1 Freitag, 01.07.2016 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Doris Blaich Großartig SERPENT & FIRE ANNA PROHASKA IL GIARDINO ARMONICO GIOVANNI ANTONINI ALPHA CLASSICS 250 Natürliche, wilde Musikalität MAGMA DUO Poulenc, Namavar, Vermeulen, Copland, Igudesman Works for Violin and Piano GLOBE RECORDS GLO 5263 Hervorragende Interpreten Georg Muffat MISSA IN LABORE REQUIES Bertali • Schmelzer • Biber CHURCH SONATAS Cappella Murensis Les Cornets Noirs audite 97.539 Feine klangliche Nuancen MOZART QUATUOR VAN KUIJK ALPHA CLASSICS 246 Mit allen musikalischen Wassern gewaschen ROYAL CONCERTGEBOW ORCHESTRA PROKOFIEV > SYMPHONY NO. 5 MARISS JANSONS, CHIEF CONDUCTOR RCO Live 16002 Intensiv musiziert, aber nicht restlos überzeugend BEETHOVEN MISSA SOLEMNIS HARNONCOURT ARNOLD SCHOENBERG CHOR CONCENTUS MUSICUS WIEN SONY CLASSICAL 88985313592 Signet „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ … am Mikrofon ist Doris Blaich – und im CDPlayer wartet schon das Magma Duo: Aaron Copland: „Ukulele Serenade“ 0:30 Magma Duo – vielleicht ein etwas reißerischer Name, aber wenn Emmy Storms und Cynthia Liem so richtig loslegen, dann brodelt tatsächlich ein musikalischer Vulkan. Die beiden jungen Musikerinnen aus Holland haben gerade ihre erste CD rausgebracht, daraus später mehr. 2 Außerdem heute in der Sendung: die letzte Aufnahme von Nikolaus Harnoncourt: Beethovens „Missa solemnis“; die fünfte Sinfonie von Prokofjew mit dem Concertgebouw Orchester und Mariss Jansons, Streichquartette von Mozart mit dem Quatuor van Kuijk, eine 24-stimmige Messe von Georg Muffat. Und – jetzt zu Beginn – die neue CD der Sopranistin Anna Prohaska. Titel: „Serpent & Fire“ (Schlange und Feuer); ein Themen-Album mit barocken Opernarien. Es geht um die Psyche zweier Königinnen: Dido, Königin von Karthago, und Cleopatra, Königin von Ägypten. Beides starke, machtvolle Herrscherinnen, aber im Herzen sind sie so verletzlich wie alle anderen Menschen auch. Sie lieben die falschen Männer, durchleiden höllische Qualen und töten sich schließlich selbst. Cleopatra mit Schlangengift, Dido stürzt sich in die Flammen. Die Momente vor dem Tod, der Hader mit dem Leben, die Wut und Verzweiflung und die ungeheure Diskrepanz zwischen gesellschaftlicher Macht und emotionaler Ohnmacht, das hat viele Komponisten an diesen Frauenfiguren interessiert – zum Beispiel Christoph Graupner in seiner Oper „Dido, Königin von Karthago“. Seine Dido fühlt sich wie ein Schiff auf stürmischer See. Christoph Graupner: „Dido, Königin von Karthago“, „Agitato da tempeste“ 2:30 Ein Seesturm im Herzen: die Arie „Agitato da tempeste“ aus der Oper „Dido, Königin von Karthago“ von Christoph Graupner. Anna Prohaska war die Sopranistin. Großartig, mit welcher Intensität und gleichzeitig Mühelosigkeit sie das Koloraturengewitter dieser Arie abfackelt. Solche Ketten von Koloraturen sind in der Oper der Barockzeit immer ein Ausdruck von Stärke – schließlich steht hier eine mächtige Königin auf der Bühne. Aber ihre Liebe zu Aeneas und ihr Verlassensein machen Dido verletzlich; und die Verletzlichkeit übersetzt Anna Prohaska in Musik, indem sie eben nicht schnurgerade im Takt singt, sondern gezielt winzige Temposchwankungen einbaut, immer mal wieder ein kleines bisschen verzögert und dann aber auf den nächsten Schlag wieder perfekt pünktlich ist. Und dann die Verzierungen: Für die Da-Capo-Arie in dieser Zeit sind sie essentiell; wenn der Anfangsteil am Schluss noch einmal auftaucht, muss sich der Sänger was einfallen lassen, wie er die geschriebenen Noten mit eigenen Ideen ausziert. Das ist für Anna Prohaska kein Problem, weil sie sich ohnehin so frei in der Musik bewegt und sich so