Hundert Jahre Rückstand

MANSI THAPLIYAL / REUTERS
Dorfbewohner bei der Registrierung für eine Datenkarte im Bundesstaat Rajasthan: Verarmte Regionen aus dem Mittelalter in die Moderne katapultieren
Hundert Jahre Rückstand
Digitalisierung Indien will seine Milliardenbevölkerung mit biometrisch lesbaren Ausweisen
ausstatten. Was die einen als Fortschritt bejubeln, halten andere für riskant.
is der indische Staat den dreijährigen Sai Krishna digital erfasst hat,
dauert es gerade mal fünf Minuten.
Ein Angestellter tippt die Daten des kleinen Jungen – Name, Geschlecht, Geburtsdatum und Adresse – in den Computer.
Dann macht er noch ein Foto von Sai,
das sofort auf dem Bildschirm erscheint.
Und fertig.
Wäre Sai ein paar Jahre älter, müsste er
auch seine Fingerabdrücke und die Iris
scannen lassen. Aber der Kleine wächst
noch, seine biometrischen Daten verändern sich ständig. Deshalb reicht es, dass
stattdessen seine Mutter ihren bereits registrierten Fingerabdruck scannen lässt.
In wenigen Tagen soll Sai dann seinen
Ausweis mit einer zwölfstelligen persönlichen Nummer per Post erhalten. Aadhaar,
zu Deutsch: „Basis“, heißt dieses Dokument. „Ohne Aadhaar würde Sai für unsere Regierung praktisch nicht existieren“,
sagt dessen Großvater, der mit der Familie
zur Registrierung in Visakhapatnam, der
größten Stadt im Bundesstaat Andhra Pradesh, gekommen ist. Stolz zeigt der Greis
seine eigene Aadhaar-Karte.
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DER SPIEGEL 23 / 2016
Egal ob sie Schulgeld, Sozialhilfe, Lebensmittelrationen oder Renten beantragen – bei fast jedem Kontakt mit der Obrigkeit müssen die Inder inzwischen ihre
Personalnummer nennen und häufig auch
Fingerabdruck oder Iris scannen lassen.
Die Daten werden automatisch mit der
Zentraldatei in Delhi abgeglichen. Über
eine Milliarde Inder sind dort bereits registriert, es ist die größte biometrische Datensammlung, die ein Staat je von seinen
Bürgern angelegt hat. Vor sieben Jahren
hat die indische Regierung das Projekt angeschoben, inzwischen fehlen nur noch
250 Millionen Inder, die bislang nicht biometrisch erfasst sind.
„Digital India“ lautet die Parole, mit der
Premierminister Narendra Modi Indiens
verarmte ländliche Regionen aus dem Mittelalter in die Moderne katapultieren will:
Im März paukte er ein Gesetz durch das
Parlament, das die Aadhaar-Daten zur
Grundlage für die Kommunikation zwischen Staat und Bürgern macht.
Mit der kompletten digitalen Erfassung
seiner Landsleute hofft Modi, die Korruption einzudämmen, die Indiens Sozial-
systeme beherrscht. Hilfreiche Argumente
liefert die Weltbank: Deren Experten
schätzen, der indische Staat könne durch
Aadhaar jährlich rund eine Milliarde USDollar, etwa an fehlgeleiteten Subventionen, einsparen.
Modi will aber auch die verarmte Hälfte
seiner Riesennation stärker am Wirtschaftsleben beteiligen – als Sparer und
langfristig auch als Verbraucher. Deshalb
stattet die Regierung Besitzer von AadhaarKarten mit gebührenfreien Bankkonten
aus. Mehr als 200 Millionen Inder haben
bereits ein Konto, das mit der AadhaarNummer verknüpft ist. Verlangten die Banken früher eine Mindesteinlage und schlossen damit die Ärmsten quasi komplett aus
dem Wirtschaftsleben aus, reicht jetzt die
Aadhaar-Nummer.
Doch während die Befürworter das System dafür bejubeln, dass man mit seiner Hilfe viele Millionen Inder in den Wohlstand
katapultieren könne, stößt es bei anderen
auf Skepsis. „Indien steuert auf ein Desaster
zu“, warnt Sunil Abraham, der Chef des
privaten Zentrums für Internet und Gesellschaft. Er kritisiert, dass sich die Planer für
Wirtschaft
eine Technologie entschieden hätten, die
am Ende niemand kontrollieren könne. Die
Daten würden in einer „Blackbox“ verschwinden, wer Zugriff habe, sei unklar.
Statt biometrische Daten zentral zu speichern, solle der Staat Personalausweise in
Form von Smartkarten verteilen lassen.
„Dann könnte jeder selbst entscheiden,
welche der auf den Karten gespeicherten
Daten er zur Verfügung stellt“, sagt Abraham.
Auch der mögliche Datenmissbrauch
durch private Unternehmen bereitet den
Kritikern Sorge. Nicht zufällig, so meinen
viele, gehe das Aadhaar-Projekt auf eine
Initiative von Nandan Nilekani zurück,
dem ehemaligen Boss des indischen ITRiesen Infosys. Er leitete als GründungsChairman jahrelang die zuständige Aadhaar-Behörde in Delhi.
