40
Prozent, d.h. fast die Hälfte der aufkommenden Jungpflanzen dieser Baumarten sind
geschädigt.
Von den geschädigten Bäumen (ab 7 cm BHD) weisen 39 Prozent Schälschäden auf;
bezogen auf den Gesamtbaumbestand im deutschen Wald wurden 6,7 Prozent
geschält (Tabelle 20).
22
Tabelle 19:
Verbiss an Jungbäumen verschiedener Baumartengruppen mit und ohne Schutz
(Baumgröße 20 – 130 cm), Anteil an der Pflanzenzahl (%), in Klammern:
Prozentwerte aus BWI²
Baumart
Buche
Eiche
Andere Laubbäume
hoher Lebensdauer
Andere Laubbäume
niedriger
Lebensdauer
Tanne
Fichte
Kiefer
Lärche
Douglasie
Verbiss (%) ohne
Schutz
17,4 (10,7)
44,7 (24,2)
Verbiss (%) mit
Schutz
9,2 (9,7)
21,3 (23,1)
Differenz (%)
42,7 (32,5)
25,5 (22,5)
-17,2 (-10,0)
38,5 (27,0)
15,8 (9,8)
-22,7 (-17,2)
26,6 (15,4)
6,4 (2,8)
29,7 (7,0)
12,0 (10,5)
12,7 (26,5)
8,3 (16,5)
7,4 (0,7)
6,7
2,9 (0,0)
5,9 (5,4)
-18,3 (1,1)
1,0 (-2,1)
-23,0
-9,1 (-10,5)
-6,8 (-21,1)
-8,2 (-1,0)
-24,3 (-1,1)
Prozentwerte der BWI² in Klammern entnommen aus: REIF et al. (2005), S. 14
Tabelle 20:
Stammzahl nach Stammschaden (geschädigte Bäume ab 7 cm BHD)
Stammschaden
Geschädigte
Bäume insgesamt
Mit Schälschäden
(jung und alt)
Mit Rücke- und
Fällschäden
*7.600 Mio.
Stammzahl (in
Mio.)
Anteil in % des
geschädigten
Baumbestands
Anteil in % des
Gesamtbaumbestands*
1.310,57
100
17,2
507,75
39
6,7
403,30
31
5,3
Die Befunde, insbesondere die Schädigungen bei den Laubhölzern sind in erster Linie
aus waldbaulicher Sicht bedenklich, vor allem auch im Hinblick auf die allseits
angestrebte und auch aus Naturschutzsicht geforderte Umwandlung naturferner
Nadelwälder in laubholzreiche, naturnähere Mischwälder. Nach neueren Berechnungen
werden die Kosten der verbiss-bedingten Zuwachsverluste auf 33 bis 36 Millionen
Euro geschätzt, die Kosten für Zaunschutz auf 90 Millionen Euro (AMMER et al.
2010, CLASEN & KNOKE 2013). Die Sicherung der Naturverjüngung in den
Waldbeständen ist heute in vielen Regionen ohne kostenintensive Schutzmaßnahmen
kaum mehr möglich. Das deutsche System der Bejagung bzw. SchalenwildRegulierung ist weitgehend wirkungslos.
23
2.1.5. Totholz
Totholz ist ein im Funktionskreislauf untrennbarer Bestandteil und ein wichtiges
Strukturmerkmal naturnaher Wälder. Ohne einen angemessenen Totholzanteil sind
die Biodiversitätsziele im deutschen Wald nicht zu erreichen. Ein großer Anteil der
Tiere und Pflanzen, die auf Totholz angewiesen sind, gehört zu den prioritären ZielArten des europäischen und nationalen Naturschutzrechts. Diese Arten sind in ihrer
Lebensweise meist hochgradig auf bestimmte Zerfalls- und Zersetzungsphasen von
Holz angewiesen. Totholz, bzw. qualitativ und quantitativ ausreichende
Totholzvorräte im Wald sind daher eine der entscheidenden Grundvoraussetzungen
für die Erhaltung der Biodiversität in unseren Wäldern.
Rund ein Fünftel der gesamten Waldfauna sowie über 2.500 höhere Pilzarten hängen
in irgendeiner Weise von Totholz ab. Je nach Holzart und Stand des Verfallsprozesses sind etwa 600 Großpilzarten und rund 1.350 Käferarten an der vollständigen
Re-Mineralisierung eines Holzkörpers beteiligt (vgl. SCHERZINGER 1996). Hinzu
kommt eine bisher noch unbestimmte Anzahl von Pflanzen, Flechten, Bakterien,
Schleimpilzen und Algen. Schon geringe Unterschiede in Holzbeschaffenheit,
Zersetzungsgrad, Bewuchs, Berindung, Besonnung oder Dicke des Holzes schaffen
zahlreiche Klein- und Kleinstlebensräume. In diesen Lebensräumen, von der wassergefüllten Höhlung in einem vermodernden Stamm bis zum ausgetrockneten Ast in
der Krone, finden sich die verschiedensten Tier- und Pflanzengemeinschaften, die
sich im Laufe der Evolution an diesen Lebensraum angepasst haben.
Allerdings ist Totholz nicht gleich Totholz: Naturschutzfachlich besonders wertvoll
sind stehende tote Bäume und Stammabbrüche im geschlossenen Bestand. Gerade
diese ökologisch bedeutsamste Totholz-Fraktion des stehenden, stark dimensionierten Totholzes fehlt in den „naturnah“ nach Forsteinrichtung bewirtschafteten
Wäldern weitgehend, wie die diesbezüglichen Ergebnisse der BWI³ zeigen.
Weil sich Totholz im Laufe seines Zersetzungsprozesses laufend verändert, sind die
Arten gezwungen, umzusiedeln, sobald ihr bevorzugtes Substrat nicht mehr
verfügbar ist.
Besonders wenn in unmittelbarer Nähe keine entsprechenden Totholz-„Angebote“
vorhanden sind, ist dieses „Umsiedeln“ für migrationsschwache Arten kaum mehr
möglich. Die entsprechende Waldfläche hat somit ihre Lebensraumfunktion für diese
Arten verloren.
Nach AMMER & SCHUBERT (1999) sollte in Wirtschaftswäldern bei der angestrebten
Erhöhung des Totholzvorrats somit vor allem auf starkes, stehendes Totholz Wert
gelegt werden, welches durch seine Exposition trockener und wärmer ist als
liegendes Totholz und langsamer vergeht. Die im Wirtschaftswald gewöhnlich
vorherrschenden Strukturen (Reisig, kleinere Äste, Stubben, Schlagabraum) haben
zwar durchaus wichtige Funktionen im Waldlebensraum-Gefüge. Sie reichen aber
nicht aus, wenn das zentrale Element eines effektiven Natur- und Artenschutzes
fehlt: Stark dimensionierte Altbäume bzw. starke stehende Tothölzer in
ausreichender (kontinuierlicher) Anzahl.