kompromisslos in den musikalischen Affekt reinwirft. Bei ihr hört man nicht nur schöne Töne, sondern wirklich Menschen aus Fleisch und Blut mit all ihren schillernden Seelenregungen: den verletzten Stolz und die Verzweiflung von Königin Dido und jetzt in der nächsten Arie das unterdrückte Schluchzen von Königin Cleopatra aus Georg Friedrich Händels Oper „Giulio Cesare“. „Se pietà di me non senti“ – Wenn Du für mich kein Mitleid empfindest, gerechter Himmel, dann werde ich sterben. Wieder singt Anna Prohaska, und mit derselben musikalischen Kraft begleitet Il Giardino Armonico unter Leitung von Giovanni Antonini. Georg Friedrich Händel: „Giulio Cesare“, „Se pietà di me non senti“ 7:20 Die Verzweiflungsarie der Cleopatra aus Händels Oper „Giulio Cesare“, gesungen von Anna Prohaska. Giovanni Antonini dirigierte „Il Giardino Armonico“. Ich erinnere mich noch gut an die ersten Vivaldi-CDs dieses Ensembles aus den frühen 90er Jahren; damals hat es gespielt wie eine barocke Rockband, mit starken Beats, mit Drive, Feuer und rasanten Tempi; ohne jede Rücksicht auf Klangschönheit – und manchmal war der Klang dann doch sehr ruppig. Inzwischen spielt das Orchester viel, viel differenzierter und gestaltet wirklich auch die Nuancen und die leisen Stellen, ohne gleich einen Effekt daraus zu machen. Die Energie bleibt trotzdem; ich finde, eine super Kombination, gerade auch für diese CD. Denn ihr besonderer Reiz liegt ja in den komplexen Seelenregungen dieser beiden Königinnen: Dido und Cleopatra. Anna Prohaska ist dazu auch auf den verborgenen Seitenpfaden der Musikgeschichte gewandelt und hat eine Fülle von starken Stücken versammelt, die heute 3 praktisch unbekannt sind: Komponistennamen wie Antonio Sartorio oder Daniele da Castrovillari sind dabei oder – schon wesentlich bekannter – Johann Adolf Hasse, Francesco Cavalli und Henry Purcell, dessen sterbende Dido gehört ja zu den berührendsten Opernszenen überhaupt. Anna Prohaska liebt solche Themenalben, die junge Sängerin hat schon mehrere CDs mit klugen, eigen-sinnigen Programmen veröffentlicht, dies ist ihre vierte Solo-CD. Man merkt einfach, dass in ihren Adern Theaterblut fließt, und dass sie auf den großen Opernbühnen der Welt zu Hause ist: an der Mailänder Scala, in Salzburg (dieses Jahr singt sie die Susanna in Mozarts Figaro), in Wien, Aix und Paris, an Covent Garden in London und seit einigen Jahren als festes Ensemblemitglied an der Berliner Staatsoper, dort ist sie der Publikumsliebling und begeistert mit ihrer Bühnenpräsenz und mit ihrer klaren, wendigen, nuancenreichen Stimme. Hören wir noch eine letzte Kostprobe aus Anna Prohaskas neuer CD – sie stammt aus der Oper „La Cleopatra“ von Daniele da Castrovillari, komponiert 1662: Cleopatra beschließt, sich aus dem Leben zu verabschieden, und setzt sich eine Giftschlange an die Brust. Daniele da Castrovillari: „La Cleopatra“ aus „Dio regni, a Dio scettri“ 6:10 So schön kann ein Schlangenbiss klingen: die Abschiedsszene von Königin Cleopatra aus einer Oper von Daniele da Castrovillari, gesungen von Anna Prohaska, begleitet von Il Giardino Armonico und geleitet von Giovanni Antonini. „Serpent & Fire“ heißt diese großartige CD mit barocken Arien für zwei tragische Opernheldinnen: die antiken Königinnen Dido und Cleopatra. Zwischen den Arien sind einige Instrumentalstücke eingebaut, als eine Art wortloser Kommentar. Die CD ist beim Label ALPHA erschienen und gehört zu den besten, die ich in den letzten Monaten gehört habe. Magma – so heißt die Masse aus Gesteinsschmelze, die im Erdmantel und der Erdkruste vorkommt. Magma ist flüssig und sehr heiß: zwischen 700 und 1200 Grad Celsius. Diese brodelnde Steinmasse hat den Komponisten