Grundsatzurteil des Bundesgerichts zur Erheblichkeit

Grundsatzurteil des Bundesgerichts zur Erheblichkeit von Wettbewerbsbeschränkungen
Bulletin 29. Juni 2016
1|3
Grundsatzurteil des Bundesgerichts zur Erheblichkeit
von Wettbewerbsbeschränkungen
Das Schweizerische Bundesgericht bejaht die grundsätzliche per se-Erheblichkeit von Preis-, Mengen- und
Gebietsabreden sowie deren direkte Sanktionierbarkeit
Am 28. Juni 2016 hat das Schweizerische Bundesgericht nach öffentlicher Beratung im Verfahren
2C_180/2014 die Beschwerde der ColgatePalmolive Europe Sàrl (ehemals Gaba International AG) im Zusammenhang mit einer von der
Wettbewerbskommission (WEKO) verhängten
Sanktion über CHF 4.8 Mio. abgewiesen. Ein mit
einer Lizenznehmerin vereinbartes Passivverkaufsverbot stelle eine den Wettbewerb erheblich
beeinträchtigende Wettbewerbsabrede dar, die
direkt sanktionierbar sei.
Die Gaba International AG hatte 1982 mittels eines
Lizenzvertrags die Herstellung und den Vertrieb
von Elmex-Zahnpasta in Österreich der Gebro
Pharma GmbH übertragen. Die WEKO war der
Auffassung, dass dieser Lizenzvertrag bis 2006
eine Gebietsabrede enthalten habe, die der Gebro
Pharma GmbH direkte und indirekte Exporte aus
Österreich in andere Länder verbot. Dies sei als
ein Parallelimporte von Elmex-Zahnpasta aus Österreich in die Schweiz verhinderndes Passivverkaufsverbot gemäss Art. 5 Abs. 4 KG zu qualifizie-
ren. Sie fällte 2009 eine Sanktion über CHF 4.8
Mio. aus, die das Bundesverwaltungsgericht 2013
bestätigte.
In einem lange erwarteten Leiturteil hat das Bundesgericht nun eine per se-Erheblichkeit von
Preis-, Mengen- und Gebietsabreden gemäss
Art. 5 Abs. 3 und 4 KG über einer bestimmten,
nicht definierten Bagatellschwelle eingeführt. Dies
bedeutet einen Paradigmenwechsel. Zukünftig ist
(oberhalb der Bagatellschwelle) jede Abrede dieser Art unzulässig, sofern den Unternehmen der
Nachweis wirtschaftlicher Effizienz nicht gelingt.
Das Bundesgericht hat solche Abreden weiter für
direkt sanktionierbar erklärt.
Grundsätzliche Erheblichkeit von Abreden gemäss Art. 5 Abs. 3 und 4 KG
Das Bundesgericht hielt zur ersten Grundsatzfrage
fest, dass Preis-, Mengen- und Gebietsabreden
gemäss Art. 5 Abs. 3 und 4 KG, bei denen die
Vermutung der Beseitigung wirksamen Wettbe-
Grundsatzurteil des Bundesgerichts zur Erheblichkeit von Wettbewerbsbeschränkungen
Bulletin 29. Juni 2016
werbs widerlegt werden kann, grundsätzlich als
erheblich gemäss Art. 5 Abs. 1 KG gelten. Jene
Abreden würden allein aufgrund ihrer Art bzw.
Qualität und ungeachtet ihrer tatsächlichen Auswirkungen auf dem relevanten Markt den Wettbewerb erheblich beeinträchtigende Abreden darstellen. Quantitative Elemente wie etwa Marktanteile
spielten in solchen Fällen keine Rolle bzw. sie
seien nur als Aufgreifkriterium zur Ausscheidung
von Bagatellfällen zu berücksichtigen, mit denen
sich die WEKO weiterhin nicht befassen solle. Das
Bundesgericht verzichtete indes auf eine nähere
Definition dieser Bagatellfälle. Sie seien nicht anhand starrer Marktanteilsprozentwerte zu bestimmen, sondern jeweils gestützt auf eine Beurteilung
im Einzelfall.
Die Mehrheit der Bundesrichter sah dieses Auslegungsergebnis infolge des bundesgerichtlichen
Methodenpluralismus' der Gesetzesauslegung als
erstellt an. Der Wortlaut verlange nämlich nicht
eine schwere oder gewichtige, sondern lediglich
eine erhebliche Beeinträchtigung des Wettbewerbs, weshalb diese Schwelle tief anzusetzen
sei. Namentlich die Gesetzesmaterialien sowie die
ratio legis des Institutions- und Individualschutzes
sprächen für eine blosse Hinzuziehung des Erheblichkeitskriteriums zur Ausscheidung von Bagatellfällen unter anderem zur Verwaltungsvereinfachung. Der Gesetzgeber habe Abreden gemäss
Art. 5 Abs. 3 und 4 KG als besonders schädlich
gewichten wollen, weshalb sie a maiore ad minus
grundsätzlich – unabhängig von quantitativen Kriterien – als erheblich zu gelten hätten. Dies stehe
auch im Einklang mit der Regelung in der Europäischen Union und schaffe daher zusätzliche
Rechtssicherheit.