Eine Analyse von zahlreichen Buchenwald-Naturwaldreservaten in Europa erbrachte
einen mittleren Totholzanteil von 130 m³/ha (CHRISTENSEN et al. 2005). Vgl. auch
Tabelle 4.
MÜLLER, BUßLER & UTSCHICK (2007) haben Schwellenwerte von 38 - 60 m³ je ha
ermittelt, bei denen sich eine signifikant erhöhte Zahl xylobionter Arten (Naturnähe24
Indikatoren) einstellt. Sie empfehlen daher, die Totholzmengen in Wirtschaftswäldern
ab einem Bestandsalter von 140 Jahren auf mindestens 40 m ³ je Hektar zu
erhöhen.
Im Rahmen der BWI³-Erhebung wurde im deutschen Wald insgesamt eine
Totholzmenge von 224.378.859 m³ erfasst. Dies entspricht 20,6 m³ je Hektar.
Insgesamt beträgt der Anteil der Totholzmenge lediglich 6 Prozent des GesamtHolzvorrats im deutschen Wald. Von der gesamten Totholzmenge im deutschen Wald
sind nur 35 Prozent "Laubbäume mit Eiche". Der weit überwiegende Anteil ist totes
Nadelholz (65 Prozent). Beim Laubholz ist das Segment der starken TotholzDurchmesserklassen über 60 cm mit einem Anteil von nur 1,0 m³ je Hektar (=
11,829 Mio. m³) vertreten. Schwach dimensioniertes Totholz (Durchmesserklassen
unter 30 cm) macht über die Hälfte des Totholz-Aufkommens aus.
Auf dem „ersten Blick“ lässt sich anhand dieser Eckdaten bereits feststellen, dass
der deutsche Wald unter permanentem Mangel an starkem Totholz leidet. Dem
deutschen Wald fehlt es darüber hinaus an autochthonem Laubbaum-Totholz.
Anteile der Totholztypen im deutschen Wald (in %)
(Totholz-­‐Gesamtmenge: 20,6 m³ je Hektar)
29
Liegendes Totholz
48
Stehendes Totholz
Abfuhrreste/ Wurzelstöcke 23
Grafik 7
Das Diagramm (Grafik 7) zeigt, dass allein der Anteil von Wurzelstöcken (Höhe 10
bis 130 cm) und Abfuhrresten mit 5,9 m³/ ha (= 29 Prozent) über ein Viertel des
gesamten Totholzvorrats ausmacht! Die Lebensraumfunktion eines 10 cm hohen
Stubbens ist aber mit derjenigen eines über 1,3 m hohen, stehenden StammAbbruches überhaupt nicht vergleichbar. Durch Einbeziehung ökologisch funktionsarmer Begleitstrukturen (Wurzelstöcke, Abfuhrreste) wird der Totholzvorrat
schön gerechnet.
Der über alle Bundesländer für Deutschland ermittelte, hohe Durchschnittswert von
20,6 m³/ha Gesamt-Totholzvorrat hat sich seit der BWI² annähernd verdoppelt!
Diese wundersame Vermehrung des Totholzvorrates verlangt nach einer Erklärung,
welche sich aus der Analyse weiterer Datensätze ergibt.
25
Tabelle 21:
Totholzvorrat (m³/ha) nach Totholztyp – stehend und liegend
Land
BadenWürttemberg
Bayern
Brandenburg
+ Berlin
Hessen
MecklenburgVorpommern
Niedersachsen
NordrheinWestfalen
RheinlandPfalz
Saarland
Sachsen
SachsenAnhalt
SchleswigHolstein
Thüringen
Hamburg +
Bremen
Alle Länder
Stehend ganzer
Baum
1,6
Stehend –
Bruchstück
(>130 cm)
3,0
Stehend gesamt
Liegend Stammstück
Liegend Teilstück
Liegend –
gesamt
4,6
Liegend –
ganzer
Baum
1,0
1,4
11,7
14,2
2,8
1,4
3,8
1,9
6,6
3,4
0,8
1,1
1,1
0,9
6,0
4,3
7,8
6,2
1,4
2,3
1,6
2,4
2,9
4,7
1,3
2,3
1,4
2,0
13,0
5,6
15,8
9,9
1,4
1,5
2,7
3,1
4,1
4,5
0,4
1,5
1,4
1,0
6,6
9,1
8,4
11,7
2,0
2,8
4,7
2,4
2,0
8,5
12,0
2,8
1,4
1,4
5,6
1,1
4,5
8,4
2,5
5,9
1,7
0,6
1,7
1,0
0,3
0,6
11,8
4,4
6,2
14,5
5,4
8,5
1,1
1,5
2,6
0,5
0,7
6,6
7,8
1,6
1,7
3,0
4,1
4,7
5,7
1,1
0,2
0,6
0,4
7,5
3,7
9,2
4,3
1,9
2,9
4,7
1,1
1,2
7,6
9,9
Tabelle 21 zeigt den Totholzvorrat in der Verteilung auf die Waldfläche in m³/ha,
differenziert nach Totholztyp - stehend und liegend - sowie Bundesländern. Auffällig
sind hier zunächst die stark unterschiedlichen Werte in den Bundesländern. Deren
Zustandekommen lässt sich bei genauerer Betrachtung zu einem guten Teil aus der
mehr oder weniger gegebenen Betroffenheit der Bundesländer durch die
vergangenen Sturmwurf-Kalamitäten erklären. Windwurf-betroffene Flächen weisen
durch die anfallenden Mengen vor allem an liegenden Stamm-Teilstücken deutlich
höhere Totholz-Anteile auf als normal bestockte, mehr oder weniger geschlossene
Wälder. Dabei handelt es sich weit überwiegend um ökologisch eingeschränkt
funktionsfähiges, schwaches liegendes Totholz (überwiegend aus Nadelbäumen, vgl.
dazu auch Tabelle 22). Der Anteil der ökologisch bedeutenden, stehenden TotholzElemente nimmt hingegen nur 23 Prozent des Gesamt-Totholzvorrats ein, wobei
sowohl stehende als auch liegende, ganze Bäume zu den Raritäten im
Wirtschaftswald zählen (Vorratsanteile deutlich unter 10 Prozent).
26
Tabelle 22:
Totholzvorrat (m³/ha) nach Baumartengruppe und Totholz-Durchmesserklassen
Baumartengruppe
Nadelbäume
Laubbäume ohne
Eiche
Eiche
Alle Baumartengruppen
10 –
19 cm
3,8
2,0
20 –
39 cm
5,1
2,1
40 –
59 cm
2,5
0,8
60 –
79 cm
1,2
0,5
>80
cm
0,8
0,3
Alle Durchmesserklassen
13,3
5,8
0,5
6,3
0,5
7,7
0,2
3,6
0,1
1,8
0,1
1,3
1,5
20,6
Tabelle 22 offenbart, dass gemittelt über alle Baumartengruppen knapp 70 Prozent
des Totholzes Durchmesser unter 40 cm aufweisen. Die Hälfte (10,8 m³/ha) des
Gesamttotholzes besteht aus Durchmesserklassen unter 30 cm.