Reza Namavar zu einem Musikstück inspiriert mit dem Titel: „In der Magmakammer“. Der holländische Oskar Back-Wettbewerb für junge Geiger hat dieses Stück in Auftrag gegeben, und es war 2011 eines der Pflichtstücke für die Wettbewerbsteilnehmer. Die junge Geigerin Emmy Storms und die Pianistin Cynthia Liem haben vor fünf Jahren an diesem Wettbewerb teilgenommen, und sie spielten die Magmakammer mit solcher Überzeugungskraft, dass sie einen Sonderpreis für die beste Interpretation bekamen. Das hat die beiden dazu beflügelt, sich „Magma Duo“ zu nennen. Wir hören kurz rein: Reza Namavar: „In der Magmakammer“ (Ausschnitt) 1:30 Emmy Storms und Cynthia Liem mit einem Ausschnitt aus der Magmakammer von Reza Namavar, dieses Stück hat die beiden zu ihrem Ensemblenamen inspiriert: Magma Duo. Die natürliche, wilde Musikalität der beiden hat ihnen vor kurzem einen wichtigen Förderpreis eingebracht: den Dutch Classical Talent Award für junge Musiker, mit dem eine große Konzerttournee durch die Niederlande verbunden ist, außerdem diverse Radiomitschnitte vom Holländischen Rundfunk. Gerade haben die beiden ihre erste CD herausgebracht. Da ist natürlich die Magmakammer drauf (gerade haben wir reingehört), außerdem Violinsonaten von Francis Poulenc, Matthijs Vermeulen, Aleksey Igudesmann und zwei Stücke von Aaron Copland: daraus jetzt die „Ukulele Serenade“. Aaron Copland: „Ukulele Serenade“ 4:30 4 Die „Ukulele Serenade“ von Aaron Copland, gespielt vom Magma Duo: das sind die beiden jungen Holländerinnen Emmy Storms und Cynthia Liem – Emmy, die Geigerin, interessiert sich praktisch für alles, was klingt: Klezmer und Irish Fiddle, Tango und Volksmusik. Cynthia, die Pianistin, macht neben dem Klavierspiel gerade noch ihren Doktor in Informatik. Beide sind Ende 20 und überzeugen mich auf dieser CD sehr mit ihrem kraftvollen und erfrischend lebendigen Spiel. Das Technische stimmt erfreulicherweise auch. Die CD ist beim holländischen Label GLOBE RECORDS erschienen. „SWR2 Treffpunkt Klassik mit neuen CDs“, und die nächste bringt uns ins Schweizerische Aargau, nach Muri. Dort ist ein großes Benediktinerkloster, dessen Ursprünge über 1000 Jahre alt sind. Heute leben dort keine Mönche mehr, das Kloster wird als kulturelles Zentrum genutzt. Sein Herzstück ist eine achteckige Kirche, in der Barockzeit wurde sie innen reich verziert mit Deckengemälden, prunkvollen, goldumrandeten Seitenaltären, viel Stuck und allem, was man sich an Prachtentfaltung so vorstellen kann. Vier Musikeremporen hat diese Kirche, in jeder Himmelsrichtung eine. Und – das ist wirklich außergewöhnlich – auf jeder Empore steht eine wunderbare historische Orgel. Die Kirche ist also prädestiniert als Konzertkirche, gerade mehrchörige Kompositionen der Barockzeit klingen hier überwältigend. Der Kantor von Muri, Johannes Strobl, hat schon mehrere CDs in diesem großartigen Raum aufgenommen. Gerade ist eine 24-stimmige Messe von Georg Muffat herausgekommen, die „Missa in labore requies“. Hören wir als erste Kostprobe daraus das Kyrie, musiziert von der Cappella Murensis und dem Instrumentalensemble Les Cornets Noirs. Georg Muffat: „Missa in labore requies“, Kyrie 5:55 Das Kyrie aus der 24-stimmigen Messe „In labore requies“ von Georg Muffat. Eine Aufnahme aus der Kirche des Klosters Muri in der Schweiz. Die Bläser stehen in zwei Gruppen verteilt auf den vorderen Emporen: rechts die Zinken und Posaunen, links Trompeten und Pauken. Und auf den hinteren Emporen stehen die Sängerinnen und Sänger, jeweils mit einer eigenen Continuo-Orgel. Unten im Kirchenraum sitzen die Streicher, und ziemlich in der Mitte der Kirche, für alle gut sichtbar, hält der Dirigent Johannes Strobel das Ganze