Tatsächlich tüfteln Softwarehäuser und
Finanzinstitute bereits an neuen Geschäftsmodellen auf der Basis von Aadhaar. Die
Liste der Dienstleistungen, die angedacht
sind, reicht von sekundenschnellen Bonitätsprüfungen für Empfänger von Mikrokrediten bis hin zum Bestellen und Bezahlen von Taxis mittels Smartphone und
Aadhaar-Nummer. Eines Tages könnte
Aadhaar gar den Gebrauch von Bargeld
überflüssig machen: Im April kündigte die
Zentralbank die Einführung eines einheitlichen Bezahlsystems auf Basis der digitalen Kennnummer an.
Gowri Naidu ist die Debatte um das Für
und Wider von Aadhaar ziemlich egal. Für
den 26-, 27- oder 28-Jährigen – genau weiß
er sein Alter nicht – zählt nur der tägliche
Überlebenskampf in Gorlepalem, einem
Dorf in Andhra Pradesh.
Dank des digitalen Fingerabdrucks
kommt er bequemer und sicherer an staatliche Sozialleistungen. „Früher mussten
wir oft erst mit Mittelsmännern verhandeln“, erzählt Naidu. Das waren mal Beamte, mal Dorfälteste, die sich gern ihren
Anteil an den staatlichen Zuwendungen
abzweigten. Umgekehrt kam es vor, dass
sich Einwohner unter fremdem Namen für
Sozialleistungen registrieren ließen und so
mehrfach kassierten.
Ähnlich wie bei der Post funktioniert
es im Fair Price Shop, wo Naidu und seine
Familie sich mit staatlich subventionierten Lebensmitteln versorgen. Auch dort
braucht er sich nur noch den digitalen Fingerabdruck abnehmen zu lassen: Der Monitor zeigt, welche Lebensmittelmengen
Naidu tatsächlich zustehen.
Aadhaar beherrscht zunehmend den Alltag, selbst in den vielen Slums der indischen Städte. Zwar hausen die Bewohner
dort nach wie vor in Elendshütten und zugigen Zelten; ihre Notdurft müssen sie oft
neben Schutt und Abfällen im Freien verrichten. Doch fast alle besitzen ihre eigene
Aadhaar-Nummer.
Es gibt deshalb Menschen wie Satya
Prakash Tucker, den Verwaltungschef von
Andhra Pradesh, der Indien eine rosige
Zukunft verspricht. Er hofft, dass das Land
dank Hightech jene Stufen der Entwicklung überspringen kann, die westliche Gesellschaften erst im Zuge ihrer Industrialisierung hinter sich ließen.
Für Modernisierer wie Tucker gibt es
kaum einen Missstand, der sich nicht
durch eine digitalisierte Verwaltung beheben ließe: fehlende Klos, mangelnde
Hygiene, chaotische Grundstücksregister.
Selbst die Trägheit der Staatsdiener bekämpft er mit Aadhaar: Jedes Mal, wenn
Im Alltag stößt das
Indien der Zukunft noch
immer auf die
Hürden der Gegenwart.
die Beamten zur Arbeit kommen, müssen
sie sechs Ziffern ihrer Aadhaar-Nummer
in eine digitale Stechuhr tippen und den
Fingerabdruck einscannen. In vielen Schulen würden so auch Lehrer auf Pünktlichkeit getrimmt.
Sorgen um den Schutz der Privatsphäre
macht Tucker sich nicht, das sei für ihn
ein Luxus, den sich nur führende Industriegesellschaften leisten könnten: „Wir
müssen über hundert Jahre Rückstand aufholen.“
Im Alltag stößt das Indien der Zukunft
noch immer auf die Hürden der Gegenwart. Viele der rund 600 000 indischen Dörfer sind noch nicht oder nicht ausreichend
ans Internet angeschlossen. Dort müssen
sogenannte Business-Correspondents die
Personalnummern von Subventionsempfängern nach wie vor offline in AadhaarTerminals tippen und Fingerabdrücke
nehmen.
Selbst im Zentrum der digitalen Revolution geht es noch erstaunlich gemütlich zu.
In einem Büroturm in Delhi befindet sich
die Unique Identification Authority of India, die Kommandozentrale von Aadhaar.
Hier waltet Ajay Bhushan Pandey als Generaldirektor. „Die Daten der Bürger sind
bei uns vor Hackern sicher“, beteuert der
Herr der Milliardendatei. Nur wenn die
nationale Sicherheit bedroht sei, dürfe seine Behörde Informationen an die Sicherheitsbehörden weitergeben – und dann
auch nur unter strengen Auflagen.
Dann wird Pandey unterbrochen. Ein
Amtsdiener kommt herein und legt einen
Stoß Akten vor ihn auf den Schreibtisch.
Aus den Deckeln quellen Schriftstücke,
die der Chef gleich bearbeiten muss. Von
der papierlosen Verwaltung, die die Regierung propagiert, ist man also selbst hier,
im Herzen von „Digital India“, noch ein
Stück entfernt.
Wieland Wagner
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