Die ökologisch bedeutsameren Durchmesserklassen über 40 cm haben einen Anteil
von ca. 30 Prozent an der Gesamt-Totholzmenge von 20,6 m³/ha. Allerdings liegt
dabei der Nadelholzanteil ziemlich exakt doppelt so hoch wie der Anteil der beiden
Laub-Baumartengruppen zusammen.
Aus Nadelbäumen hervorgegangenes, starkes Totholz weist gegenüber
abgestorbenem Laubholz einen deutlich geringeren ökologischen Wert auf. Die
hochrangigen Ziel-Arten des nationalen und europäischen Naturschutzrechts, wie z.B.
xylobionte Käfer, Fledermäuse und Höhlenbrüter, sind zum weit überwiegenden
Anteil an (starkes) Laubholz und dessen Abgangs- und Zersetzungsstadien adaptiert.
Die Zahlen der BWI³ belegen also, dass der ermittelte, durchschnittliche GesamtTotholzvorrat der Wälder Deutschlands nur zu einem geringfügigen Anteil wertvolle
Habitat-Funktionen übernehmen kann. Der tatsächliche, ökologisch wertvolle Anteil
des Totholzvorrats im Laubholz mit Durchmessern ab 60 cm bewegt sich, bezogen
auf die o.g. Zielartengruppen, bei etwa einem m³ je Hektar (!) – rot markierte
Vorratsangaben in Tabelle 22.
Als aufschlussreich erweist sich die Gegenüberstellung des absoluten Totholzvorrates
(Menge in m³) nach Baumartengruppen (Totholz) und der Veränderungen im
Zeitraum 2001 bis 2012. Nachfolgend genauer betrachtet wurde das mengenanteilmäßig größte Totholz-Segment der Durchmesserklassen von 20 bis 59 cm, getrennt
nach stehendem (Bruchstück >130 cm) und liegendem Totholz (Tabellen 23 + 24).
Tabelle 23:
Veränderung des Totholzvorrats [Mio. m³] nach Baumartengruppen/Totholz
stehend (Bruchstück ab 130 cm Höhe), Durchmesserklasse 20-59 cm,
Stückmasseklasse von 0,2 bis <0,5 m³ / Periode=2002-2012
Land
Nadelbäume
Laubbäume
ohne Eiche
Eiche
Deutschland
(alle Länder)
-1,021
-0,219
-0,048
Alle
Baumartengruppen
-1,288
Zahlenangaben gerundet
Tabelle 23 zeigt: Der Totholz-Vorrat im stehenden Totholz (Bruchstücke) hat sich im
Erfassungszeitraum 2002 -2012 in den dargestellten Durchmesserklassen stark
reduziert. In der (hier nicht dargestellten) Durchmesserklasse 40 - 59 cm ist der
27
absolute Totholzrückgang beim Laubholz (-29.839 m³) sogar höher als beim
Nadelholz (-17.680 m³)!
Tabelle 24 zeigt die Veränderungen seit 2002 im liegenden Totholz ab 20 cm
Durchmesser. Dort sind in den Durchmesserklassen 20 - 39 cm sowohl bei den
Nadelbäumen als auch bei den Laubbäumen zu etwa gleichen Teilen signifikante
Rückgänge zu verzeichnen. In der Summe haben die ökologisch bedeutsameren
Durchmesserklassen ab 20 cm im liegenden Totholz im Erfassungszeitraum um
insgesamt 2,684 Mio. Hektar abgenommen!
Tabelle 24:
Veränderung des Totholzvorrats (Mio. m³) nach Baumartengruppen/ Totholz
liegend, Durchmesserklassen ab 20 cm, Stückmasseklasse von 0,2 bis <0,5 m³ /
Periode=2002-2012
Baumartengruppe
Totholz
Nadelbäume
Laubbäume
ohne Eiche
Eiche
Alle Baumartengruppen von
Totholz
Durchmesser
20 – 39 cm
60 -79 cm
> 80 cm
Summen
-1,385
40 – 59
cm
+0,299
-0,105
-0,041
-1,232
-1,091
-0,357
+0,191
+0,028
-0,074
-0,006
-0,084
-0,059
-1,058
-0,394
-2,833
+0,518
-0,185
-0,184
-2,684
Zahlenangaben gerundet
In einigen Bundesländern haben die Liegendholz-Vorräte in der Durchmesserklasse 20
bis 39 cm im Laubholzbereich zum Teil außergewöhnlich stark abgenommen, so z. B.
in Thüringen (minus 792.000 m³!), in Baden-Württemberg (213.000 m³), in Niedersachsen(180.000 m³) und in Hessen (179.000 m³). Erstaunlicherweise gab es auch
statistisch signifikante Mengen-Abnahmen beim liegenden Nadelbaum-Totholz in den
Durchmesserklassen ab 20 cm vor allem in Baden-Württemberg, Thüringen und
Bayern, was vermutlich auf die fortschreitende Aufarbeitung von (Fichten-)
Windwurfholz zurückzuführen ist.
Von offizieller Seite wird immer betont, dass sich in der Gesamtbilanz die
Totholzvorräte seit 2002 von 11,5 m³/ha auf 20,6 m³/ha fast verdoppelt haben.
Dies ist in erster Linie auf geänderte Aufnahmekriterien zurückzuführen. In der
Inventur 2002 wurde Totholz ab einem Durchmesser von 20 cm erfasst, bei der
aktuellen Inventur schon ab 10 cm. Vergleicht man die Vorratsmengen ab 20 cm
Durchmesser, so lag die Zunahme zwischen 2002 und 2012 lediglich bei 2,1 m³/ha.
28
Tabelle 25:
Veränderung des Totholzvorrats (m³) nach Baumartengruppe und TotholzDurchmesserklassen / Periode=2002-2012
BaumartenØ 10 – 19
20 – 39
40 – 59
gruppe
cm
cm
cm
Laubbäume
ohne Eiche
5.193.631
1.246.464
-1.408.946
Eiche
1.650.244
-127.038
-484.550
Nadelbäume 12.484.149 3.728.639
300.427
Gesamt
19.328.025 4.704.065
-1.593.070
Quelle: https;//bwi.info/; 69V1PI_L202mf_2012_L203
60 – 79
cm
1.390.458
-646.359
1,498.968
2.243.068
>80 cm
Summe
Ø-Klassen
m³/
ha
-613.419
-147.014
-421.565
-1.181.997
5.808.188
101.283
17.590.618
23.500.091
0,5
0,0
1,6
2,1
25
20
15
10
5
0
ø 10 -­‐ 19 cm
ø 20 -­‐ 39 cm
ø 40 -­‐ 59 cm
ø 60 -­‐ 79 cm
ø >80 cm
-­‐5
Grafik 8: Veränderung des Totholzvorrats nach Durchmesserklassen
Die konstatierte, „erhebliche“ Zunahme des auf den Hektar bezogenen
Totholzvorrates hat sich mit einem Anteil von ca. 75 Prozent ausschließlich in der
Baumartengruppe „Nadelbäume“ vollzogen (siehe Tab. 25 – gelb unterlegt) und dort
hauptsächlich in der schwachen Durchmesserklasse 10 - 19 cm (!), während bei den
Durchmessern 40 - 59 cm und >80 cm, wie bereits ausgeführt, signifikante
Abnahmen zu verzeichnen sind (siehe Grafik 8). Die Zunahme der schwachen
Totholz-Segmente resultiert offensichtlich ursächlich aus den massiven WindwurfKalamitäten in einigen Bundesländern, welche durch die hohen Mengen an
anfallendem liegenden Schwach-Totholz (Schlagabraum), stehenden Bruchstücken,
Wurzeltellern mit Stammanlauf, Wurzelstöcken etc. charakterisiert sind. Diese
windwurf-typischen Totholzstrukturen sind jedoch kaum in der Lage, den niedrigen
Anteil von ökologisch hochwertigem Totholz in den Baumartengruppen „Laubholz
ohne Eiche“ und „Eiche“ zu kompensieren.