zusammen und steuert mit großen Bewegungen den musikalischen Puls. Für die Musiker ist das eine große Herausforderung, trotz der großen räumlichen Distanz präzise zusammenzuspielen. Manches ist hier nicht ganz akkurat, aber der große Bogen stimmt und die klangliche Wirkung dieses Raums ist überwältigend – ich finde, schon im Stereo-Klang. Wenn Sie eine Surround-Anlage haben, dann steigert das noch das Hörvergnügen, denn dann strömt einem aus allen Himmelsrichtungen die Musik entgegen und man kann in der großartigen Akustik dieser Kirche schwelgen. Und mancher lange Nachhall, der in der Stereo-Fassung vielleicht ein bisschen nebelig wirkt, ist im Raumklang der Surround-Version umso schöner. Die Surround-Fassung ist nicht auf der CD, sie gibt’s zum Herunterladen auf der Homepage des Labels audite (kostet natürlich was: 19,99 €). Muffat ist sozusagen ein gesamteuropäischer Musiker: Er hat bei Lully in Paris studiert und später in Rom, wo er unter anderem dem großen Arcangelo Corelli begegnet ist. In seiner eigenen Musik hat er beides zusammengebracht: Strenge und Noblesse der französischen Musik, Dramatik und das Gespür für weitschwingende Melodien aus der italienischen Musik. Seit 1678 war Muffat Organist des Erzbischofs von Salzburg, später dann Kapellmeister des Bischofs von Passau. Wann und wofür er diese prachtvolle Messe geschrieben hat, lässt sich nicht genau sagen. Die mehrchörige musikalische Architektur passt perfekt in die Architektur des Salzburger Doms. Das lateinische Motto der Messe allerdings deutet eher auf Passau, und zwar auf eine Bischofsweihe am Pfingstsonntag. Es stammt nämlich aus einer Sequenz, die in der Liturgie zu Pfingsten gesungen wird: „In labore requies“: In der 5 Mühe bist du Ruhe, In der Hitze Mäßigung, Im Weinen Trost. Die Noten sind in einer Handschrift in Budapest überliefert, sie waren einmal im Besitz von Joseph Haydn. Die Messe ist übrigens das einzige Vokalwerk von Muffat, das heute noch erhalten ist. Hören wir noch rein in das Credo dieser Messe, das Glaubensbekenntnis: Es geht in diesen Abschnitten um die Menschwerdung Christi, um die Kreuzigung, die Auferstehung, Himmelfahrt und Wiederkunft. Auch in der Kreuzigungsszene verwendet Muffat Pauken und Trompeten, die typischen Herrscherinstrumente. Jetzt allerdings nicht mit ihrem strahlenden Klang, sondern gedämpft, als Zeichen der Trauer – zum ersten Mal beim Text „Passus et sepultus est“ (gestorben und begraben): Die drei Trompeten sind gestopft, das Fell der Pauken wird zugedeckt, so entsteht ein dumpfer, spröder Klang. Ein großartiger Effekt. Die Zuhörer damals kannten die Symbolkraft dieser Klänge: Sie kamen immer dann zum Einsatz, wenn ein Fürst zu Grabe getragen wurde. Hier in der Messe tauchen sie mehrmals auf, wenn von den Toten gesprochen wird. Georg Muffat: „Missa in labore requies“, Credo (Ausschnitt) 8:50 Ein Ausschnitt aus dem Credo der Messe „In labore requies“ von Georg Muffat. Johannes Strobl leitete die Cappella Murensis, das Trompetenconsort Innsbruck und das Ensemble Les Cornets Noirs. 50 Musikerinnen und Musiker sind hier beteiligt – Geld spielte im 17. Jahrhundert keine Rolle, wenn ein Herrscher mit Musik seine geistliche oder weltliche Macht demonstrieren wollte. Entsprechend teuer muss auch diese Aufnahme gewesen sein. Die Interpreten sind allesamt großartig, die Namensliste ist beeindruckend: die Geigerin Amandine Beyer ist dabei, Michael Beringer ist einer von fünf Organisten, Andreas Lackner spielt Trompete, und so geht es gerade weiter. Auch die Sängerinnen und Sänger sind hier wirklich hervorragend, und zwar sowohl die Tutti-Sänger als auch die Soli. Die Stimmen sind durchaus unterschiedlich, aber das