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„Islam in Deutschland“
SWRinfo – Freitag, 1. Juli 2016
Von Hakan Turan
Wie interpretieren Muslime den Koran?
Lesen gläubige Muslime den Koran? Ja, was sollten sie denn sonst
lesen! Und buchstabengetreu befolgen wollen sie ihn! Denn schließlich
ist er für die Muslime das unverfälschte Wort Gottes - so oder so ähnlich
klingt eine ganze Reihe an Mutmaßungen über den muslimischen
Umgang mit dem Koran.
Da muss es als Skandal anmuten, dass weder die Koranlektüre, noch
eine intensive Auslegungsarbeit zur religiösen Praxis der meisten
Muslime gehört. Vielmehr folgt diese Praxis einer sozial vermittelten
Weitergabe bewährter Inhalte in einem historisch gewachsenen
religiösen Umfeld. Und selbst das Ziel der meisten Koranschulen besteht
nicht etwa in einem Koranverstehen, sondern in der kunstvollen und
wohltuenden Rezitation des arabischen Originals des Korans.
Das verbreitete Klischee vom verstehenden Koranleser erscheint mir wie
die Projektion einer lutherisch geprägten Begeisterung für die direkte
Bibellektüre in den muslimischen Kontext hinein. Für Außenstehende ist
das manchmal attraktiv: So kann man jegliche Beobachtung bei
Muslimen quasi auf Koranverse zurückführen und muss sich nicht mehr
mit der individuell sehr verschiedenen Lebenswirklichkeit der Muslime
befassen.
Wer so argumentiert, hat nicht nur ein sehr einfaches Bild von
Koranauslegung, sondern denkt wohl auch am realen Muslim vorbei.
Denn Textkenntnisse ersetzen nie den mühsamen Prozess des
Verstehens eines lebendigen menschlichen Gegenübers
Aber gut, ich gebe zu: So folgenlos ist Koranauslegung natürlich auch
wieder nicht. Denn mit ihr kann man versuchen, Missstände ebenso zu
legitimieren wie zu hinterfragen und so neue Perspektiven zu
ermöglichen.
Da ist es erfrischend zu wissen, dass es muslimische Gelehrte nie als
Widerspruch sahen, den Koran als Wort Gottes zu ehren, aber ihn
zugleich einer vielfältigen Auslegung zu unterziehen. Für sie war die
Situation klar: Es gibt bei jedem noch so eindeutig wirkenden Koranvers
relativierende textliche Zusammenhänge, spezielle historische
Hintergründe sowie erstaunliche Vieldeutigkeiten.
Dies und mehr führte über viele Jahrhunderte zu einer großen Zahl sehr
umfangreicher und unterschiedlicher Werke zum Koran. In der Moderne
kamen Zugänge hinzu, die das historisch-kulturelle Umfeld des Korans
noch stärker betonen. Auch sie hinterfragen den Offenbarungscharakter
des Korans in der Regel nicht, sondern versuchen ihn aus seinem
historischen Kontext heraus zu verstehen.
Leider ging in der Moderne der Blick auf die Vielfalt und Originalität der
islamischen Tradition von Textauslegung verloren. Dabei hat diese viele
tiefschürfende Gedanken hervorgebracht, die die Muslime der
Gegenwart erst noch registrieren und aufarbeiten müssen um sie zu
anspruchsvollen
zeitgenössischen
islamischen
Theologien
weiterentwickeln zu können.