Die Auswertungen der zweiten BWI (vgl. REIF, WAGNER & BIELING, 2005) hatten für
die Fraktion „Stehendes Totholz“ einen Wert von 21 Prozent am Totholzvorrat
insgesamt ergeben.
Obwohl die aktuelle, dritte BWI fast eine Verdoppelung des Totholzvorrates im
Zeitraum 2002 bis 2012 feststellt, blieb der Anteil des stehenden Totholzes mit ca.
23 Prozent nahezu unverändert auf niedrigem Niveau. Und dies, obwohl in ihrem
29
ökologischen Funktionswert vergleichsweise unbedeutende Totholztypen wie z.B.
stehendes Schwachholz und Wurzelstöcke ihren Anteil am Gesamtvorrat deutlich
steigerten. Es ist auch in diesem Zusammenhang nicht zu vergessen, dass der Anteil
der Baumartengruppe Nadelbäume auch beim ökologisch hochwertigsten
Totholzanteil bei ca. 70 Prozent liegt!
Abschließend ist nochmals festzuhalten, dass eine differenzierte Betrachtung der
erhobenen Totholzmenge aus Naturschutzsicht erhebliche Defizite offenbart.
2.1.6. Bäum e m it „ökologisch bedeutsam en Merkm alen“
Im Rahmen der BWI³ wurden erstmals Bäume mit ökologisch bedeutsamen Merkmalen
erfasst, also in erster Linie Horstbäume sowie Bäume mit Höhlen (Bruthöhlen),
Kronentotholz und „sonstigen Habitatmerkmalen“. Zu beachten ist: Manche Merkmale
können am gleichen Baum aufgenommen worden sein. Insgesamt wurden 93 Mio.
Biotopbäume (davon sind 60 Prozent Laubbäume) mit einem Gesamtvorrat von rund
101 Mio. m³ erfasst; im Mittel neun Stück je Hektar. Interessant ist die Zahl der
Biotopbäume, die als solche markiert wurden (siehe Tabelle 26). Sie umfassen
lediglich 0,013 Prozent des rechnerisch ermittelten Gesamtbaumbestands (ab BHD 7
cm) und 1 Prozent des ermittelten Biotopbaumbestands (auf die Gesamtholzbodenfläche bezogen: 0,09 Stück je ha!). Der Gesamtvorrat dieser markierten Bäume
umfasst 3,356 Mio. m³ (= rund 3 Prozent des Vorrats aller ermittelten Biotopbäume
und 0,09 Prozent des gesamten Holzvorrats im deutschen Wald!). Die Vorräte der
markierten Bäume konzentrieren sich naturgemäß hauptsächlich in den Baumaltersklassen ab 140 Jahre (rund 1,75 Mio. m³) und bei den Laubbäumen (2,72 Mio. m³).
Die durchschnittliche Holz-Masse eines markierten Biotopbaumes beträgt nach
Angaben des BMEL 3,4 m³ und liegt damit deutlich über den Werten für die anderen
ermittelten Biotopbaumbestände.
30
Tabelle 26:
Anteile naturschutzrelevanter Baumbestände am Gesamtbaumbestand
des deutschen Waldes
Baumbestände
(1) Gesamtbestand
(2) Gesamtbestand
>7 cm BHD
(3) Bestand, vermessen
(4) Biotopbaumbestand
gesamt
(5) Specht-/Höhlenbaumbestand
(6) Horstbaumbestand
(7) Biotopbäume, markiert
(8) Bäume, frisch abgestorben
(9) Überhälter (Altbäume)
Anzahl der Bäume
(in Mio.)
90.000
in Prozent von
(2)
-
7.600
0,42
0,005
93
1,2
22
0,741
1
31
0,29
0,0097
0,013
0,4
30
0,39
Quelle: Bundeswaldinventur; Daten gerundet
Abb. 6: Markierter Habitat-Baum
Grundsätzlich stellt sich die Frage nach der Aussagekraft dieser speziellen BWIErhebung. Die ermittelten (hochgerechneten) Biotopbaum-Anteile sind, gemessen an
den Vorräten und Baumzahlen, so gering, dass sie statistisch kaum ins Gewicht
fallen. Von relevanter Bedeutung sind allerdings die in Wirtschaftswäldern
gekennzeichneten Biotopbäume, da diese in der Regel einem kontrollierten Schutz
unterliegen (sollten). Der errechnete Bestand, der lediglich eine Million markierte
Bäume umfasst, dürfte demnach belegen, dass der „integrierte Naturschutz“ als
Modell im deutschen Wirtschaftswald weitgehend unwirksam ist, weil die Anzahl der
markierten Biotopbäume viel zu gering ist.
31
2.2. Nutzungsintensität und ökologische Nachhaltigkeit
Laut BWI³ lag der Zuwachs des Holzvorrats im deutschen Wald bei 121,602 Mio. m³
per anno, der so genannte „ausgeschiedene“ Bestand (genutzter Bestand mit
natürlichen Abgängen und Ernteverlusten) bei 106,341 Mio. m³ (Vorratsfestmaß mit
Rinde). Das sind 87 Prozent des Zuwachses. Der ausschließlich durch Nutzung
bedingte Abgang erreichte seit 2002 einen Vorrat von 95,925 Mio. m³ per anno,
nach Erntefestmaß ohne Rinde: 75,680 Mio. m³ (siehe Tabelle 27). Damit haben sich
die Jahres-Holzeinschläge seit der Inventurstudie 2008 nochmals erhöht (POLLEY,
HENNIG & SCHWITZGEBEL 2009). Im Landeswald (Staatswald der Bundesländer) lag
der Holzeinschlag mit 98 Prozent fast auf der Höhe des Zuwachses (BMEL 2014).