macht die mehrchörigen Echo-Effekte nur umso interessanter. Herausragend unter den vielen guten Sängern finde ich die Sopranistin Miriam Feuersinger, die mit klarer, fokussierter und wendiger Stimme den ersten Chor anführt, und den Bassisten Markus Flaig. Eine tolle Produktion, an der man sich kaum satthören kann. Außerdem auf der CD: instrumentale Sonaten von Muffats Zeitgenossen – von seinem Kollegen und Konkurrenten Heinrich Ignaz Franz Biber, von Johann Heinrich Schmelzer und Antonio Bertali. Die CD ist beim Label audite erschienen, und wie gesagt, auf der Homepage von audite kann man sich auch eine Version im Mehrkanalton runterladen. Von Muffats Wirkungsort Salzburg aus ist es nur ein kleiner Zeitsprung zu Wolfgang Amadeus Mozart. Das französische Quatuor Van Kuijk hat ganz frisch drei Quartette von Mozart veröffentlicht: zwei späte und ein frühes Divertimento (noch aus der Salzburger Zeit). Es gibt ja unglaublich viele gute junge Streichquartette zurzeit, und sie bringen viel frischen Wind in die Kammermusik-Szene. Das Quatuor van Kuijk ist eines davon und sicher eines der besten. Das haben die Kollegen von der BBC sofort bemerkt und das Quartett in ihr Luxus-Förderprogramm „BBC New Generation artists“ aufgenommen. Die Mozart-CD des jungen Quartetts ist beim französischen Label ALPHA herausgekommen, als Co-Produktion mit der BBC. Wir hören den langsamen Satz – Andante con moto – aus Mozarts Es-Dur-Quartett KV 428. Wenn man das Quatuor van Kuijk hier hört, dann kann man kaum glauben, dass die vier erst seit vier Jahren zusammenspielen. Die Königsdisziplin der Kammermusik entlarvt ja sofort jede Schwäche, und Mozarts Musik sowieso. Die van Kuijks spielen sie mit viel Gespür für die feinen klanglichen Nuancen dieser Musik, für die Spannungsbögen, die Zerbrechlichkeit und die emotionale Tiefe. 6 Wolfgang Amadeus Mozart: Streichquartett Es-Dur KV 428, 2. Satz 6:10 Das Andante con moto aus Mozarts Streichquartett Es-Dur KV 428, gespielt vom Quatuor van Kuijk. Die vier jungen Musiker stammen aus Frankreich und haben ihr Quartett nach dem ersten Geiger benannt: Nicolas van Kuijk. Sie haben sich erst 2012 zum Streichquartett zusammengeschlossen und gleich ein Jahr später beim Internationalen KammermusikWettbewerb in Trondheim in Norwegen den ersten Preis abgeräumt. Letztes Jahr haben sie mehrere erste Preise gewonnen, darunter im Streichquartett-Wettbewerb der Londoner Wigmore Hall; und das war sicher die Initialzündung für die BBC, dieses Ensemble besonders zu fördern. Im September treten die vier an beim Internationalen Musikwettbewerb der ARD in München, mal sehen, wie sie da abschneiden. Aber wenn sie mit einer ähnlichen Energie und Leidenschaft spielen wie auf dieser CD, dann haben sie die allerbesten Chancen auf einen Preis. Die Aufnahme ist, wie gesagt, beim Label ALPHA erschienen. „Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht vom jedem“ – eine treffende Diagnose von Karl Valentin. Sie darf Musiker natürlich nicht davon abhalten, Standardwerke des Repertoires immer wieder aufzuführen und künstlerisch zu erforschen. Die Balance muss halt stimmen – zwischen neuen und selten aufgeführten Stücken und den Publikumslieblingen. Die Sinfonien von Sergej Prokofjew liegen irgendwo dazwischen. Sie sind alle schon mehrfach aufgenommen, aber nicht tausendfach. Auf meinem CD-Stapel liegt jetzt ein Live-Mitschnitt der fünften Sinfonie von Prokofjew mit dem Concertgebouw Orchester Amsterdam, aufgenommen 2014; am Pult steht Mariss Jansons, der damals noch Chefdirigent des Orchesters war. Die Aufnahme steht auf der Longlist des Preises der deutschen Schallplattenkritik. Eine unabhängige Jury von Fachleuten hört sich