Demgegenüber machten die Bundesrichter in der
Minderheit geltend, dass die WEKO jeweils qualitative und quantitative Kriterien prüfe und dass die
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
in dieser Frage jüngst äusserst widersprüchlich
ausgefallen sei. Auch habe das Bundesgericht im
2|3
1
Fall Buchpreisbindung ausdrücklich die Prüfung
beider Elemente anerkannt. Es komme nach Verfassung und Gesetz nämlich nicht auf eine blosse
Absicht oder den Zweck einer Vereinbarung oder
Verhaltensweise an, sondern vor allem auf dessen
Wirkung. Eine Wettbewerbsabrede bei einem geringen Marktanteil sei infolge ihrer Marginalität für
das Funktionieren des Wettbewerbs schlicht irrelevant. Insgesamt sei das Auslegungsergebnis der
Mehrheit auch aufgrund der von der Verfassung
verlangten schädlichen Auswirkungen nicht richtig.
Direkte Sanktionierbarkeit von erheblichen
Abreden gemäss Art. 5 Abs. 3 und 4 KG
In einer weiteren, zweiten Grundsatzfrage kam das
Bundesgericht zum Schluss, dass Preis-, Mengenund Gebietsabreden gemäss Art. 5 Abs. 3 und 4
KG, bei denen die Vermutung der Beseitigung
wirksamen Wettbewerbs widerlegt werden kann
und die somit grundsätzlich per se als erheblich
i.S.v. Art. 5 Abs. 1 KG gelten, gemäss Art. 49a KG
direkt sanktionierbar seien. In dieser Hinsicht sei
2
die Botschaft klar und lasse für eine gegenteilige
Argumentation keinen Raum. Vom Anwendungsbereich der direkten Sanktionen ausgenommen
seien demnach lediglich nach Art. 5 Abs. 1 KG
unzulässige Verhaltensweisen, die keine Preis-,
Mengen- oder Gebietsabreden zum Gegenstand
hätten. Mithin verlange Art. 49a KG für die Sanktionierbarkeit gerade nicht den Wettbewerb beseitigende Abreden, sondern vielmehr Preis-, Mengenund Gebietsabreden gemäss Art. 5 Abs. 3 und
4 KG, die sich nicht aus Gründen der wirtschaftlichen Effizienz rechtfertigen liessen. Das Bestimmtheitsgebot stehe diesem Ergebnis nicht
entgegen, da kein neuer Straftatbestand geschaffen werde. Allerdings sei dem Umstand der (bloss)
erheblichen Beeinträchtigung des Wettbewerbs
und der nicht eingetretenen Beseitigung desselben
immerhin bei der Sanktionsbemessung Rechnung
zu tragen.
1
2
BGE 129 II 18 E. 5.2.2 S. 25.
Botschaft über die Änderung des Kartellgesetzes vom 7. November
2001, S. 2037.
Grundsatzurteil des Bundesgerichts zur Erheblichkeit von Wettbewerbsbeschränkungen
Bulletin 29. Juni 2016
Schlussfolgerungen
3|3
Falls Sie Fragen zu diesem Bulletin haben, wenden Sie
sich bitte an Ihre Homburger Kontaktperson oder an:
Die neue Rechtsprechung des Bundesgerichts
bestätigt die weit gehende Anwendung des Kartellgesetzes durch die WEKO und lässt für eine
Prüfung von quantitativen Kriterien im Zusammenhang mit Preis-, Mengen- und Gebietsabreden
gemäss Art. 5 Abs. 3 und 4 KG, bei denen die
Vermutung der Beseitigung wirksamen Wettbewerbs widerlegt werden kann, praktisch keinen
Raum. Solche Abreden gelten von Vornherein
wegen ihrer Qualität als grundsätzlich erheblich
i.S.v. Art. 5 Abs. 1 KG. Dieser Qualifikation entgehen können nur noch ausgesprochene Bagatellfälle, bei denen der fragliche Marktanteil einzelfallabhängig im tiefen einstelligen Prozentbereich liegen
dürfte.
Folglich werden sich künftig Unternehmen vermehrt der Schwierigkeit ausgesetzt sehen, beanstandete Preis-, Mengen- und Gebietsabreden
gemäss Art. 5 Abs. 3 und 4 KG, bei denen die
Vermutung der Beseitigung wirksamen Wettbewerbs widerlegt werden kann, durch Gründe der
wirtschaftlichen Effizienz positiv rechtfertigen zu
müssen. Dies kommt im Ergebnis einer Beweislastumkehr zu Ungunsten der betroffenen Unternehmen gleich.
Marcel Dietrich
Dr. iur., LL.M., Rechtsanwalt
[email protected]
T +41 43 222 10 00
Martin Thomann
lic. iur., LL.M., Rechtsanwalt
[email protected]
T +41 43 222 15 52
Stefan A. Bindschedler
MLaw, LL.M.
[email protected]
T +41 43 222 15 27
Homburger AG
Prime Tower
Hardstrasse 201 | CH-8005 Zürich
Postfach 314 | CH-8037 Zürich
T +41 43 222 10 00
F +41 43 222 15 00
www.homburger.ch
Rechtlicher Hinweis
Dieses Homburger Bulletin gibt allgemeine Ansichten der Autoren
zum Zeitpunkt dieses Bulletins wieder, ohne dabei konkrete Fakten
oder Umstände einer bestimmten Person oder Transaktion zu
berücksichtigen. Es stellt keine Rechtsberatung dar. Das Bulletin
darf von niemandem als Grundlage verwendet werden, gleichgültig
für welchen Zweck. Jede Haftung für die Genauigkeit, Richtigkeit
oder Angemessenheit der Inhalte dieses Homburger Bulletins ist
ausdrücklich ausgeschlossen.