Gegenüber der Inventurstudie 2008 ist außerdem festzustellen, dass der Anteil der
„nicht verwerteten“ Holzmengen (Schwachholz, Schlagabraum etc.) stark
zurückgegangen ist (von 36 auf 10 Mio. m³ p.a.), was darauf schließen lässt, dass
auch diese Mengenanteile mittlerweile verstärkt z.B. zu Brennholzzwecken genutzt
werden. Durch diese erweiterte Nutzung werden zusätzlich bedeutende Mengen an
holzgebundenen Mineralstoffen dem Wald entzogen. Intensive, an der Nutzung des
Zuwachses orientierte Waldwirtschaft führt dabei letztlich (standortabhängig) zu
spürbaren Nährstoffverlusten, die sich langfristig auf die Widerstandsfähigkeit der
Baumbestände auswirken.
Tabelle 27a zeigt die Zuwachs- und Nutzungsraten in den einzelnen Bundesländern.
In den Ländern Bayern, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg lagen die
Vorräte der ausgeschiedenen Bestände fast an bzw. über der jährlichen HolzZuwachsmenge. In sechs Bundesländern lag der genutzte Vorrat (mit Rinde) bei
deutlich über 70 Prozent des Zuwachses.
Tabelle 27:
Zuwachs und ausgeschiedene Bestände (Mio. m³ p.a.) im Gesamtwald (alle
Baumarten)
Zuwachs
121,602
Vorrat des
ausgeschiedenen
Bestands - gesamt
Vorrat des
genutzten Bestands
(Vorratsfest-maß
mit Rinde)
106,341 (87 %)
95,925
Quelle: BWI³, gerundete Daten
32
Vorrat des
genutzten
Bestands
(Erntefest-maß
ohne Rinde)
75,680
Tabelle 27a:
Zuwachs und Vorräte der ausgeschiedenen Bestände (1.000 m³/a) in den
Bundesländern (alle Baumarten)
Bundesland
BadenWürttemberg
Bayern
Brandenburg +
Berlin
Hessen
MecklenburgVorpommern
Niedersachsen
NordrheinWestfalen
Rheinland-Pfalz
Saarland
Sachsen
SachsenAnhalt
SchleswigHolstein
Thüringen
Hamburg +
Bremen
Zuwachs
Ausgeschiedener
Bestand
Genutzter
Bestand
(Vorrat mit
Rinde)
14.685
Genutzter
Bestand
(Vorrat ohne
Rinde)
11.777
16.329
15.783 (97 %)
29.503
10.855
30.633 (104 %)
6.948 (64 %)
28.072
5.902
22.341
4.371
9.776
5.469
8.483 (87 %)
3.816 (70 %)
7.627
3.095
6.087
2.373
12.336
9.463
9.245 (75 %)
10.710 (113 %)
8.344
9.877
6.479
7.884
8.656
1.134
5.545
4.762
7.178 (83 %)
730 (64 %)
3.357 (61 %)
3.284 (69 %)
6.279
559
3.011
2.874
4.963
438
2.331
2.191
1.869
1.238 (66 %)
1.103
866
5.804
101
4.879 (84 %)
56 (55 %)
4.443
53
3.537
42
Quelle: BWI³, gerundete Prozentangaben
Insgesamt belegen die BWI³-Daten in der Tendenz eine weiter stark zunehmende
Nutzungsintensität, die den Spielraum für die biologischen Entwicklungspotenziale im
Wald immer stärker einschränkt und aus Naturschutzsicht als bedenklich einzustufen
ist. Der Grundsatz der Nachhaltigkeit im deutschen Wald darf sich nicht länger an
reinen Vorratsmengen orientieren, sondern muss auch die biologischen und
ökologischen Komponenten einbeziehen. Dazu bedarf es in Zukunft einer deutlich
extensiveren, in Teilen Nutzungsverzicht übenden Waldbewirtschaftung.
2.3. Nutzungseinschränkungen, besonders geschützte Biotope
Laut BWI³-Erhebung unterliegen rund 91 Prozent der deutschen Holzbodenfläche
keinerlei Nutzungseinschränkungen. Eingeschränkte Holznutzung findet lediglich auf
8,6 Prozent der Holzbodenfläche (= 939.563 ha) statt, davon ist die Nutzung auf
450.444 Hektar (4,1 Prozent) komplett unzulässig oder nicht zu erwarten (siehe
Grafik 9). Von offizieller Seite werden mittlerweile 5,6 Prozent als „ungenutzte“
Waldfläche angegeben (KROIHER & BOLTE 2015). Diese in Forstlobbykreisen gern
zitierte Zahl verfälscht jedoch den tatsächlichen Schutzstatus, da darin größere
Anteile von nicht rechtlich gesicherten Waldflächen sowie Grenzwirtschaftswälder
(Wälder auf ertragsschwachen Standorten im außerregelmäßigen Betrieb) enthalten
sind. Hinzugerechnet wurden außerdem die „nicht begehbaren“ (z. B. steilhängigen)
Holzbodenflächen (= 166.172 ha).
33
Anteile der Waldflächen mit und ohne Nutzungseinschränkungen (%) 4,5
4,1
Keine Einschränkung
Holznutzung eingeschränkt
Holznutzung nicht zulässig
91,4
Grafik 9
Die Waldflächen, die tatsächlich aus reinen Naturschutzgründen nicht mehr oder nur
eingeschränkt genutzt werden dürfen, umfassen gerade 359.334 Hektar (= 3,3
Prozent), davon ist die Holznutzung auf einer Fläche von lediglich 149.657 Hektar
nicht zugelassen oder nicht zu erwarten. Nach einer vom Bundesamt für Naturschutz
in Auftrag gegebenen Studie umfassen die nicht mehr genutzten, rechtlich
verbindlich gesicherten Waldflächen bundesweit 213.145 Hektar (= 1,9 Prozent).
Nach Erhebungen der BWI³ wurden zudem „Schutzflächen mit Eigenbindung“ (z.B.
Naturwälder) in der Größenordnung von rund 92.000 Hektar ermittelt, auf denen die
Holznutzung nicht zugelassen oder nicht zu erwarten ist. Selbst wenn man diese
Flächen großzügig zu den rechtlich dauerhaft gesicherten Naturwaldflächen
hinzuaddiert, bleibt der Gesamtanteil der nutzungsfreien Wälder weiterhin deutlich
unterhalb der 5 Prozent-Marke, die von der Nationalen Biodiversitätsstrategie
vorgegeben wurde.
Die BWI³ hat auch „besonders geschützte Biotope“ im deutschen Wald erfasst. Dabei
handelt es sich um gesetzlich definierte Lebensräume außerhalb von Schutzgebieten,
die nach dem Naturschutzgesetz (BNatSchG § 30) Pauschalschutz genießen.
Allerdings ist eine forstliche Bewirtschaftung dieser Flächen in der Regel zulässig.