dafür durch das immer noch hohe Gebirge der CD-Neuerscheinungen und notiert auf dieser Liste alles, was sie herausragend findet. Das ist dann die engere Auswahl für die Bestenliste, die die Jury in einem zweiten Schritt zusammenstellt. Die Preisgekrönten CDs stellen wir ihnen regelmäßig vor, hier in SWR2 Treffpunkt Klassik. Die Longlist wurde am Dienstag veröffentlicht – ein guter Grund für mich, jetzt mit Ihnen in Prokofjews fünfte Sinfonie reinzuhören! Sie entstand 1944 während der Entscheidungsschlachten des Zweiten Weltkriegs und scheint Stolz, Hoffnung und Triumph in Musik zu übersetzen. Prokofjew selbst ließ sich auf konkrete Deutungen nicht ein, er schrieb: „Die fünfte Sinfonie besingt den freien, glücklichen Menschen, seine Kraft, seine Großherzigkeit und die Reinheit seines Geistes.“ Zum freien Menschen gehört natürlich auch ein freier Humor, und der ist bei Prokofjew oft bissig und auch doppelbödig. Im zweiten Satz der Sinfonie entfaltet sich ein beinahe karikaturistisches Frage- und Antwortspiel zwischen verschiedenen Gruppen des Orchesters. Fast maschinell wirken die Achteltöne, die unentwegt im Untergrund pochen. Das Thema der Klarinette erscheint dann in verschiedensten Variationen, immer wieder in anderer Gestalt, mit neuen Harmonien und Klangfärbungen. An der Aufnahme mit Mariss Jansons gefällt mit der Sinn für den doppelten Boden dieser Musik. Hinter der Heiterkeit jeder einzelnen Note steckt auch eine unsichtbare Falltür, hinter den Melodienfassaden lauern Abgründe. Die Musiker spielen hier, als seien sie immer auf der Hut und könnten jeden Moment blitzschnell einen Haken schlagen. Der Witz und Spott dieser Musik bleibt zurückhaltend, die Klangmasken und Glissando-Grimassen sind niemals überzeichnet. Und die Energie in diesem pulsierenden Satz gerät gerade deshalb so stark, weil hier immer ein klitzekleiner Bremsklotz Widerstand aufbaut. Diese subtilen Nuancen gelingen nur, wenn ein Dirigent mit allen musikalischen Wassern gewaschen ist. So wie Mariss Jansons. Und wenn ein Orchester aus lauter brillanten und risikofreudigen Musikern besteht. So wie das Concertgebouw Orchestra. 7 Sergej Prokofjew: Sinfonie Nr. 5 B-Dur op. 100, 2. Satz 8:55 Das Scherzo aus der fünften Sinfonie von Sergej Prokofjew. Mariss Jansons dirigierte das Concertgebouw Orchester Amsterdam – von Königin Beatrix im Jahr 1988 völlig zurecht mit dem Prädikat „Königliches“ ausgezeichnet; seitdem nennt sich das Orchester Royal Concertgebouw Orchestra. Die SACD ist recht kurz geraten: 43 Minuten; sie enthält ausschließlich Prokofjews Fünfte und ist live aufgenommen im Amsterdamer Concertgebouw. Erschienen ist sie beim eigenen Label des Orchesters: RCO live, und sie steht auf der neuen Longlist des Preises der deutschen Schallplattenkritik. „Die Kunst ist … keine hübsche Zuwaage – sie ist die Nabelschnur, die uns mit dem Göttlichen verbindet, sie garantiert unser Mensch-Sein“ – das hat der Dirigent Nikolaus Harnoncourt gesagt. Im März ist er im Alter von 86 Jahren gestorben. Eines der letzten Konzerte, die er dirigierte, war Beethovens „Missa solemnis“, letzten Sommer beim Festival Styriarte in Graz. Der Österreichische Rundfunk hat die Proben und Konzerte mitgeschnitten – jetzt ist die Aufnahme auf CD veröffentlicht. Harnoncourt war ein absoluter Ausnahmemusiker: immer mutig und neugierig, immer auf der Suche nach der Intensität des Lebens in der Musik; kompromisslos, wenn er einen eingeschlagenen Weg für richtig hielt. Er misstraute den eingeschliffenen Gewohnheiten und vor allem dem Glanz und Glamour des Marktes und vertraute dagegen dem Notentext, den Quellen und seiner Intuition. Er war ein wirklicher Pionier der Historischen