Etwa 5 Prozent der Gesamtwaldfläche bzw. 592.662 Hektar sind laut BWI³ als Biotop
besonders geschützt, davon nimmt der Anteil der waldtypischen Biotope eine Fläche
von lediglich 392.886 Hektar (3,5 Prozent) ein. Mit einem Flächenanteil von
317.782 Hektar sind darin hauptsächlich Bruch-, Sumpf- und Auwälder vertreten.
Geschützte höhlenreiche Altholzinseln nehmen nur 797 Hektar ein.
34
Tabelle 28:
Geschützte Waldbiotope
Besonders geschützte Biotope - insgesamt
Bruch-, Sumpf- und Auwälder
Wälder trockenwarmer Standorte
Schluchtwälder
Block- und Hangschuttwälder
Regional seltene naturnahe Waldgesellschaften
Höhlenreiche Altholzinseln
Wälder mit historischer Nutzung
Kiefern-Eichen, Eichen-Buchen- und EichenHainbuchen-Wälder
Alle waldtypischen Biotope
592.663 ha
317.782 ha
27.982 ha
12.470 ha
22.920 ha
6.839 ha
797 ha
900 ha
3.169 ha
392.886 ha
Die Datenauswertung verdeutlicht, dass der deutsche Wald insgesamt unzureichend
geschützt ist. Der Anteil der ausgeschiedenen Flächen, auf denen eine ungestörte
natürliche Waldentwicklung stattfinden kann, ist nach wie vor so gering, dass eine
langfristige Sicherung der biologischen Vielfalt im Wald nicht gewährleistet ist.
3. Zusammenfassung und abschließende Bewertung der
vorliegenden Untersuchung
Maßstab für eine Einordnung und Bewertung der Ergebnisse der BWI³ kann nur die
Naturnähe von Wäldern, d.h. die „Ausformung des Naturwaldes und seine
Entwicklungspotenziale“ sein (siehe SCHERZINGER 1997). Auch von Seiten der
Forstwirtschaft wird Naturnähe als erklärtes Leitbild proklamiert. Insbesondere alte
Bäume und Totholz gelten als die wichtigsten Schlüssel-Elemente für Naturnähe und
damit auch für natürliche Biodiversität. Umfang und Verteilung dieser Elemente
entscheiden maßgeblich über den Grad der Naturnähe und „Reife“ von Wäldern. Im
Rahmen der vorliegenden BWI³-Auswertung wurden insbesondere folgende Merkmale
genauer untersucht:
- Baumartenanteile und Baumartenzusammensetzung
- Bestandsalter
- Bestandsstrukturen (Mischung, Schichtung, „dicke“ Bäume)
- Einflüsse durch Schalenwild
- Totholz
- Bäume mit ökologisch bedeutsamen Merkmalen.
Zusammenfassend lassen sich aus den BWI³-Daten folgende Befunde ableiten:
1. Der deutsche Wald ist im gegenwärtigen Zustand aufgrund seiner BaumartenVerteilung als weitgehend naturfern einzustufen. Auf ca. 90 Prozent der
Holzbodenfläche (= 11 Mio. ha) wachsen lediglich 11 Baumarten.
Die vier häufigsten Baumarten (Fichte, Kiefer, Buche, Eiche) bedecken noch 72
Prozent des Holzbodens. Der Anteil nicht standortheimischer Nadelhölzer umfasst
53,4 Prozent.
Wälder mit einem Bestandsalter von unter 60 Jahren (die immerhin 45 Prozent der
deutschen Waldfläche umfassen) weisen einen Nadelholzanteil von 58 Prozent und
einen Buchenanteil von lediglich 9 Prozent (!) auf. Wo von Natur aus Buchenwälder
wachsen würden, stehen heute zu mehr als 50 Prozent Nadelhölzer!
35
Die Veränderung des Naturnähegrades der Baumvegetation wird deutlich bei den
nutzungsbedingten Verschiebungen der natürlichen Flächenanteile einzelner
Baumarten: Die Buche hat um den Faktor 14 abgenommen, die Fichte hat um den
Faktor 25 zugenommen. Laut BWI³ liegt der Anteil der sehr naturnahen und
naturnahen Baumartenzusammensetzung bei 36 Prozent (bezogen auf die
Holzbodenfläche). Dieser Wert ist anzuzweifeln, da das Bundesamt für Naturschutz
im Rahmen des PNV-Projekts (SUCK et al. 2014) einen wesentlich geringeren Anteil
ermittelt hat (18,6 Prozent).
Zieht man als zusätzliches Naturnähe-Kriterium das Baumalter (>160 Jahre) heran,
dann schrumpft der Anteil der PNV-relevanten „naturnahen“ Laubwälder auf 2,5
Prozent (bei den Rotbuchenwäldern auf 1,3 Prozent). Zieht man als weiteres
Kriterium den menschlichen Einfluss als Messgröße heran, dann wären lediglich noch
0,44 Prozent der deutschen Waldfläche auf der Hemerobie-Skala als „naturnah“
einzustufen!
Die allein auf die Baumartenzusammensetzung reduzierte „Naturnähe“ sagt kaum
etwas über den tatsächlichen, ökologischen Gesamtzustand der Wälder aus und
schränkt eine objektive Bewertung erheblich ein, da die Naturnähe-Einstufung nach
der Baumartenzusammensetzung der heutigen Potenziellen Natürlichen Vegetation
(PNV) im Zuge der BWI³ modifiziert wurde. Bei der Zuordnung der entsprechenden
Haupt-, Neben- und Begleitbaumarten wurde beispielsweise nach REIF, WAGNER &
BIELING die Baumart Fichte in den Hochlagen von Eifel und Sauerland zu einem
natürlichen „Element der dort entwickelten Waldtypen“ erklärt. Im hessischen
Vogelsberg gilt die Kiefer nach BWI³-Auslegung als „natürliche“ Nebenbaumart der
kollinen bis submontanen Hainsimsen-Buchenwälder. Die Douglasie wird auf vielen
Standorten (u.a. in Baden-Württemberg, Hessen, Thüringen) als „eingebürgert“ und
damit dem heutigen „Standortwald“ als zugehörig betrachtet (siehe REIF, WAGNER &
BIELING 2005). Hier wird mit dem Naturnähe-Begriff eindeutig Etikettenschwindel
betrieben. Die in der BWI³ vorgenommenen Einstufungen der Naturnähegrade sind
daher fragwürdig und entziehen sich einer genauen fachkritischen Überprüfung.
2. Der deutsche Wald ist in weiten Teilen immer noch ein junger, unreifer Wald. Der
Anteil aller über 160-jährigen Baumbestände beträgt lediglich 3,2 Prozent, der Anteil
aller über 160 Jahre alten Laubwälder 2,4 Prozent und der Anteil der Buchenbestände dieser Altersklasse nur 1,3 Prozent. Das fast vollständige Fehlen alter,
fortgeschrittener (reifer, vorratsreicher) Waldentwicklungsphasen ist aus
Naturschutzsicht als dramatisch zu bezeichnen.
3. „Dicke“ (stark dimensionierte) Bäume mit Brusthöhendurchmessern von mehr als
70 cm machen nur 0,3 Prozent des Gesamtbaumbestands aus. Im Schnitt wächst im
deutschen Wald pro Hektar nur ein Baum, der einen solchen Brusthöhendurchmesser
aufweist. Der Anteil des Vorrats der dicken Bäume mit BHD >70 cm liegt über alle
Altersklassen hinweg bei weniger als 5 Prozent und die Stammzahl der über 50 cm
dicken Bäume nimmt lediglich rund 3 Prozent ein.
Naturnahe vertikale („plenterartige“) Strukturen weisen lediglich 11 Prozent der
Waldbestände in Deutschland auf.
4. Interessant ist die Feststellung, dass markierte Biotopbäume lediglich 0,013
Prozent des rechnerisch ermittelten Gesamtbaumbestands (ab 7 cm BHD) umfassen.
Bezogen auf die Gesamt-Holzbodenfläche sind das 0,09 Stück pro Hektar. Der
Bestand markierter Biotopbäume, der in der Regel einem kontrollierten Schutz
unterliegen sollte, fällt statistisch kaum ins Gewicht. Dies lässt den Schluss zu, dass
das Modell eines „integrierten Naturschutzes“ im Wirtschaftswald weitgehend
wirkungslos ist.
36
5. Die Befunde zum Einfluss der Schalenwildarten sind aus waldbaulicher Sicht sehr
bedenklich, vor allem im Hinblick auf den auch aus Naturschutzsicht geforderten
Waldumbau. Besonders hoch liegen die Verbiss-Anteile bei den Baumarten Buche (17
Prozent), Eiche (45 Prozent), bei Laubbäumen hoher Lebensdauer (43 Prozent), bei
Laubbäumen niedriger Lebensdauer (38 Prozent) sowie bei der Weißtanne (27
Prozent).
6. Nach gründlicher Analyse der Ergebnisdatenbank der BWI³ zum Totholzvorrat im
deutschen Wald erscheint der O-Ton des aktuell zuständigen Bundesministers
Schmidt („…Die Wälder sind vielfältiger und naturnäher strukturiert. Wir finden mehr
Totholz …“) geradezu als Umkehrung der tatsächlich im Wald herrschenden
Zustände. Die „starke“ Gesamt-Zunahme des Totholzvorrates im Bezugszeitraum
wird dort generalisierend als eine der wichtigsten positiven Entwicklungstrends
hinsichtlich der Naturnähe und ökologischen Funktionsfähigkeit des Waldes
herausgestellt.
Die vorgenommene Summierung aller irgendwie greifbaren Totholzerscheinungen zu
einem „stark angestiegenen“ Gesamt-Totholzvorrat von 20,6 m³/ha ist lediglich ein
Rechentrick und verzichtet auf jegliche Differenzierung der unterschiedlichen
Totholzfraktionen nach ökologischer Bedeutsamkeit.
Die genauere Analyse der BWI³-Ergebnisse zum Totholzvorrat in unseren Wäldern
ergibt zusammenfassend ein alarmierendes Gesamtbild, welches sich u.a. aus
folgenden Einzelaspekten zusammensetzt.
•
Totholz aus Nadelbäumen ist ökologisch weniger bedeutsam als LaubbaumTotholz. Der Anteil der Baumartengruppe Nadelbäume am Totholzvorrat von
20,6 m³/ha beträgt laut BWI³ aber immerhin ca. 65 Prozent, also etwa zwei
Drittel! Etwa ein Drittel (35 Prozent) verbleibt für ökologisch bedeutsameres
Totholz aus Laubbäumen.
•
Die ökologisch bedeutsamen Durchmesserklassen über 40 cm haben einen
Anteil von nur ca. 30 Prozent an der Gesamt-Totholzmenge. Allerdings liegt
dabei der Nadelholzanteil mit rund 66 Prozent ziemlich exakt doppelt so hoch
wie der Anteil der beiden Laub-Baumartengruppen (Laubbäume ohne Eiche
und Eiche) zusammen.
•
Der Anteil von Wurzelstöcken und Abfuhrresten beträgt mit 5,9 m³/ha weit
über ein Viertel des gesamten Totholzvorrates!
•
Der Totholz-Vorrat im stehenden Totholz hat sich im Erfassungszeitraum
2002 bis 2012 in den stärkeren Durchmesserklassen von 20 bis 59 cm
erheblich reduziert, wenn man die absoluten Totholzmengen betrachtet.
Ähnliches gilt für die Segmente ab Durchmesser 60 cm. Dabei ist der Rückgang beim Laubholz im Vergleich zum Nadelholz sehr alarmierend, auch weil
der Laubholzanteil am Gesamt-Totholz ohnehin nur etwa ein Drittel beträgt.
•
Der Totholz-Vorrat im liegenden Totholz hat bei den stärkeren
Durchmesserklassen ab 20 cm aller Baumartengruppen seit 2002 ebenfalls
signifikant um 2,684 Mill. m³ abgenommen.
Ein großer Teil des Totholzzuwachses seit BWI² ergibt sich durch geänderte
Erhebungskriterien sowie durch das Hereinrechnen der gigantischen Mengen an
Nadelbaum-Windwurfholz, vornehmlich aus Baden-Württemberg, Bayern, Hessen,
Nordrhein-Westfalen und Thüringen. Diese Windwurf-induzierte „Steigerung“ des
37
Totholzvorrates beschränkt sich auch hier im Wesentlichen auf ökologisch weniger
bedeutsame Totholztypen wie Schlagabraum, Bruchholz und Baumstümpfe. Diese
geschönte Berechnungsweise führt zu einem deutlichen Anstieg des Totholzvorrates
für den Gesamt-Wald.
Fazit:
Die Zahlen der BWI³ belegen, dass der ermittelte durchschnittliche Totholzvorrat der
Wälder Deutschlands in Höhe von 20,6 m³/ha nur zu einem geringfügigen Anteil
wertvolle Habitat-Funktionen übernehmen kann. Der tatsächliche, ökologisch
wertvolle Anteil des Totholzvorrates (Laubbaum-Totholz ab 60 cm Durchmesser)
dürfte sich, bezogen auf die relevanten Zielartengruppen (Pilze, Totholzbewohner),
im Bereich von ca. einem m³ je Hektar bewegen und hat in den letzten zehn Jahren
abgenommen.
Im Vergleich zu Urwäldern sowie zu den wissenschaftlich empfohlenen Richtwerten
ist der nach BWI³ erreichte, unter Einbeziehung aller Kategorien berechnete
Gesamt-Totholzvorrat bzw. der Gesamtvorrat an ökologisch bedeutsamen Totholztypen als deutlich zu gering anzusehen. Die Zahlen zeigen, dass der Totholzvorrat
im Niveau astronomisch weit hinter den Werten der „Naturwälder“ (dort im Schnitt
60 – 130 m³/ ha mit Spitzenwerten von 200 m³/ha) und auch hinter den für
Wirtschaftswälder empfohlenen Richtwerten (>40 m³/ha) zurückbleibt.