Aufführungspraxis, studierte und probierte mit Leidenschaft und unermüdlicher Experimentierlust alte Instrumente und ihre Spielweisen. Einige seiner Aufnahmen mit seinem Ensemble Concentus Musicus Wien gehören für mich zum Aufregendsten und Inspirierendsten, das ich kenne. Diese letzte Aufnahme von Beethovens „Missa solemnis“ höre ich mit gemischten Gefühlen. Harnoncourts Lieblingsensembles sind beteiligt: der Concentus Musicus Wien und der Arnold Schönberg Chor. Während das Orchester in Bestform ist, hat der Chor Mühe, die Soprane sind mit der extremen Höhe oft überfordert, in den Männerstimmen höre ich zu viel Kraft und zu wenig Klang, und insgesamt ist mir das nicht präzise genug in der Intonation, in der Balance und auch in den Einsätzen, die häufig einen winzigen Tick zu spät kommen. Und auch das Solistenensemble überzeugt mich nicht restlos, vor allem der Tenor kämpft oft mit der Höhe und den langen Bögen dieser Musik. Es gibt Aufnahmen, in denen das alles brillanter ist, präziser und ausgewogener – zum Beispiel die von John Eliot Gardiner. Trotzdem findet man in Harnoncourts Interpretation eine ganz große Qualität: Jeder Takt ist hier intensiv musiziert, die Suche nach der göttlichen Nabelschnur ist nicht nur dringend, sondern existenziell. Im Gloria und Credo entlädt sich eine feurige Energie, im Kyrie hört man eine geheimnisvolle Gelassenheit mit unglaublicher Spannung und Dichte. Wir hören gleich rein in den letzten Satz der „Missa solemnis“, das Agnus Dei, und zwar in die zweite Hälfte daraus: das Dona nobis pacem: Gib uns Frieden. Und ich möchte Nikolaus Harnoncourt zitieren, der im Booklet seine Beobachtungen zu diesem Satz schildert: Das Dona nobis pacem wird in den meisten Messkompositionen so interpretiert, als gäbe es schon Frieden. Es heißt aber, dass nicht Friede herrscht, sondern Katastrophe! Beethoven sagt nicht „Danke“, sondern „Gib!“. Das ist in der „Missa solemnis“ besonders aufregend. Für mich beinhaltet es die Frage: Kann es überhaupt Frieden geben? Und ich sehe das psychologisch. Sicher, die Napoleonischen Kriege sitzen den Menschen dieser Zeit noch in allen Knochen, und da sieht man in der Musik vielleicht auch eine brennende Stadt. Aber das Schlachtengemälde (in diesem Agnus Dei) schildert viel mehr den Konflikt im Innern des Menschen. Es ist eine Bitte um „den innern und äußern Frieden“, wie Beethoven selbst 8 schreibt. Und es kommt mir viel plausibler vor, dass der innere Konflikt das eigentliche Drama ist. Das Innere ist wichtiger als das Äußere. Das ist doch für jeden einzelnen Menschen so!“ Ludwig van Beethoven: „Missa solemnis“ op. 123, Agnus Die (Ausschnitt) 7:30 Gib uns Frieden! Das Dona nobis pacem aus der „Missa solemnis“ von Ludwig van Beethoven. Nikolaus Harnoncourt dirigierte den Arnold Schönberg Chor und den Concentus Musicus Wien (in dem hier übrigens seine Frau vorne in der ersten Geige mitspielte). Die Solisten waren Laura Aikin (Sopran), Bernarda Fink (Alt), Johannes Chum (Tenor) und Ruben Drole (Bass). Die Aufnahme ist ein Zusammenschnitt aus Konzerten und Proben, die Harnoncourt letztes Jahr beim Festival styriarte in Graz dirigierte. Sie ist beim Label SONY erschienen. Es ist Harnoncourts letzte CD-Veröffentlichung, ein paar Monate später hat er sich aus dem Konzertleben verabschiedet. Und natürlich muss damit diese Sendung enden. Sieben Tage steht sie zum Nachhören im Netz: unter swr2.de. Dort finden Sie von allen vorgestellten CDs auch die Titel und Bestellnummern. – Hier geht es weiter mit Neuigkeiten vom SWR2 Kulturservice, anschließend die Nachrichten. Einen guten und friedvollen Freitag wünscht Ihnen Doris Blaich.
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