Der gemessen am Natur-Vorbild niedrige Totholzvorrat im deutschen
Wirtschaftswald, die zu geringen Anteile alter Bäume (alter Waldentwicklungsphasen)
und die noch immer hohen Anteile nicht standort- und naturraumheimischer
Baumarten sind sowohl quantitativ wie auch qualitativ nicht geeignet, die
Lebensraumfunktionen von Wäldern dauerhaft zu erfüllen.
Durch die planmäßige, kurz- bis mittelfristige Entnahme fast aller Altbäume in den
Buchenbestände (über 140 Jahre) werden momentan bundesweit die letzten Reste
der ökologisch so bedeutsamen Reifephasen auf kleine Verinselungsbereiche
zurückgedrängt. Totholzkonstanz und Biotop-Tradition sind dort nicht mehr
gewährleistet.
Daraus folgt zwingend, dass sich das Ziel „Erhaltung der Biodiversität“ im klassisch
nach Forsteinrichtung bewirtschafteten Wald, der mehr als 90 Prozent der deutschen
Waldfläche einnehmen dürfte, mit den derzeitigen Bewirtschaftungsmethoden und
-intensitäten nicht vereinbaren lässt. Die Analyse der Daten hat dies für die
wichtigsten Strukturelemente naturnaher Wälder klar belegt.
Das auch von Forst-Strategen neuerdings gebetsmühlenartig wiederholte, ehrgeizige
Ziel der „Erhaltung der biologischen Vielfalt“ wurde nach derzeitiger Datenlage nicht
erreicht.
Der „integrative“ Naturschutz-Ansatz im Wald bleibt in seiner derzeitigen Form
offensichtlich wirkungslos! Der deutsche Wald ist insgesamt zudem nur unzureichend
geschützt. Die Zurückdrängung von Naturschutzfunktionen auf einige minimale, für
einen ökologischen Waldbiotop-Verbund vollkommen unzureichende ProzessschutzFlächen kann diesen, in der übrigen Gesamtwaldfläche ablaufenden ökologischen
Entwertungsprozess nicht annähernd kompensieren.
Daraus folgt: Die teilweise erschreckenden Ergebnisse der Waldinventur insbesondere
bezüglich des Faktors „Totholz“ erfordern rasches Umdenken und ein tiefgreifendes
Hinterfragen der bisherigen und geplanten Wirtschaftsweise sowie einen
grundlegenden Richtungswechsel in der deutschen Forstpolitik.
38
4. Ergebnisse einer wissenschaftlichen Analyse des
Bundesamtes für Naturschutz
Vom Bundesamt für Naturschutz wurde 2015 eine Studie beauftragt und
veröffentlicht (siehe HENNENBERG et al. 2015), die ebenfalls eine Analyse der BWI³Daten aus naturschutzfachlicher Sicht beinhaltet. Die Studie kommt im Grundtenor
zu ähnlichen Ergebnissen wie die vorliegende Untersuchung, gibt sich in den
Bewertungen allerdings betont zurückhaltend.
Die Auswertung der rund 6.000 Merkmalskombinationen der BWI³-Ergebnisdatenbank
erfolgte anhand von 13 naturschutzfachlich bedeutsamen Wald-Artengruppen (z. B.
Fledermäuse, Vögel, xylobionte Käfer, Waldpilze). Für die Analyse wurden dann die
Merkmalskombinationen ausgewählt, die für mindestens 5 Wald-Artengruppen von
hoher Bedeutung sind (in der Summe 25 übergreifende Merkmalskombinationen).
Im Ergebnis wird allgemein festgestellt (wörtliche Zitate kursiv):
• Der hohe Anteil an Waldflächen, die nicht der Potenziellen Natürlichen
Vegetation entsprechen, sowie der zunehmende Anteil der Douglasie bzw. die
massive Zunahme dieser Baumart (124 Prozent) in der Jungbestockung!
• Die Dominanz der Baumaltersklassen unter 100 Jahre sowie ein Schwerpunkt
des Holzvorrats in sehr jungen Hauptbeständen mit Brusthöhendurchmessern
unter 40 cm (mit Mangel an Mikrostrukturmerkmalen).
• Eine Zunahme bei den Holzvorräten der Laubbäume (um 14 Prozent).
• Eine „positive“ Entwicklung in Richtung „Zwei-Schichtigkeit“ der Bestände.
Anzumerken wäre hier, dass diese „Zwei-Schichtigkeit“ in WirtschaftswaldReinbeständen in der Regel nur temporärer Natur ist (Stichwort:
Verjüngungsphasen in Buchenbeständen).
• Eine Zunahme des Totholzvorrats um 23,5 Mio. m³, davon um 17,6 Mio. m³
allein bei den Nadelbäumen sowie um 5,8 Mio. m³ bei den Laubbäumen (ohne
Eiche), letzteres wird als „positiv“ bewertet. Die Totholz-Zunahme wird
allgemein „begrüßt“; sie „basiert aber nicht auf höheren Totholzanteilen stark
dimensionierter Laubbäume, sondern geht vor allem auf Nadelholz geringerer
Durchmesserklassen zurück.“ Das „Gesamtniveau“ sei noch „niedrig“. Die
Situation beim Eichen-Totholz wird als „bedenklich“ eingestuft.
• Eine „kritische“ Totholz-Abnahme bei Durchmesserklassen ab 80 cm. „Der
weitaus größte Anteil des Totholzes wird in dieser Kategorie durch
Wurzelstöcke gebildet, die hier stellvertretend für eine starke Nutzung des
stark dimensionierten Altholzes interpretiert werden können.“
Von aktueller naturschutzpolitischer Brisanz sind Aussagen zu Nutzungseinschränkungen in Verbindung mit der Kulisse der FFH-Gebiete, die Wälder beherbergen. Zitat:
„Grob gerechnet liegen 1,8 Mio. ha Wald in FFH-Gebieten“ - Anmerkung: Nach
LEHRKE et al. 2013 sind es lediglich 0,817 Mio. ha! „Lediglich 0,36 Mio. ha der
Waldfläche weisen eine Nutzungseinschränkung durch den Naturschutz auf.“ Dies
bedeutet, dass „die Implementierung der FFH-Richtlinie im Wald bisher zu keinen
nennenswerten Nutzungseinschränkungen geführt hat.“
Insgesamt wird in der Studie kritisiert, dass die Effekte von Schutzmaßnahmen (in
Schutzgebieten) nicht verifiziert werden können, da z. B. Daten zu den Totholzvorräten sowie andere Merkmale nach Flächen ohne Holznutzung nicht abrufbar sind.
39
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Alle Fotos und Grafiken:
N. Panek
Kontaktanschrift:
Dipl.-Ing (Landespflege) Norbert Panek
An der Steinfurt 13
34497 Korbach
[email protected]
www.wald-kaputt.de
Im April 2015
(überarbeitet und ergänzt im Mai 2016)
41